Kündigung und Kündigungsschutz – rechtliche und tatsächliche Entwicklungen
Mehrere Gerichtsurteile zum Kündigungsschutzrecht bedeuten für die Praxis Veränderungen. Grund genug für einige Hinweise zu aktuellen Fragen.
Grundsätze de Verdachtskündigung
Der Verdacht einer Pflichtverletzung stellt gegenüber dem verhaltensbezogenen Vorwurf, der Arbeitnehmer habe eine Pflichtverletzung tatsächlich begangen, einen eigenständigen (personen-, nicht verhaltensbedingten) Kündigungsgrund dar. Der schwerwiegende Verdacht einer Pflichtverletzung kann zu dem Verlust der notwendigen Vertrauenswürdigkeit des Arbeitnehmers und damit zu einem Eignungsmangel führen, der einem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar machen kann. Dabei muss sich der Verdacht auf ein Verhalten beziehen, das eine außerordentliche fristlose Kündigung rechtfertigen könnte.
An die Verdachtskündigung sind allerdings keine geringeren Anforderungen zu stellen als an die Tatkündigung. Die den Verdacht begründenden (Indiz-)Tatsachen müssen daher unstreitig sein oder von dem Arbeitgeber voll bewiesen werden (Bundesarbeitsgericht [BAG] vom 31. Januar 2019 - 2 AZR 426/18). Der Verdacht muss zudem "dringend" sein; es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die den Verdacht begründenden Umstände dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht rechtfertigen würde. Dem Arbeitnehmer ist zudem Gelegenheit zu geben, zu den Verdachtsmomenten Stellung zu nehmen. Dabei muss der Arbeitnehmer mit den konkret vorgeworfenen Verhaltensweisen konfrontiert werden; er muss ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme bekommen und die Möglichkeit haben, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen (BAG vom 13. März 2008 - 2 AZR 961/06). Ist der Arbeitnehmer allerdings von vornherein nicht bereit, sich auf die gegen ihn erhobenen Vorwürfe einzulassen, ist eine inhaltliche Anhörung entbehrlich (BAG vom 20. März 2014 - 2 AZR 1037/12). Die Anhörung des Arbeitnehmers ist Wirksamkeitsvoraussetzung für die Verdachtskündigung; bei einer Tatkündigung ist demgegenüber die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers nicht erforderlich.
Außerordentliche Kündigung: die hinreichend eilige Ermittlung
Eine außerordentliche Tatkündigung muss gemäß § 626 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) innerhalb von zwei Wochen erfolgen, nachdem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Kündigungsberechtigt ist grundsätzlich der Arbeitgeber; die Kenntnis anderer Personen ist demgegenüber unbeachtlich. Ausnahmsweise kann sich allerdings der Arbeitgeber auf seine Unkenntnis nicht berufen, wenn eine andere Person von herausgehobener Position Kenntnis hat und tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass der Arbeitgeber mit deren Bericht seine Kündigungsentscheidung abgewogen treffen kann. Zusätzlich muss die verspätete Kenntnisvermittlung an den Arbeitgeber auf einer unsachgemäßen Organisation des Betriebs beruhen (BAG vom 27. Februar 2020 - 2 AZR 570/19). Die Einrichtung einer Compliance-Abteilung, die Sachverhalte zunächst eigenständig aufklärt und dann den Arbeitgeber informiert, stellt allerdings keinen solchen Organisationsmangel dar, sondern ist vielmehr sachgerecht (BAG vom 5. Mai 2022 - 2 AZR 483/2). Sofern nicht die Abläufe in dieser Abteilung zur Aufklärung von Sachverhalten selbst einen Organisationsmangel darstellen, beginnt die Frist daher erst mit der Vermittlung der Kenntnis an den Arbeitgeber zu laufen. Dabei müssen die Ermittlungen mit der gebotenen Eile durchgeführt werden, dürfen sich aber auf alle für die Kündigungsabteilung maßgeblichen Aspekte beziehen. Dazu zählen insbesondere bei komplexen Sachverhalten auch diejenigen Umstände, die das Gewicht einer Pflichtverletzung im Geflecht mehrerer beteiligter Arbeitnehmer betreffen. Hat ein Arbeitnehmer im Zusammenhang mit anderen Arbeitnehmern gehandelt, gehört es deshalb regelmäßig zu der notwendigen Grundlage für eine Entscheidung des Arbeitgebers über die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, die Mitwirkungsanteile der betroffenen Mitarbeiter und ihre Rolle im Verhältnis zueinander zu kennen (BAG vom 5. Mai 2022 - 2 AZR 483/21). Die Kündigung eines einzelnen Arbeitnehmers kann daher zurückgestellt werden, bis die Verursachungsbeiträge aller beteiligten Arbeitnehmer festgestellt worden sind.
Obliegenheiten der Arbeitnehmer im Annahmeverzug
In Auseinandersetzungen über den Fortbestand eines Arbeitsverhältnisses befindet sich der Arbeitgeber im Annahmeverzug (d. h., er nimmt die angebotene Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht an, d. Red.), wenn sich nachträglich herausstellt, dass das Arbeitsverhältnis nicht wirksam beendet worden ist. Er muss daher die rückständige Vergütung nachzahlen, wobei sich der Arbeitnehmer auf den Verzugslohnanspruch gemäß § 615 Satz 2 BGB anrechnen lassen muss, was er durch anderweitige Verwendung seiner Arbeitskraft tatsächlich erwirbt oder zu erwerben böswillig unterlässt. Böswilliges Unterlassen liegt vor, wenn der Arbeitnehmer vorsätzlich ohne ausreichenden Grund Arbeit ablehnt oder verhindert, dass ihm Arbeit angeboten wird (BAG 22. März 2017 - 5 AZR 337/16). Dabei ist der Arbeitnehmer entgegen früherer Rechtsprechung (BAG 16. Mai 2000 - 9 AZR 203/99) verpflichtet, jedenfalls die sich aus dem Sozialversicherungsrecht ergebenden Pflichten zu erfüllen; dem Arbeitnehmer kann auch im Verhältnis zum Arbeitgeber das zugemutet werden, was ihm das Gesetz ohnehin abverlangt (BAG 27. Mai 2020 - 5 AZR 387/19). Den Arbeitnehmer trifft daher die Obliegenheit, sich drei Monate vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses arbeitssuchend zu melden. Konkrete Eigenbemühungen im Sinne von Initiativbewerbungen sind dem Arbeitnehmer zwar nicht abzuverlangen; soweit ihm aber von der Arbeitsagentur etwa im Rahmen einer Eingliederungsvereinbarung konkrete Vorgaben gemacht werden, muss der Arbeitnehmer diese ebenso wie Hinweise des Arbeitgebers auf ausgeschriebene Arbeitsplätze sachgerecht bearbeiten (LAG Niedersachsen 9. November 2021 - 10 Sa 15/21). Der Arbeitnehmer darf sich allerdings darauf beschränken, sich auf zumutbare und seinen persönlichen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Arbeitsplätze zu bewerben. Zudem muss sich ein Arbeitnehmer nicht um eine dauerhaft andere Arbeitsstelle bemühen und das bisherige Arbeitsverhältnis preisgeben; er kann und darf sich darauf beschränken, die Möglichkeiten eines Zwischenerwerbs zu realisieren.
Was ist böswilliges Verhalten?
Die Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Pflichten rechtfertigt zudem nicht stets und ohne weiteres die Annahme böswilligen Verhaltens; diese bilden vielmehr lediglich Anknüpfungspunkte für die Konkretisierung böswilligen Unterlassens (BAG vom 12. Oktober 2022 - 5 AZR 30/22). Darüber hinaus rechtfertigt auch böswilliges Verhalten allein noch nicht die Anrechnung hypothetischen Verdienstes. Vielmehr obliegt es dem Arbeitgeber, den hypothetisch erzielbaren anderweitigen Verdienst schlüssig darzulegen. Hierzu gehört beispielsweise die Darlegung, ob bei rechtzeitiger Arbeitssuchendmeldung die Arbeitsagentur Vermittlungsvorschläge unterbreitet hätte, ob Bewerbungen des Arbeitnehmers erfolgreich gewesen wären, welcher Verdienst hätte erzielt werden können und ab welchem Zeitpunkt dies der Fall gewesen wäre. Kann der Arbeitgeber hierzu nicht konkret vortragen, kommt eine Anrechnung hypothetischen Erwerbs nicht in Betracht (BAG vom 12. Oktober 2022 - 5 AZR 30/22, unter Aufhebung von LAG Niedersachsen 9. November 2021 - 10 Sa 15/21; LAG Berlin-Brandenburg 30. September 2022 - 6 Sa 280/22).
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