Einsamkeit: (k)eine Frage des Alterns
"Apropos Einsamkeit: Man kann mitunter scheußlich einsam sein!", formulierte Erich Kästner knapp und machte damit deutlich, dass Einsamkeit unangenehm ist, dass jede:r davon betroffen sein kann. Im Dichterwort klingt aber auch an: Bei Einsamkeit muss es sich nicht um einen dauerhaften Zustand handeln.
Zu Weihnachten schmerzt sie besonders, die Einsamkeit vieler – nicht nur älterer –
Menschen.
Adobe Stock/Sergio
Im Jahr 2018 wurde in Großbritannien das Einsamkeitsministerium gegründet und als solches in der Presse groß gefeiert. 2021 folgte Japan dem Konzept. Die Grundidee, Einsamkeit als gesellschaftliches Problem wahrzunehmen und gemeinsam dagegen anzugehen, ist uneingeschränkt zu befürworten. Doch fehlt den beiden Ministerien in Großbritannien und Japan, sagen Kenner:innen, nicht nur Geld, sondern auch eine Strategie. Man kann sich aber auch fragen, wer soll zuständig sein, die Einsamkeit so vieler Menschen zu minimieren? Braucht es nicht auch das Wissen um Einsamkeit und die Sensibilität aller dafür?
Ein mehrdeutiger Begriff
Was genau ist Einsamkeit? Sucht man nach Definitionen, so findet man stets die Betonung darauf, dass es sich um ein subjektiv schmerzliches Gefühl handele. Zudem heißt es, Einsamkeit sei unabhängig von der physischen Anwesenheit anderer Personen oder der tatsächlichen Größe des Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreises. Und Alleinsein bedeute noch lange nicht, einsam zu sein. Menschen aber, die sich einsam fühlen, erleben sich oft als missverstanden oder zurückgewiesen, gar als innerlich entfremdet von Menschen. Im deutschsprachigen Raum hat sich ein Begriff von "Einsamkeit" etabliert, der überwiegend synonym verwendet wird mit dem Ausdruck der "schlechten Einsamkeit" (im Englischen "loneliness"). Es gibt aber auch eine "gute Einsamkeit" (im Englischen "solitude"). Sie ist der Rahmen für eine intensivierte, positive Selbstbegegnung, die manche in einem Kloster oder in der Natur suchen.
Wissenschaftlich fundierte Daten zur Einsamkeit - wer eher davon betroffen oder gefährdet ist und welche Präventionen sinnvoll sind - existieren bisher kaum. Für eine öffentliche Anhörung im Bundestag im Frühjahr 2021 war die Psychologin Susanne Büker zu einer Stellungnahme eingeladen. Sie konnte aufgrund von Forschungen folgende Kernaussagen treffen: "In Deutschland sind circa zehn bis 20 Prozent von chronischer Einsamkeit betroffen. Chronische Einsamkeit hat gravierende negative Konsequenzen für die Gesundheit und die Lebenserwartung. Einsamkeit kann über die gesamte Lebensspanne auftreten. Besonders vulnerable Phasen im Leben sind das junge Erwachsenenalter (etwa 18-29 Jahre) und das hohe Lebensalter (etwa ab 80 Jahren)."
Über das Leiden Hochaltriger an Einsamkeit gibt der Alterssurvey Auskunft. Ein wichtiges Ergebnis: Die meisten der über 80-Jährigen sind nicht einsam, jedoch hat sich der Anteil einsamer hochaltriger Menschen in der Corona-Pandemie verdoppelt.
Einsamkeit – wer ist wo betroffen?
Neben einer Partnerschaft und einem großen stabilen sozialen Netzwerk ist auch die individuelle Bildung ein Schutzfaktor gegen Einsamkeit. Bei Männern ist er deutlich stärker ausgeprägt als bei Frauen. Als Einsamkeitsrisiko hingegen wurde die subjektiv schlechtere Gesundheit Älterer identifiziert. Durch sie verengt sich der Mobilitätsradius, und oft kommen finanzielle Schwierigkeiten hinzu. Häufig ist das Problem bei Menschen, die sich als einsam bezeichnen, dass sie in ihrer Häuslichkeit bleiben und Begegnung und Hilfe nicht stattfinden können. Der Anteil derer, die zu Hause leben und einsam sind, beläuft sich auf 9,5 Prozent der Befragten. Am höchsten jedoch ist in dieser während der Pandemie durchgeführten Befragung<sup>2</sup> die Einsamkeit im hohen Alter in Pflegeheimen: 35,2 Prozent. Das heißt, mehr als jede dritte hochaltrige Person leidet trotz der Begegnung mit Pflege und Betreuungspersonal und dem Angebot an Beschäftigung unter Einsamkeit.
Der Lebensverlauf gibt Hinweise
Zudem zeigt sich in der Bundesrepublik eine geografisch ungleiche Verteilung von Menschen, die an Einsamkeit leiden: So sind in östlichen Gebieten wie Mecklenburg-Vorpommern, aber auch Bayern und in der Großstadt Berlin mehr Menschen von Einsamkeit betroffen. Der Wohnort jedoch ist im Vergleich zu anderen Merkmalen weniger bedeutend und tritt hinter dem des sozioökonomischer Status zurück. So sind das Alter, die Gesundheit, aber auch die Häufigkeit und Qualität der Sozialkontakte durch Familie und Freunde für die Frage, ob jemand eher unter Einsamkeit leidet, bedeutender als die nach dem Wohnort.⁴
Für die Lösung der Einsamkeitsproblematik entscheidend ist die Frage: Wie kommt man an von ihr betroffene Personen heran, und: Sind sie tatsächlich zu erreichen, oder ist es gerade ein Symptom von Einsamkeit, sich in sozialer Isolation zu befinden? Sicherlich trifft es für viele einsame Menschen zu, dass Hilfsangebote sie nicht ansprechen und zu wenig spezifisch sind.</p>
Die Europäische Kommission hat am 27. Januar 2021 ihr Grünbuch zum Thema Altern vorgelegt, mit dem wegweisenden Untertitel: "Förderung von Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen"5. Auf 28 Seiten wird der Versuch unternommen, eine breit angelegte Grundsatzdebatte über das Altern anzuregen, um mögliche Lösungen, Antworten und Wege der damit verbundenen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft zu erkunden und zu antizipieren.
Das Grünbuch verfolgt in der Analyse einen Lebensverlaufsansatz, der individuelle wie auch breitere gesellschaftliche Folgen des Alterns berücksichtigt. Aspekte wie lebenslanges Lernen, gesunde Lebensführung, aber auch die Finanzierung angemessener Renten gehören dazu. Das Papier geht aber auch auf die Wechselbeziehungen der Generationen ein und auf die Notwendigkeit eines Gleichgewichts im sozialen System. Der Lebensverlaufsansatz ist deswegen so wesentlich, weil im jungen Alter die Konditionierung angelegt wird auf gesunde Lebensführung und auch darauf, lebenslang zu lernen.
EU-Programme fördern Resilienzbildung
Die Erkenntnisse des Grünbuchs decken sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen: Finanziell gut auskommen, gesund, mobil und aktiv sein, Netzwerke pflegen, Neues lernen und gesellschaftlich teilhaben - das sind Faktoren, die Isolation und Einsamkeit entgegenwirken. Bestimmte europäische Programme fördern Maßnahmen, die die Voraussetzungen dafür stärken, eine solche Resilienz aufzubauen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen:
◆ Das neue ESF-Plus-Programm "Stärkung der Teilhabe älterer Menschen - gegen Einsamkeit und soziale Isolation" (Oktober 2022 bis September 2027) verfolgt unter anderem die Ziele der Vorbeugung und Bekämpfung ungewollter Vereinsamung und sozialer Isolation, Stärkung der finanziellen Absicherung im Alter sowie der Unterstützung kommunaler Teilhabestrukturen für Ältere.6
◆ "EU 4 Health"7 teilt die Vision eines gesünderen Europa und setzt in seinem Spezifischen Ziel 1 auf Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung. 5,3 Milliarden Euro werden über das Programm investiert, das auch mit anderen Programmen und Maßnahmen der EU synergetisch zusammenarbeitet wie dem ESF Plus, Horizont Europa, aber auch Erasmus +.
◆ Der Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) kann als europäische Fördermöglichkeit genutzt werden, um Isolation der migrantischen Bevölkerung zu reduzieren und Integration zu fördern. Insbesondere lassen sich so auch Frauen erreichen, die am stärksten Gefahr laufen, isoliert, arm, immobil, von schlechter Gesundheit und ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe zu sein.8
Laut ihrem Grünbuch will die EU das Altern nicht nur als eine Frage des Sozialstaates, sondern der Gesellschaft als ganzer sehen und die Beteiligung junger wie auch alter Menschen an der Diskussion stimulieren. Denn ob alte Menschen vereinsamen, darüber entscheiden ihr Zugang zu Teilhabe und Begegnung und ihre über Jahre geförderte physische wie psychische Gesundheit.
Die gesamte Gesellschaft ist gefragt
Die Wirtschaft hat "die Alten" als Zielgruppe schon lange anvisiert, und es entstand die sogenannte "Seniorenwirtschaft". Diese generiert neue Möglichkeiten für zielgruppenspezifische Angebote in vielen Branchen wie Tourismus, Bankwesen, Sicherheit, intelligentem Wohnen und mehr. Technologieentwicklungen und medizinische Innovationen können zweifelsohne ein aktives und gesundes Altern unterstützen. Allein dadurch freilich wird Einsamkeit nicht verhindert. Doch kann eine fürsorgende, achtsame und solidarische Gemeinschaft, die die alten Menschen einbindet und ihre Werte und Fähigkeiten integriert, maßgeblich zur Stärkung der Selbstwirksamkeit und Teilhabe Älterer beitragen, von denen auch die Jungen profitieren.
Generationenübergreifende Initiativen wie Mehrgenerationenwohnen oder gemeinsame Freiwilligentätigkeiten bringen die Menschen einander näher und sorgen für mehr Generationengerechtigkeit. Und ein neu entstandenes "Kompetenznetz Einsamkeit" verbindet Akteur:innen aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Politik, um nach Wegen zur Vorbeugung und Bekämpfung von Einsamkeit zu suchen.9
Anmerkungen
1. Mehr unter: www.dza.de/forschung/deas; insbesondere zur Studie D80+: www.dza.de/forschung/aktuelle-projekte/hohes-alter-in-deutschland-d80
2. Ebd.
3. Buecker, S.; Ebert, T. et al.: In a Lonely Place: Investigating Regional Differences in Loneliness. In: Social Psychological and Personality Science 12/2021, S. 147–155.
4. Ebd.
5. Download per Kurzlink: https://bit.ly/3YaMRXp
Orientierung boten dafür insbesondere die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (Download per Kurzlink: https://bit.ly/3F9qN6P) und das "Jahrzehnt des gesunden Alterns" der Vereinten Nationen von 2021 bis 2030 (Näheres bislang nur auf Englisch: www.who.int/initiatives/decade-of-healthy-ageing).
6. Mehr unter: www.esf.de/portal/DE/ESF-Plus-2021-2027/Foerderprogramme/bmfsfj/teilhabe_aeltere.html
7. Mehr unter: https://ec.europa.eu/health/funding/eu4health-2021-2027-vision-healthier-european-union_de
8. Mehr unter: www.eu-migrationsfonds.de
9. www.kompetenznetz-einsamkeit.de; zu beachten insbesondere die Dokumentation der Konferenz "Gemeinsam aus der Einsamkeit" unter: https://kompetenznetz-einsamkeit.de/veranstaltungen/konferenz
Einsamkeit: (k)eine Frage des Alterns
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