Inklusion – die unentdeckte Herausforderung im kirchlichen Arbeitsrecht
Werte kann man nur durch Veränderung bewahren", so der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal. Mit dem Entwurf zur Neufassung der "Grundordnung des kirchlichen Dienstes" vom 30. Mai 2022 hat die Deutsche Bischofskonferenz einen wichtigen Schritt in Richtung Veränderung unternommen. Das Dokument soll die Grundlage für die geplante Reform des kirchlichen Arbeitsrechts bilden. Das Thema Inklusion wird dabei nicht behandelt.
Artikel 3 "Ausprägungen katholischer Identität und Verantwortung für den Erhalt und die Stärkung des christlichen Profils" hebt die Wichtigkeit der Vielfalt in kirchlichen Einrichtungen hervor. Dort heißt es: "Alle Mitarbeitenden können unabhängig von ihren konkreten Aufgaben, ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrem Alter, ihrer Behinderung, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Lebensform Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer den Menschen dienenden Kirche sein […]"1 Von Kirchenvertreter:innen wird der Entwurf für ein neues katholisches Arbeitsrecht weitgehend gelobt, die Präsidentin der Caritas, Eva-Maria Welskop-Deffaa, spricht gar von einem Paradigmenwechsel.2
Einen ebensolchen Paradigmenwechsel bedeutet die UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland seit dem 26. März 2009 in Kraft ist. Sie beschreibt Inklusion zusammengefasst als "selbstbestimmte, gleichberechtigte und uneingeschränkte Teilhabe aller in allen Lebensbereichen von Anfang an."3
Dienstgemeinschaft und Inklusion
"Verschweigen", "vertuschen", "verhindern" sind Termini, die aufgrund des aktuellen Missbrauch-Gutachtens der Erzdiözese München und Freising4 in der öffentlichen Debatte in Bezug auf die katholische Kirche zu Recht verwendet werden. In diesem Zusammenhang ist ebenso zu überlegen, ob die Anforderungen an die Loyalität der kirchlichen Mitarbeiter:innen solche Mechanismen geradezu fördern und die Gefahr bergen, in missliche und ungesunde Problemlagen zu geraten. Gerade für Menschen mit psychischer Behinderung sind je nach Krankheitsbild diese Loyalitätspflichten gegebenenfalls unüberwindbare Hindernisse. Ängste und Zwänge, gepaart mit Hilf- und Sprachlosigkeit, können Auffälligkeiten im Verhalten und in der Kommunikation beider Seiten verstärken. Ein offener Umgang miteinander wird daher eher vermieden als gefördert.
Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer hatte im Jahr 2020 für eine grundlegende Reform im katholischen Arbeitsrecht plädiert und - wie auch schon der frühere Münchner Generalvikar Peter Beer - die sogenannten Loyalitätsanforderungen an die private Lebensführung der Mitarbeitenden infrage gestellt. Das kirchliche Arbeitsrecht befördere "eine Kultur der Angst". "Das System Kirche krankt und macht krank." Diesem systemischen Problem könne nur mit einem zugewandten, ganzheitlichen Menschenbild sowie Solidarität, Klarheit, Offenheit und Wahrhaftigkeit begegnet werden.5
In Artikel 7 ist nun im Entwurf der neugefassten Grundordnung geregelt, dass die private Lebensführung von Mitarbeiter:innen künftig keine rechtlichen Konsequenzen mehr nach sich zieht. Doch nicht selten sind die innerkirchlichen Strukturen immer noch hierarchisch und autoritär geprägt. Eine wesentliche Rolle kommt somit in diesem "System Kirche" Führungskräften zu, um Veränderung herbeizuführen. Inklusion braucht eine offene, agile und solidarische Führungskultur, hinter der die Haltung und Bereitschaft steht, Inklusion als Selbstverständlichkeit in der Organisation Kirche zu leben. Die Grundlage bildet Vertrauen und nicht Kontrolle. Ein inklusiver Führungsstil trägt vielleicht dazu bei, dass auf lange Sicht über Inklusion nicht mehr gesprochen werden muss.
Inklusion als Haltung ist eine Herausforderung mit hoher Wirksamkeit nach innen und außen. Die Dienstgemeinschaft ist für die Umsetzung von Inklusion eine echte Chance für ein gleichberechtigtes Miteinander und die Teilhabe aller. Dieses an sich wohlklingende Wort "Dienstgemeinschaft" verleitet jedoch durch falsches Harmoniebedürfnis zu Unverbindlichkeit und behindert so möglicherweise einen echten inklusiven Ansatz - Begegnung sowie Verhandeln auf Augenhöhe.
Inklusion im kirchlichen Arbeitsrecht
Inklusion ist eine noch weitgehend unentdeckte Herausforderung an das kirchliche Arbeitsrecht. Daher ist zu hinterfragen, welchen Stellenwert Inklusion im kirchlichen Arbeitsrecht hat und welche "Erneuerung" daraus folgen sollte.
In der gegenwärtigen Praxis ist festzustellen, dass kirchliche Dienstgeber (und nicht nur diese) eher Integration anwenden, da sie Menschen mit Einschränkung zwar nach Bedarf mit oft großem und gut gemeintem Aufwand eingliedern, jedoch die Bereitschaft vermissen lassen, nicht nur im Einzelfall grundsätzlich ohne Barrieren im Kopf zu denken und zu handeln. Phrasen wie "Da muss man doch helfen", "Da finden wir schon was" oder "Wir werden uns schon kümmern" verhindern Inklusion und fördern Mitleid.
Papst Franziskus äußerte sich zum Welttag der Menschen mit Behinderung im Jahr 2019 folgendermaßen: "Es ist wichtig, gute Gesetze zu erlassen, physische Barrieren niederzureißen, aber das genügt nicht, wenn sich nicht auch die Mentalität ändert, wenn man eine weitverbreitete Kultur nicht überwindet, die weiterhin Ungleichheit schafft, und die Menschen mit Behinderung an einer aktiven Teilnahme am alltäglichen Leben hindert."6
Kirchliche Dienstgeber versuchen meist, sich rechtlich nichts zuschulden kommen zu lassen. Sie bemühen sich, rechtskonform zu agieren und die gesetzlichen Pflichten im SGB IX nach § 154 Abs. 1 (Pflicht der Arbeitgeber zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen) und § 164 Abs. 1 (Pflichten des Arbeitgebers und Rechte behinderter Menschen) zu erfüllen. Dies geschieht oft in kleinteiligem Aktionismus, ohne dabei grundlegend die eigentlichen Ziele von Inklusion zu verfolgen. Bei Bewerbungsverfahren und bei der Einhaltung der gesetzlichen Vorgabe, eine Beschäftigungspflicht von fünf Prozent zu erreichen, wird dies besonders deutlich. So werden seit der Novellierung des SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen) im Jahr 2016 gemäß § 165 SGB IX bei formaler Eignung alle schwerbehinderten Bewerber:innen zu Vorstellungsgesprächen eingeladen. Öffentlichen Arbeitgebern kommt hier eine besondere Bedeutung zu - und erst recht kirchlichen Dienstgebern. Ein echtes Interesse hinsichtlich der Schaffung eines inklusiven Arbeitsplatzes tritt dabei eher in den Hintergrund; vielmehr soll eine Klage wegen Ungleichbehandlung vor den Arbeitsgerichten verhindert werden.
Im Oktober 2018 wurde durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts7 die "Exklusion" von Bewerber:innen ohne Religionszugehörigkeit in verkündigungsfernen Berufen als beendet erklärt. Zuvor stellte sich bei allen am Bewerbungsverfahren beteiligten Personen häufig die Frage, ob das SGB IX oder die Konfession ausschlaggebend für eine Einladung zum Vorstellungsgespräch und eine eventuelle Einstellung sind. Zumindest ist dieses Argument bei einer Ablehnung eines schwerbehinderten Menschen ausgeräumt.
Strategische Ziele - Fehlanzeige
Es ist zu beobachten, dass sich viele kirchliche Einrichtungen nicht der Aufgabe stellen, strategische Ziele zu entwickeln, um Inklusion voranzubringen. Die Chance, öffentlichkeitswirksame Projekte zu planen und umzusetzen, um Menschen mit Behinderung als Potenzial zu erkennen und somit dem Fachkräftemangel bei sinkenden Personalzahlen und zu wenigen Bewerbungen entgegenzuwirken, wird zu selten ergriffen. Inklusionsvereinbarungen reagieren in den meisten Fällen lediglich auf die gesetzlichen Vorgaben und lassen eine Bestandsaufnahme im Vorfeld vermissen. Tragfähige Prozesse und zielgerichtete konkrete Handlungsanweisungen für die Zukunft zu generieren würde allen Beteiligten mehr Sicherheit im Umgang mit Mitarbeitenden mit Behinderung geben.
Unermüdlich und von so manchen Widerständen begleitet setzen sich Mitarbeitervertretungen und Vertrauenspersonen/Schwerbehindertenvertretungen dafür ein, dass Mitarbeiter:innen mit Behinderung tatsächlich "Repräsentant:innen der Kirche" sind, wie in Artikel 3 des Entwurfs postuliert. Es gibt so manche Beispiele einer erfolgreichen und nachhaltigen Umsetzung von Inklusion. Wünschenswert wäre eine gute Vernetzung der Interessenvertretungen über die eigene Organisation hinaus, um voneinander zu lernen und so inklusive Ziele flächendeckend zu erreichen.
Der Spruch von Kurt Marti kann vielleicht einen Impuls geben, entschlossen und mutig Entscheidungen zu treffen, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung einzufordern und umzusetzen - anstatt zu zögern, zu zaudern und abzuwarten:
"Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen."8
Anmerkungen
1. Deutsche Bischofskonferenz: Neuer Entwurf der Grundordnung, 6. Mai 2022. Kurzlink: https://bit.ly/3cYMNXH
2. Siehe www.caritas.de , PM vom 30. Mai 2022.
3. Vgl. Art. 3 UN-Behindertenrechtskonvention.
4. Westpfahl, M. et al.: Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019. München, 2022 (Gutachten der Kanzlei Westpfahl/Spilker/Wastl).
5. Pfeffer, K.: Das notwendige Ende einer "Kultur der Angst" im kirchlichen Arbeitsrecht. In: Kirchliches Arbeitsrecht: Motor oder Bremse?, Eichstätter Schriften zum Kirchlichen Arbeitsrecht, Band 6, 2020, S. 9 ff.
6. Vgl. www.vaticannews.va , Nachricht vom 2. Dezember 2019.
7. BAG, 18. Oktober 2018 - 8 ARZ 501/14, vgl. zur Pressemitteilung ZMV 6/2018, S. 333 f., ZMV 2/2019, S. 104 ff. (noch nicht rechtskräftig, Verfassungsbeschwerde ist eingelegt).
8. Zitat nach www.deutschlandfunk.de/der-schweizer-pfarrer-und-poet-kurt-marti-den-himmel-auf-100.html
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