Zwischen Energiekrise und Inklusion
Das Feld der Kinder- und Jugendhilfe befindet sich im stärksten Wandel seit über dreißig Jahren. Während sich die fachpolitische Ebene mit den Änderungen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) und der Vorbereitung der inklusiven Lösung (spätestens für das Jahr 2028) befasst, sind die Einrichtungen und Dienste der Kinder- und Jugendhilfe von den Folgen der Coronapandemie gebeutelt und bekommen die Auswirkungen der aktuellen Energiekrise in Verbindung mit den exorbitanten Preissteigerungen zu spüren.
Eine weitere Herausforderung wird in den kommenden Jahren darin liegen, dass einerseits qualifizierte Fachkräfte immer schwerer zu finden sind, beispielsweise weil die Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter ausgeweitet wird. Der Arbeitsmarkt hat sich längst hin zu einem Arbeitnehmer:innenmarkt gedreht.1 Andererseits werden die steigenden Lohnkosten ein weiterer Faktor, der die Entgelte in der Kinder- und Jugendhilfe steigen lässt. Zu den regulären tariflichen Erhöhungen kommt durch die vereinbarten bis zu vier Ausgleichstagen eine Steigerung um circa 3,7 Prozent auf die Arbeitgeber:innen zu.2
Dem Fachkräftemangel und möglichen Strategien, wie dieser zumindest abzufedern ist, gehen die Autorinnen Catja Teicher und Sabine Voß nach (siehe S. 9 ff. in diesem Heft). Daher soll es in diesem Artikel darum gehen, inwiefern die aktuellen fachlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen die bisherigen Strukturen und Praktiken der Finanzierung vor allem stationärer Einrichtungen der Erziehungshilfen hinterfragen - sei es durch interne fachlich erkannte Notwendigkeiten oder durch externe Schocks.
Inklusion ist neuer Qualitätsmaßstab
Seit mehr als einem Jahr ist das KJSG nun in Kraft. Die Umsetzung sowie die Weiterentwicklung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe haben begonnen. Das "Ob" der Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für junge Menschen mit und ohne Behinderung unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe ist damit geklärt. Das "Wie" bleibt allerdings noch weitgehend im Dunkeln.2 In diesem "Wie" werden neben pädagogisch-fachlichen Themen auch Aufgaben zu bewältigen sein, die die Finanzierung von Leistungen, die Organisationsentwicklung der leistungserbringenden Unternehmen sowie die weiter steigenden Anforderungen an Mitarbeitende als Meilensteine auf dem Weg zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe markieren.
Der Umsetzungsprozess des KJSG lässt sich vor dem begonnenen Weg und dem Inklusionsparadigma der UN-Behindertenrechtskonvention kaum darauf reduzieren, separierende Leistungen unter dem Dach des SGB VIII fortzuführen. Inklusion ist ein Paradigma, das jungen Menschen in ihren vielfältigen Exklusionserfahrungen gleichberechtigte Teilhabe am Leben der Gesellschaft ermöglichen will. Damit wird Inklusion zukünftig in der Leistungserbringung für junge Menschen richtungsweisendes Prinzip sein. Sozialunternehmen, die sich ein qualitativ hochwertiges Portfolio erhalten möchten, kommen daher nicht daran vorbei, Inklusion zu implementieren. Kern dieser Leistungserbringung werden bedarfsgerechte, individuelle Leistungen sein, die den Willen der Adressat:innen in den Mittelpunkt stellen. Das wird sich auch in den Entgelten niederschlagen und die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe erhöhen.
Ukraine-Krieg, Preisschocks und Pandemie sind existenzgefährdend
Externe Schocks führen oftmals zu unkalkulierbaren Situationen, die für Unternehmen schnell existenzbedrohend werden können. Unter den Mitgliedseinrichtungen des Bundesverbandes Caritas Kinder- und Jugendhilfe (BVkE) zeigt sich deutlich, dass die durch Inflation um bis zu zehn Prozent gestiegenen Sachkosten nur bedingt und rudimentär in bereits laufende Verhandlungen eingepreist werden können. Bei bestehenden Entgeltverhandlungen ist die Lage für die Einrichtungen noch dramatischer, da sich Kostenträger mitunter auf die Kurzfristigkeit des Problems berufen und Nachverhandlungen gemäß § 38 d Abs. 3 SGB VIII ablehnen.
Steigen die Ausgaben jedoch exorbitant und werden nicht in die prospektiv verhandelten Entgelte mit eingerechnet, kann dies schnell zu einer wesentlichen und existenzgefährdenden Erhöhung der Sachkosten führen. Diese kann mittelfristig die Liquidität von Einrichtungen bedrohen. Im schlimmsten Fall kann dies weitreichende Folgen für die Gewährleistung der Daseinsvorsorge von jungen Menschen in Deutschland haben, weil Träger meist als Komplexdienstleister eine breite Angebotspalette der Kinder- und Jugendhilfe vorhalten.
Diese existenzielle Krise trifft Träger, die noch unter den Auswirkungen der Coronapandemie leiden; besonders die Mitarbeitenden hat die Pandemie an die Belastungsgrenze geführt. Sie erhalten nun zu Recht im Zuge der Tarifeinigung im Sozial- und Erziehungsdienst ein Mehr für ihre Arbeit und einen Ausgleich für die belastende und herausfordernde Tätigkeit.
Wettbewerbliche Elemente werden teilweise zurückgenommen
Die fachlich erkannten Notwendigkeiten sowie die aktuellen Krisen nehmen das gesamte politische System in die Verantwortung, die sich auftuenden sozialen Bruchstellen durch Investitionen der öffentlichen Hand zu schließen. Die nun notwendig werdende Logik des "deficit spending"3 läuft der bisherigen Praxis in der Kinder- und Jugendhilfe entgegen; fanden doch mit der Reform der Finanzierung (teil-)stationärer Hilfen der Kinder- und Jugendhilfe Ende der 1990er-Jahre wettbewerbliche Steuerungselemente in dieses Feld sozialstaatlicher Leistungen Eingang. Dabei betraf der Paradigmenwechsel weg vom vorherrschenden Selbstkostendeckungsprinzip hin zu einem prospektiv ausgerichteten Vertragsmodell nicht nur die Leistungsfinanzierung, sondern auch Fragen nach dem Erbringen, Steuern und Organisieren der Kinder- und Jugendhilfe. So öffnete sich deren Markt; die Auswirkungen prägen die fachliche Landschaft bis heute. Beispielsweise veränderte sich die Kooperationsweise von öffentlicher und freier Jugendhilfe, entwickelten sich neue Angebotsformen und bildeten sich neue Trägerstrukturen heraus.
Entgeltlandschaft ist sehr komplex
Nach heutigem Stand sind Leistungen und Elemente der Qualitätsvereinbarung derart definiert, dass sie mit den Kosten korreliert werden können. Je nach Personalaufwand, Zielgruppe und sozialpädagogischem Ansatz variieren sie und ziehen erhebliche Unterschiede in der Gestaltung der Finanzierungsstruktur der Angebote nach sich. Diese holzschnittartige Übersicht macht deutlich, dass weitreichende Veränderungen in einem Bereich der Trias von Leistung, Qualität und Entgelt auch auf die anderen gravierende Auswirkungen haben.
Variationen finden sich aber nicht nur begründet in den genannten Dimensionen, sondern erhalten durch die unterschiedliche Herangehensweise auf Länderebene weitere Spielarten und Differenzierung, was zu kaum überschaubaren lokalen Unterschiedlichkeiten führt. Positiv gewendet kann diese Komplexität in der Entgeltlandschaft dazu führen, dass der im SGB VIII geforderten Orientierung am Einzelfall und der individuellen Leistungserbringung Genüge getan werden kann.4
Spannung in dieser Form der Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen liegt in der Art der Berechnung der sogenannten Auslastungsquoten. Höhere Auslastungsquoten korrelieren nicht nur mit einem höheren ökonomischen Druck auf die Einrichtungen, sondern können auch fachlich dysfunktionale Konsequenzen haben, etwa wenn für Geschwisterkinder keine Möglichkeit der Unterbringung besteht.5 Damit stehen sie auch dem Ansinnen des KJSG entgegen und laufen der inklusiven Intention des Gesetzgebers zuwider, der beispielsweise ausdrücklich vorsieht, Geschwister aufzunehmen.
Perspektiven für die Zukunft
Sozialstaatliche Leistungen sind nicht nur der Ausdruck einer solidarischen Gesellschaft, sondern auch vor dem Hintergrund gesamtwirtschaftlicher Leistungsfähigkeit als Investitionen in die Zukunft zu sehen.6 Damit diese Sichtweise auf Leistungen der öffentlichen Hand nicht durch neoliberal-kapitalistische Leistungslogik pervertiert wird, ist es sinnvoll, sich am Inklusionsparadigma als individuelle Teilhabeermöglichung zu orientieren. Damit kann einem Optimierungs- und Perfektionsdruck auf die Ergebnisse von Jugendhilfe vorgebeugt werden und die Adressat:innen können mit ihren jeweiligen Potenzialen in den Mittelpunkt rücken.7
Die Entgelte für diese inklusive Angebotsgestaltung müssen leistungsgerecht sein: also einerseits entsprechend den Leistungs- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen ausgestaltet, aber auch für die Einrichtung auskömmlich sein. Das bedeutet, es sollte über die reine Leistungserbringung hinaus auch in dem Maße ein gewisser Zuschlag erfolgen, der es der Einrichtung ermöglicht, das unternehmerische Risiko zu tragen und entsprechende Rücklagen für Notsituationen wie aktuell zu schaffen. Ein Gewinn im betriebswirtschaftlichen Sinne sollte dabei allerdings nicht erzielt werden, da es sich um öffentliche Mittel und gemeinnützige Organisationen handelt (wenngleich diese Position in der Debatte umstritten ist, wie zum Beispiel Gerlach 2018 ausführt).8
Mehrere Stellschrauben sind entscheidend
Vor dem Hintergrund der skizzierten Herausforderungen und für die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe ist an mehreren Stellschrauben zu drehen:
◆ Das inklusive Paradigma muss in der Kinder- und Jugendhilfe Einzug halten und vor dem Hintergrund einer personenzentrierten und bedarfsgerechten Leistungserbringung den jungen Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dafür müssen hohe Auslastungsquoten abgesenkt werden, um Flexibilität und Bedarfsgerechtigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe zu gewährleisten.
◆ Eine retrospektive Verhandlung von Mehrkosten durch externe Schockereignisse und die Auslegung des § 78 d Abs. 3 SGB VIII müssen einfacher möglich sein, damit existenzgefährdende Situationen gerade für die Vielgestaltigkeit kleiner Träger vermieden werden und eine bedarfsgerechte, individuelle und inklusive Kinder- und Jugendhilfe auch in Zukunft möglich ist.
◆ Die Entlohnung von Mitarbeitenden in der Kinder- und Jugendhilfe muss leistungsgerecht sein und weiter an die steigenden Herausforderungen angepasst werden. Sie stehen in der Verantwortung, junge Menschen in die Zukunft zu begleiten und auf zukünftige Herausforderungen vorzubereiten.
Anmerkungen
1. Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA): Tarifeinigung im kommunalen Sozial- und Erziehungsdienst bringt deutliche finanzielle Aufwertung für die Beschäftigten. Kurzlink: https://bit.ly/3g8Zl08
2. Schönecker, L.: Inklusion. In: Meysen, T.; Lohse, K.; Schönecker, L.; Smessaert, A. (Hrsg.): Das neue Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Baden-Baden: Nomos, 2022, S. 71.
3. Bode, I.: Geld und Wirtschaftlichkeit im Sozialwesen. Trends, Dilemmata, Perspektiven. In: Kieslinger, D. (Hrsg.): Die Wirtschaftlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Leistung. Entgelt. Qualität. Freiburg: Lambertus, 2022 (im Erscheinen).
4. Schindler, G.: § 78 a-78 g. In: Münder J.; Meysen, T.; Trenczek, T. (Hrsg.): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe. 9. Auflage. Baden-Baden: Nomos, 2022, S. 984-1023.
5. Peucker, C.; Mairhofer, A.: Entgelte und Entgeltgestaltung in der Heimerziehung: Rahmenbedingungen und empirische Befunde. In: Kieslinger, D. (Hrsg.): Die Wirtschaftlichkeit der Kinder- und Jugendhilfe. Leistung. Entgelt. Qualität. Freiburg: Lambertus, 2022 (im Erscheinen).
6. Hemerijck, A.: The Quiet Paradigm Revolution of Social Investment. In: Social Politics (22) 2/2015, S. 242-256.
7. Vgl. Bode, I., a. a. O.
8. Gerlach, F.: Mit Kindern Kasse machen - die Ausweisung von Gewinnmargen in Entgeltkalkulationen der Jugendhilfe. In: Sozialrecht aktuell 22 (6)/2018, S. 213-252.
Literatur
Meysen, T.; Münder, J.; Schönecker, L.: Rahmensetzung der Länder bei Hilfen zur Erziehung. Gütersloh: Bertelsmann, 2020.
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