Nichts tun oder kräftig investieren?
Klima, Krieg, Corona - die Welt ist im Krisenmodus. Doch den digitalen Wandel hält das nicht auf. Im Gegenteil: Die Pandemie war förmlich ein Booster für diesen Prozess. Die gesellschaftliche Basiseinheit Kommunikationszeit verschob sich noch stärker als zuvor in den digitalen Raum, und vieles davon wird bleiben. Das prägt das gesellschaftliche Miteinander und macht auch vor der Behindertenhilfe nicht halt. Junge, leistungsbereite Mitarbeitende verlangen nach modernen Arbeitsplätzen und Kommunikationsmitteln. Adressaten und Angehörige wollen zunehmend in digitale Kommunikations- und Wertschöpfungsketten eingebunden werden. Leistungsprozesse werden immer personenzentrierter, kleinteiliger und individueller - der steigende administrative Aufwand kann nur durch technikunterstützte Prozessgestaltung abgefedert werden. Politik und Gesellschaft fordern zunehmend den effizienten Einsatz öffentlicher Mittel und valide Wirkungsnachweise.
Viele Träger und Einrichtungen haben bereits mit einem kräftigen Ausbau ihrer IT-Infrastrukturen reagiert. Der aktuelle IT-Report für die Sozialwirtschaft1 zeigt, dass die IT-Budgets im vergangenen Jahr kräftig gestiegen sind und weiter steigen werden. Aktuell geben soziale Organisationen 1,7 Prozent ihres Umsatzes für Informationstechnologie aus, vor zehn Jahren lag dieser Wert noch bei einem Prozent.2 Der Ausbau der klassischen IT ist zwar vielerorts dringend geboten, doch er ist nur die halbe Miete. Wer Notebooks angeschafft oder Dienstplanung und Rechnungseingang elektrifiziert hat, darf nicht meinen, dass damit die Digitalisierung erledigt ist. Bei der klassischen IT geht es zumeist um die Automatisierung oder IT-Unterstützung von Aufgaben in Verwaltung und Betreuung.
Doch Digitalisierung bedeutet weit mehr. In erster Linie geht es darum, sie als Game-Changer, also als etwas, das die Spielregeln grundlegend verändert, zu begreifen und ein "digital mindset", eine aufgeschlossene Haltung gegenüber der Digitalisierung in den Organisationen, zu schaffen. Ein "Weiter so mit ein bisschen mehr Computerei" wird es nicht geben. Die Wohlfahrtspflege und mit ihr auch die Behindertenhilfe ist schon jetzt einem rasanten Wandel unterworfen. Wer das nicht glauben mag, dem sei ein Blick in die Altenhilfe empfohlen: Dort sind die privatwirtschaftlichen Anbieter längst dabei, der Wohlfahrt den Rang abzulaufen. In der ambulanten Pflege betreuen sie bereits 52 Prozent und im stationären Bereich 39 Prozent der Patient:innen beziehungsweise Bewohner:innen - Tendenz seit über 20 Jahren steigend.3 Und sie investieren massiv in die Digitalisierung. Der Marktführer Korian stellt dafür jährlich rund 60 Millionen Euro bereit4 und begreift die Digitalisierung als neues Denk- und Geschäftsmodell.5 Alloheim als zweitgrößter Anbieter arbeitet intensiv an der Prozessautomatisierung und investiert in Künstliche Intelligenz.6
Versäumt, digitale Teilhabe gesetzlich zu verankern
Wie sieht es in der Behindertenhilfe bei Caritas & Co. aus? Schon bei der Diskussion und Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes hat es die Wohlfahrt versäumt, darauf zu drängen, das Recht auf digitale Teilhabe im Gesetz zu verankern. In der Folge gibt es bis heute keine Regelfinanzierung dafür. Gleiches gilt für Digitalinvestitionen der Träger. Sie müssen noch immer in den Verwaltungsaufwendungen "versteckt" werden. Und wer hier kräftig investiert, der bekommt von den Leistungsträgern zu hören, dass er doch bitte seinen Overhead senken sollte. 2021 boten lediglich zehn Prozent der sozialen Organisationen elektronische Einsicht oder Mitwirkung an der Dokumentation (selektiv) an, und rund zwei Drittel setzten noch keinerlei technische Assistenzsysteme bei ihren Adressat:innen ein. Gezielt zu Auswahl und Einsatz von Assistenzsystemen beraten konnten hierbei nur 21 Prozent. Auch die Websites der meisten Einrichtungen stammen noch aus der Steinzeit des Internets: 78 Prozent haben keine interaktiven Elemente und bei 90 Prozent können keine Termine direkt per Website vereinbart werden. Ebenso kommt die Digitalisierung interner Prozesse nicht voran: Seit über zehn Jahren machen soziale Organisationen hier keine messbaren Fortschritte.7 Entsprechend wird im Durchschnitt rund ein Drittel der Arbeitszeit von Fachkräften durch oft stupide Verwaltungs- und Organisationstätigkeiten verschwendet, steht also nicht für die Arbeit mit den Klient:innen oder Angehörigen zur Verfügung.8 Würde dieser Wert mit intelligent digitalisierten Prozessen nur um die Hälfte verringert werden, hätte eine Einrichtung mit 500 Fachkräften die Kapazität von 75 Fachkräften mehr zur Verfügung. Dies zum Thema Fachkräftemangel.
Ohne Strategie geht nichts
Was also tun? Digitalisierung ist ein vielschichtiges Phänomen. Einzelmaßnahmen wie etwa die schnelle Einführung von Videokonferenzsystemen während der Pandemie schaffen zwar kurzfristig Entlastung, lösen aber nicht die grundlegenden Probleme. Oder um es mit Christian Dopheide, langjähriger Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata, zu sagen: "Mist, wenn er digitalisiert wird, bleibt trotzdem Mist. Digitalisierter Mist."9
Es wird also eine Strategie gebraucht. Organisationsintern fängt es bei der Unternehmensstrategie an: Gibt es eine solche überhaupt? Und wenn ja: Werden bei allen Zielen, etwa in der Personalentwicklung oder bei den Angebotsstrukturen digitale Optionen konsequent mitgedacht? Die zweite Konkretisierungsstufe bildet eine Digitalisierungsstrategie. Hier werden die einzelnen Projekte geplant, mit Ressourcen ausgestattet und bei ihrer Umsetzung laufend reflektiert. Die dritte Ebene ist die IT-Strategie. Hier geht es um ein serviceorientiertes IT-Management, eine leistungsfähige Infrastruktur und eine möglichst homogene und zeitgemäße Softwarelandschaft.
Grundlage von all dem sollte eine ehrliche Bestandsaufnahme bilden: Wo stehen wir derzeit, und was sind unsere Schwachstellen? Oft beginnt es tatsächlich bei den oben genannten klassischen IT-Themen. Den Modernisierungsstau hier aufzulösen dauert oft mehrere Jahre. Mit anspruchsvolleren Digitalprojekten sollte dennoch nicht gewartet werden. Es gilt, Erfahrungen zu sammeln und - siehe oben - ein "digitales Mindset" aufzubauen. Das funktioniert oft gut mit kleineren Leuchtturmprojekten, die nicht so sehr abhängig sind von der IT-Infrastruktur: eine schicke Social-Media-Präsenz, die Nutzung hilfreicher Mobil-Apps in der Klientenarbeit oder eine interaktive Website.
Organisationsübergreifend muss die Wohlfahrt ihre politische Lobbyarbeit zur Finanzierung der Digitalisierung massiv verstärken. Warum bekommen etwa die Kliniken über das Krankenhauszukunftsgesetz 4,3 Milliarden Euro dafür, die Behindertenhilfe geht aber leer aus? Warum gibt es bis heute keine Studie, die die enorme Mittelverschwendung durch die analogen Prozesse der Leistungsgewährung und -abrechnung aufdeckt und digitale Lösungen dafür entwickelt? Ansätze gäbe es genug.
Digitalisierung als unternehmerische Entscheidung
"Wer nicht in die Digitalisierung investiert, kalkuliert sich als Unternehmen aus dem Markt" - so Tobias Gaydoul, Vorstand der Rummelsberger Dienste10. Schwierige Refinanzierung hin oder hier - die Pandemiezeit hat uns gezeigt, dass sehr wohl Geld für Digitales da ist, wenn es denn sein muss. Es bleibt also letztlich eine unternehmerische Entscheidung, ob etwa 0,8 oder 2,5 Prozent der Umsätze in diesen Bereich investiert werden - so die Spanne, die wir im IT-Report über die Jahre messen. Und genau hier schließt sich der Kreis: beim "digital mindset" der obersten Führung. Objektive Parameter wie Größe oder Arbeitsfelder einer Organisation können die genannte Spanne nicht erklären. Digitalisierung ist und bleibt also eine unternehmerische Entscheidung. Die Frage dabei ist: Welches Risiko ist größer - nichts tun oder kräftig investieren?
Anmerkungen
1. Kreidenweis, H.; Wolff, D.: IT-Report für die Sozialwirtschaft 2022. Eichstätt, 2022, S. 36.
2. A. a. O., S. 18.
3. Jacobs, K.; Kuhlmey, A.; Greß, S.; Klauber, J.; Schwinger, A. (Hrsg.): Pflege-Report 2021, Berlin, 2021, S.10.
4. Boissard, S.: Im Gespräch (Interview). In: Wohlfahrt Intern Nr. 11/2020, S. 8.
5. Schwalie, A.: Digitalisierung verstehen wir als neues Denkmodell (Interview). In: Altenheim Nr. 5/2019, S. 6.
6. Dämlow, T.: Digitalisierung: Pflegekräfte entlasten und unterstützen (Interview); Kurzlink: https://bit.ly/3bUz3Np
7. Kreidenweis, H.; Wolff, D.: IT-Report für die Sozialwirtschaft 2021. Eichstätt, 2021, S. 37 ff.
8. Halfar, B.: Fachkräftemangel. In: Regens-Wagner-Stiftungen Dillingen: Jahresbericht 2018/2019, S. 14-17.
9. Dopheide, C.: Zur Digitalisierung des Sozialen. Ethische und ökonomische Reflexionen. Baden-Baden, 2017, S. 124.
10. Gaydoul, T.: Digitalisierung. Alternativlos. In: Sozialwirtschaft Nr. 4/2021, S. 28.
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