Arm trotz Arbeit
Wer sich in den Kommentarspalten der sozialen Medien verirrt, der kann dort immer öfter polemische Sätze lesen wie "Arbeit lohnt sich nicht mehr!" oder "Dann kündige ich jetzt meinen Job, denn ‚die anderen‘ arbeiten nicht und kriegen auch noch alles vom Staat bezahlt!" Ja, es ist ein Problem, dass viele arbeitende Menschen wenig Geld zum Leben haben. Nur liegt das Problem nicht darin, dass Empfänger:innen von SGB-II-Leistungen zu viel Geld erhalten, sondern darin, dass erwerbstätige Menschen zum Teil so wenig Lohn bekommen, dass sie ihn durch SGB-II-Leistungen aufstocken müssen.
Darauf verweist der neue Arbeitslosenreport der Freien Wohlfahrtspflege Nordrhein-Westfalen (NRW). Die Zahlen zeigen, dass in NRW mehr als 22 Prozent der SGB-II-Leistungsempfänger:innen sogenannte Aufstocker:innen sind, die trotz Erwerbstätigkeit auf Grundsicherung angewiesen sind. Denn der wachsende Niedriglohnsektor und auch prekäre Arbeitsverhältnisse (das heißt: keine regulären Verträge, keine soziale Sicherung und kein ausreichender Arbeitsschutz) sorgen dafür, dass bei immer mehr Personen das Einkommen nicht zur Versorgung der Familie ausreicht. Dabei sprechen wir hier nicht nur von Erwerbstätigen, die einem Minijob nachgehen, sondern auch von fast elf Prozent (2021), die zusätzlich zu ihrem sozialversicherungspflichtigen Lohnentgelt noch Arbeitslosengeld II beantragen müssen. In NRW verdient jede:r zehnte sozialversicherungspflichtig in Vollzeit Beschäftigte maximal 2000 Euro brutto pro Monat. Und das bei steigenden Lebenshaltungs- und Mietkosten.
Die Arbeitsmarktpolitik der letzten Jahre hat Erwerbslose dazu gebracht, auch schlecht entlohnte und nicht qualifikationsgerechte Erwerbstätigkeiten anzunehmen. So hat das Beschäftigungswachstum nicht - wie angenommen - automatisch zur Verringerung von Armut geführt. Zwischen 2004 und 2014 hatte Deutschland im europäischen Vergleich den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut.
(Zu) viel Hoffnung steckt nun in Maßnahmen wie dem Arbeitsschutzkontrollgesetz (dessen Einhaltung dringend besserer Kontrollen bedarf), dem Anstieg des Mindestlohns und dem Bürgergeld-Gesetz, das einen stärken Fokus auf berufliche Qualifikation und Weiterbildung von Erwerbslosen setzt. Doch ist es nicht nur Aufgabe der Politik, hier anzupacken. Auch als Gesellschaft sind wir zum Umdenken aufgefordert: Die private Reinigungskraft oder der Friseurbesuch werden unvermeidlich teurer werden müssen, wenn wir den Beschäftigten eine Vergütung zugestehen wollen, die zu mehr als bloß zum (Über-)Leben ausreicht.