Messen, wie Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen wirken
Ein wenig bekannter Sonderfall der Kinder- und Jugendhilfe sind Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen (MVKE). Sie richten sich an zwei Generationen. Eltern und Kinder wohnen dort gemeinsam für einige Monate oder sogar Jahre. Kaum ein Bereich der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt sich aktuell so rasant wie diese Einrichtungen. Das Platzangebot aller MVKE bundesweit hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht von 185 Einrichtungen mit 1880 Plätzen im Jahr 2006 auf 543 Einrichtungen mit 6594 Plätzen im Jahr 2020.1 Entsprechend hat sich auch die Zahl der Mitarbeiter:innen erhöht. 2018 gab es 4800 Mitarbeitende, davon 80 Prozent mit pädagogischer Qualifikation.2 2020 waren es bereits 5696 Mitarbeitende, überwiegend Frauen.3 Mehr als 80 Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen, die zum Teil aus mehreren Häusern bestehen, befinden sich bundesweit in katholischer Trägerschaft. Diese Einrichtungen haben 2022 insgesamt 3126 Elternteile und ihre Kinder aufgenommen. Darunter 153 Väter mit Kindern und in 72 Fällen zwei Elternteile mit Kindern.4
Seit der Einführung des § 19 SGB VIII zu Beginn der 1990er-Jahre⁵ haben sich die gemeinsamen Wohnformen für Mütter/Väter und Kinder stark verändert und ausdifferenziert. Ursprünglich wurden vor allem sehr junge, oftmals minderjährige Mütter mit Säuglingen und Kleinkindern auf dem Weg in das Erwachsenenleben als Mutter begleitet und erhielten die Chance, in die Schule zu gehen oder eine Ausbildung zu machen.
Heute sind nur noch 17 Prozent der Mütter beziehungsweise Väter Jugendliche unter 18 Jahren, während gut 13 Prozent bereits über 30 Jahre alt sind. Das Durchschnittsalter der Eltern beträgt 23,1 Jahre.6 Gerade die älteren Mütter bringen hohe, vielfach mehrfache Belastungen durch psychische Erkrankungen mit. Ebenso steigt die Zahl der Anfragen für Eltern mit Lerneinschränkungen. Mittlerweile hat ein Drittel der Bewohner:innen einen Migrationshintergrund und jede:r zehnte Bewohner:in Fluchterfahrungen.7
Gestiegener Bedarf
Die Einrichtungsleitungen bestätigen, dass sie von Jugendämtern immer mehr Anfragen bekommen, bei denen es um Familien mit hochkomplexen Problemlagen und erhöhtem Hilfebedarf geht. Die gemeinsamen Wohnformen dienen in vielen Fällen heute auch als Clearing für richterliche Entscheidungen in Bezug auf Kindeswohlgefährdung oder Rückführungen nach Inobhutnahmen. Nicht zuletzt dadurch hat sich der Charakter der MVKE stark verändert.
Bei der Reform des SGB VIII mit dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) im Mai 2021 konnte erreicht werden, dass in begründeten Fällen auch beide Elternteile in eine MVKE aufgenommen und in die Hilfeangebote einbezogen werden können. Die Hilfe zielt insofern nicht mehr nur auf alleinerziehende minderjährige oder junge Mütter, sondern richtet sich an alle Eltern, die Unterstützung bei der Entwicklung ihrer Erziehungskompetenz, insbesondere beim Aufbau einer guten Eltern-Kind-Bindung, benötigen. Gerade da, wo ein Elternteil unter psychischen Belastungen leidet oder Lerneinschränkungen hat, kann die Einbeziehung des zweiten Elternteils hilfreich für den Aufbau einer tragfähigen Eltern-Kind-Bindung sein. MVKE nehmen also heute eine wachsende Zahl von Müttern und Vätern beziehungsweise Eltern mit nicht selten mehreren Kindern und sehr unterschiedlichen Belastungen auf.
Analyse-Instrument liefert erste Daten zur Wirksamkeit
Dennoch sind MVKE nicht nur in der Öffentlichkeit wenig bekannt, sondern finden auch in der Ausbildung für die pädagogischen Fachberufe, in Forschung und Fachdiskurs der Kinder- und Jugendhilfe bisher wenig Beachtung.8 Und es liegen kaum belastbare Daten zu den aktuellen Entwicklungen vor.
Bereits vor zehn Jahren hat der Sozialdienst katholischer Frauen - Gesamtverein (SkF) unter Einbezug zahlreicher Praktiker:innen gemeinsam mit dem Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) in Mainz in Anlehnung an das in der Jugendhilfe bekannte Evaluationsinstrument EVAS begonnen, ein eigenes Evaluations- und Qualitätsentwicklungsverfahren für MVKE zu konzipieren.9 Die Schwierigkeit liegt darin, dass nicht nur Daten zu einer Person, sondern jeweils zur Mutter/zum Vater und zum Kind zu erheben und in Beziehung zu setzen sind, um Fallverläufe dokumentieren zu können. Nach mehreren Probeläufen können seit 2016 in den beteiligten Einrichtungen mit "emuk" (Evaluierung Mutter und Kind) Daten erhoben werden. Die Einrichtungen erhalten so einerseits eine Ergebnisrückmeldung der einzelnen Fallverläufe. Gleichzeitig erlauben die aggregierten Einzelfalldaten, die Gesamtzahl der erhobenen Verläufe statistisch auszuwerten und somit Aussagen zu den Wirkungen und den zugrunde liegenden Wirkfaktoren zu bekommen. Ziel von "emuk" ist es, neben einer Dokumentation von Einzelfällen und Nutzung der Einzelfallauswertungen in der Hilfe- und Erziehungsplanung sowohl einrichtungsspezifische Daten sowie solche über Entwicklungen im Arbeitsfeld insgesamt zu erhalten.
Kompletter Hilfeprozess wird evaluiert
Mit Beginnbögen, regelmäßigen Verlaufsbögen und Abschlusserhebungen bei Ende der Maßnahme wird der gesamte Hilfeprozess evaluiert. Neben den personenbezogenen Daten zu Eltern und Kindern sind Daten zur Eltern-Kind-Bindung und Wahrnehmung der Erziehungskompetenz der Eltern für die Evaluation der Arbeit in den MVKE von besonderem Interesse. Gemessen werden so Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für erfolgreiche Hilfen. Erfolg bedeutet hier: Die Eltern ziehen entweder gemeinsam mit ihren Kindern aus oder willigen in eine geplante Trennung gegebenenfalls mit Besuchskontakten ein. Mit den aggregierten Daten aller beteiligten Einrichtungen lassen sich so Aussagen zu den Veränderungen der Herkunft, Belastungssituation oder Altersstruktur der Bewohner:innen machen, sowie zur Wirksamkeit der Hilfen.
Die Einrichtungen können ihre Fallverläufe statistisch auswerten, mit den Gesamtergebnissen vergleichen und sie als Element ihrer Qualitätssicherung nutzen. Ebenfalls lassen sich Einzelfallauswertungen zur Nutzung als Prozesselement zum Beispiel bei der Überprüfung der Zielerreichung und der weiteren Zielplanung generieren.
Im Jahr 2021 konnten Daten von mehr als 1000 Beginnbögen und gut 600 abgeschlossenen Fällen ausgewertet werden. Diese Daten erlauben es erstmals, die Entwicklungen in den MVKE auch datenbasiert zu beschreiben. Sie bestätigen die Berichte der Einrichtungsleitungen über die veränderte Altersstruktur und Belastungssituation der Bewohner:innen. Sie zeigen auch, dass ein großer Teil der Bewohner:innen von MVKE bereits Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe genutzt hatte. Knapp die Hälfte lebte phasenweise in der stationären Jugendhilfe.10 Bei der Hälfte der Maßnahmen aus diesen Datensätzen stand eine Kindeswohlgefährdung im Raum.11 Es lassen sich darüber hinaus deutliche Korrelationen zwischen Alter, Ausprägung der psychischen Belastungen der Eltern, Verweildauer in der Einrichtung und einer planmäßigen Beendigung der Hilfen erkennen.12
Konzepte an veränderte Bedarfe anpassen
Die Daten helfen so, die Konzepte der Einrichtungen in einem kontinuierlichen Qualitätsentwicklungsprozess an die veränderten Bedarfe von Eltern und die Nachfrage der Jugendämter anzupassen. "Emuk" selbst befindet sich ebenfalls in einem ständigen Weiterentwicklungsprozess. Aktuell verantwortet der SkF in Kooperation mit dem IKJ ein Projekt, bei dem die Erhebungsbögen von "emuk" an die aktuellen Neuerungen im § 19 (Aufnahme beider Elternteile) angepasst werden. Gleichzeitig wird weiter an der Optimierung der Benutzerfreundlichkeit der digitalen Tools gearbeitet. Denn die konsequente Nutzung von Evaluierungs- und Qualitätssicherungsinstrumenten steht und fällt mit ihrer Praxistauglichkeit. Sie müssen kompatibel mit den Alltagspraxen der Mitarbeitenden in den Einrichtungen sein.
Anmerkungen
1. Destatis. Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe. Einrichtungen und tätige Personen. 2006, 2020.
2. Pothmann, J.; Tabel, A.: Gemeinsame Wohnformen für alleinerziehende Mütter/Väter und ihre Kinder - ein übersehenes Angebot. In: Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Heft 2 und 3/2020, Dezember 2020, S. 29.
3. Statistisches Bundesamt, a. a. O.
4. Vgl. Zentrale Fachstelle der Caritas-Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen: Statistik 2022. Download per Kurzlink: t.ly/cPq74 (unten auf der Website).
5. § 19 SGB VIII (1): "Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, sollen gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen. [...] Die Betreuung umfasst Leistungen, die die Bedürfnisse der Mutter oder des Vaters sowie des Kindes und seiner Geschwister gleichermaßen berücksichtigen. [...]"
6. Hermann, T.; IKJ: Evaluation Mutter/Vater-Kind-Hilfen 2022. Nicht veröffentlichte Powerpoint-Präsentation, S. 9; vgl. auch Winkelmann, P.: Evaluation Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen. SkF, Juni 2020.
7. Hermann, T., 2022, S. 12.
8. Vgl. Mertens, H.: § 19 SGB VIII Gemeinsame Wohnformen für Mutter/Vater und Kind. In: Macsenaere, M.; Esser, K.; Knab, E.; Hiller, S.; Kieslinger, D. (Hrsg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung. Freiburg: Lambertus, Bestellmöglichkeit per Kurzlink: t.ly/zunI2
9. Hier Näheres dazu.
10 .Vgl. Winkelmann; P.; Wittschorek, P.; EREV: Wie erfolgreich sind Hilfen in Mutter/Vater-Kind-Einrichtungen? Wirkungsorientierte Qualitätsentwicklung als komplexe Herausforderung. In: Evangelische Jugendhilfe (EJ) 1/2021; Hermann, T., 2022, S. 22.
11. Hermann, T., 2022, S. 20.
12. Vgl. Winkelmann; P.; Wittschorek, P. 2021 a. a. O., und Hermann, T., 2022, S. 33.
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