Fachkräfte in der Jugendhilfe dringend gesucht
Die Herausforderung, Fachkräfte zu finden, beschäftigt zunehmend alle Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Mittlerweile ist es kein Einzelfall mehr, dass Jugendhilfeeinrichtungen Gruppen zusammenlegen oder sogar schließen müssen. Grund ist, dass nicht mehr ausreichend Fachkräfte für die Arbeit vor Ort gewonnen werden können. Die vor wenigen Monaten noch formulierten Sorgen, Angebote und Betreuungsformen aufgrund fehlender Fachkräfte möglicherweise nicht mehr aufrechterhalten zu können, werden mehr und mehr Realität für die Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe. Was also können Einrichtungen tun, um sich zukunftsfähig aufzustellen?
Wer die Analysen und Forschungen zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland aufmerksam verfolgt hat, sollte nicht überrascht sein. Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer sowie der Generation X werden in den kommenden Jahren in Rente gehen. Bereits heute verlassen 38 Prozent der Mitarbeitenden ihr Unternehmen, um in Rente zu gehen.1 Rein zahlenmäßig betrachtet, werden dann weniger Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Wir stehen vor einer Zeitenwende am Arbeitsmarkt.
Auch wenn die Fakten schon lange bekannt waren, so schien vielen Arbeitgeber:innen in der Jugendhilfe der Fachkräftemangel weit entfernt und sie konnten sich nicht vorstellen, dass in absehbarer Zukunft das eigene Unternehmen Schwierigkeiten bei der Gewinnung neuer Mitarbeitender haben würde. Dass Gruppen von Schließung bedroht sind, wegen des Fachkräftemangels zusammengelegt oder nicht voll belegt werden können, ist inzwischen Realität. Das wiederum führt dazu, dass die bisherige Personal- und Finanzplanung der Einrichtungen so nicht mehr tragfähig ist.
Darüber hinaus hat der politisch gewollte Ausbau des Anspruchs auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung zu einem erhöhten Bedarf an Fachkräften in Kindertagesstätten geführt. Weiter verschärfen wird sich die Situation, wenn der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab dem Schuljahr 2026/27 in Kraft tritt und dort ebenfalls ein erhöhter Bedarf an pädagogischen Fachkräften entsteht.
Erwartungen von neuen Mitarbeitenden haben sich geändert
Betrachtet man die Erfahrungen der Träger der Jugendhilfe mit pädagogischen Fachkräften, so ähneln sich die Geschichten. Die Wahrnehmung, dass insbesondere junge Fachkräfte vielfältig andere Erwartungen und Wünsche haben als Personalverantwortliche, eint viele Arbeitgeber:innen. Work-Life-Balance, ein Wort, das so unschuldig daherkommt, treibt Trägern den Schweiß auf die Stirn. Junge (potenzielle) Mitarbeiter:innen positionieren sich heute anders. Der Wert der Freizeitgestaltung mit Familie und Freunden hat eine so hohe persönliche Relevanz, dass Gehaltseinbußen in Kauf genommen werden. Vollzeitverträge sind nicht mehr gefragt, insbesondere wenn Nacht- und Wochenenddienste geleistet werden müssen und Arbeitszeitmodelle als nicht attraktiv wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass die Arbeit in der Jugendhilfe kein leichter Job ist, da Kinder und Jugendliche mit zunehmend komplexen Förderbedarfen begleitet werden müssen.
Dazu dann noch die Pandemie
Erschwerend kommt hinzu, dass Mitarbeiter:innen, die in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, während der gesamten Zeit der Pandemie systemrelevante Arbeit geleistet haben, dies aber weder von der Politik noch von der Gesellschaft gesehen und wertgeschätzt wurde. Mitarbeitende in der Jugendhilfe waren tagtäglich im Einsatz. In den Zeiten des Lockdowns übernahmen sie neben ihrer Aufgabe als pädagogische Fachkraft oftmals auch die Aufgabe der Lernbegleitung für die jungen Menschen in der Gruppe sowie die Alltagsgestaltung unter Lockdown-Bedingungen. Vielen Kindern und Jugendlichen machte die Situation Angst, der Kontakt zu Angehörigen war gar nicht oder nur eingeschränkt (digital) möglich. Daneben hatten pädagogische Fachkräfte natürlich ihre eigenen Sorgen, Ängste und Befürchtungen.
Viele Einrichtungen der Jugendhilfe erleben zunehmend Kündigungen von Mitarbeiter:innen, die sich stark belastet fühlen. Den stetig wechselnden Anforderungen, erhöhten Ansprüchen sowie Rückschlägen oder auch Widrigkeiten standzuhalten ist eine große Herausforderung. Sie sehen ihre psychische Gesundheit in Gefahr und machen sich auf den Weg der beruflichen Veränderung.
Uneinheitliche Ausbildungswege
Da die Bildungspolitik nach dem Grundgesetz in den Kompetenzbereich der Bundesländer fällt, unterscheiden sich Schulsysteme und Ausbildungswege in Deutschland mitunter sehr. Die Qualität einer (akademischen) Ausbildung und ob diese in einem anderen Bundesland anerkannt wird, kann von Land zu Land variieren.
Neue Ausbildungsangebote wie die Praxisintegrierte Ausbildung (PiA) und das duale Studium sind für junge Menschen in Ausbildung attraktive Angebote, die Arbeitgeber:innen in der Jugendhilfe vor neue Herausforderungen stellen, da die Ausbildung durch die Arbeitgeber:innen finanziert und eng begleitet werden muss. Das stellt eine unternehmerische Entscheidung der Träger dar, von der sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht wird beziehungsweise je nach wirtschaftlicher Situation Gebrauch gemacht werden kann.
Das Angebot akkreditierter Studiengänge und -inhalte ist so vielfältig und unübersichtlich, dass zum Beispiel der Landschaftsverband Rheinland (LVR) eine Studie bei der Universität Wuppertal in Auftrag gab, mit dem Ziel, festzustellen, welche Studiengänge anerkannt werden können. Bei der Ausbildung von Erzieher:innen herrscht zudem das Berufsbild von der Arbeit in Kindertagesstätten vor - das Bild von einem Frauenberuf, der schlecht bezahlt ist und wenig Karrieremöglichkeiten bietet.2 Das gesamte Spektrum des Arbeitsfeldes Kinder- und Jugendhilfe ist leider nur wenigen bekannt. Diese gesellschaftlichen Bilder zurechtzurücken und die Jugendhilfe als ein für Männer und Frauen interessantes, gut bezahltes und zukunftssicheres Arbeitsfeld zu präsentieren, ist politisch von großer Bedeutung.
Jugendhilfe hat keine Lobby
Während der Fachkräftebedarf in den politischen Debatten um das Recht auf einen Platz in der Kindertagesbetreuung und eine Betreuung von Grundschulkindern im Offenen Ganztag großen Raum einnimmt, bleibt die ambulante, teil- und vollstationäre Jugendhilfe unerwähnt. Dies zeigte sich auch in der Auflistung der systemrelevanten Berufe in der Coronapandemie.
Eine Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland erscheint nicht möglich. Dem steht einerseits das Fachkräftegebot entgegen. Andererseits gelingt die notwendige Begleitung von Kindern und Jugendlichen aufgrund der Komplexität der Förderbedarfe und des Arbeitsfeldes nur, wenn die sprachlichen Voraussetzungen gegeben sind.
Mitarbeitende binden
Die Träger von Jugendhilfeeinrichtungen stehen vor einem Dilemma: Aufgrund der Pandemie steigt der Bedarf an Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe. Gleichzeitig sinkt die Zahl der erwerbstätigen Fachkräfte. Diese wiederum haben die Qual der Wahl und können sich ihre:n Arbeitgeber:in aussuchen. Bewerbungsgespräche werden zu gegenseitigen Informationsgesprächen auf Augenhöhe. Dies erfordert ein Umdenken bei den Arbeitgebern. Gleichzeitig bekommt die Bindung von Mitarbeitenden - nicht nur wirtschaftlich gesehen - eine existenzielle Bedeutung. Sich damit intensiv zu beschäftigen und für die eigenen Mitarbeitenden entsprechende Angebote zu entwickeln, rechnet sich also.
Dies belegt auch die Forschungsarbeit zu Mitarbeitendenbindung von Linda Averbeck3. Sie deuten darauf hin, dass das subjektiv emotionale Erleben von Zusammengehörigkeit (affektive Bindung) auch in der Kinder- und Jugendhilfe die am stärksten ausgeprägte Commitment-Dimension und somit grundlegend für eine langfristige Bindung an ein Unternehmen ist. Eine affektive Bindung ist gekennzeichnet durch geteilte Norm- und Wertevorstellungen, Gefühle von Zugehörigkeit und Wertschätzung, Zusammengehörigkeit mit den Kolleg:innen sowie Spaß an der Arbeit. Um Fachkräfte zu gewinnen und langfristig binden zu können, ist es demnach unabdingbar, den Fokus auf Maßnahmen zum Aufbau einer affektiven Bindung zu legen. Welche Rahmenbedingungen für Mitarbeitende bindungsfördernd wirken, können regional sehr unterschiedlich sein und müssen gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitenden erarbeitet werden. Aufgrund aktuell steigender Lebenshaltungskosten spielt zudem die Frage nach der Entlohnung zunehmend eine Rolle.
Kreative Ideen für junge Menschen
Der Konkurrenzkampf um Fachkräfte hat bereits begonnen. Arbeitgeber:innen können bei ihren Mitarbeiter:innen und potenziellen Fachkräften punkten, wenn sie es schaffen, eine gute affektive Bindung aufzubauen. Gleichzeitig bedarf es vielfältiger Anstrengungen und kreativer Ideen, junge Menschen möglichst früh, zum Beispiel durch Projekte mit allgemeinbildenden Schulen, durch ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), die Zusammenarbeit mit Fach(hoch-)schulen an die vielfältigen Aufgabengebiete der Kinder- und Jugendhilfe und möglichst an das eigene Unternehmen heranzuführen.
Gleichzeitig sollten Zukunftsstrategien erarbeitet werden, wie Einrichtungen aufgestellt sein müssen, um mit weniger Fachkräften wirtschaftlich tragfähige Angebote entwickeln zu können.
Anmerkungen
1. Kurzlink: https://bit.ly/3CuJ6BI
2. Kurzlink: https://bit.ly/3yyq0ty
3. Averbeck, L.: Herausgeforderte Fachlichkeit. Arbeitsverhältnisse und Beschäftigungsbedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe, Weinheim/Basel: Beltz-Juventa, 2019.
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