Beratung und Betreuung von Sexarbeitenden am Essener Straßenstrich
Ungeachtet der immer wieder aufflammenden gesellschaftlichen Debatten über den Umgang mit Prostitution, die in den letzten Jahren verstärkt in Richtung Sexkaufverbot tendieren, geht die Stadt Essen gemeinsam mit sozialen Trägern einen progressiven Weg der Unterstützung von Sexarbeitenden. Angebot und Nachfrage von käuflichem Sex werden als gesellschaftliche und soziale Realität anerkannt. Im Zentrum der sozialen Arbeit mit den Klient:innen steht nicht die moralische Frage, sondern die tatsächliche individuelle Lage der Betroffenen und die bestmögliche, an den Interessen der Klient:innen orientierte Beratung und Begleitung. Bevor wir den differenzierten Ansatz in der Stadt Essen darstellen, ist eine Klärung der Begriffe Prostitution, Sexarbeit und Menschenhandel notwendig, da sie oft gleichgesetzt werden. Aber: Menschenhandel ist keine Prostitution – Prostitution ist kein Menschenhandel.
Prostitution bezeichnet das Ausüben sexueller Handlungen für eine Gegenleistung/Bezahlung. Seit 2002 gilt sie als offizieller Beruf und ist damit weder sittenwidrig noch strafbar, sofern sie freiwillig und von Erwachsenen ausgeübt wird. Es muss unterschieden werden zwischen freiwilliger Prostitution (Sexarbeit) und erzwungener Prostitution (Menschenhandel). Menschenhandel erfüllt nach § 232StGB einen Straftatbestand und liegt unter anderem dann vor, wenn eine Person unter der Ausnutzung ihrer persönlichen wirtschaftlichen Zwangslage oder der Hilflosigkeit ausgebeutet wird.
Sexarbeit: Der Begriff ist frei von Stigmatisierungen, die seit Jahrhunderten mit dem Begriff Prostitution verbunden sind. Ein in der Sexarbeit tätiger Mensch bietet eine professionelle Dienstleistung an, um damit Geld zu verdienen. Das Wort Sexarbeit zieht eine Parallele zu anderen Berufen, die ausgeübt werden, um den eigenen Lebensunterhalt zu sichern.
Im Jahre 2017 trat das Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen, kurz Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG), in Kraft. "Ziel des Gesetzes ist es, das sexuelle Selbstbestimmungsrecht von Prostituierten zu stärken, fachgesetzliche Grundlagen zur Gewährleistung verträglicher Arbeitsbedingungen zu schaffen, gefährliche Erscheinungsformen der Prostitution zu verdrängen und Kriminalität in der Prostitution wie Menschenhandel, Gewalt und Ausbeutung sowie Zuhälterei zu bekämpfen."1 Um diesem gesetzlichen Auftrag und der ausdifferenzierten Zielgruppe gerecht werden zu können, ist es wichtig, ebenso differenzierte Präventions-, Beratungs- und Hilfsangebote vorzuhalten, die den Bedürfnissen und der individuellen Situation der Menschen angepasst sind und die gewünschte Unterstützung sowie Hilfe zum Ausstieg anbieten können. Wie dies gelingen kann, lässt sich am Beispiel der Stadt Essen zeigen:
Von der Repression zur Akzeptanz
Für die Essener Innenstadt gibt es bereits seit 1974 eine Sperrgebietsverordnung, die jedoch erst ab dem Jahr 2000 konsequent umgesetzt wurde. Ab 1994 wurden in der Nähe des Hauptbahnhofes viele auswärtige drogengebrauchende Sexarbeitende angetroffen, was zu einem hohen Beschwerdeaufkommen von Anwohnenden und ansässigen Kaufleuten führte. Durch repressives Vorgehen der Ordnungsbehörden wurde der Straßenstrich am Hauptbahnhof weitestgehend aufgelöst. Durch die Verdrängungsmaßnahmen suchten sich insbesondere die drogengebrauchenden Sexarbeitenden selbst einen neuen Ort, um ihrer Tätigkeit nachzugehen, wo es nach kurzer Zeit ebenfalls zu Beschwerden von Anwohnenden, anliegenden Firmen und Mitarbeitenden eines sich in der Nähe befindlichen Schulungszentrums kam, in dem unter anderem auch Minderjährige ausgebildet wurden. Die Beschwerden lassen sich wie folgt zusammenfassen: Belästigung, Freier-Suchverkehr in den Wohnstraßen, Verschmutzung durch Spritzen und Kondome sowie nicht gewährleisteter Kinder- und Jugendschutz.
Welcher Standort ist geeignet?
Im Juni 2002 erließ dann die Bezirksregierung Düsseldorf eine neue Sperrgebietsverordnung für die Stadt Essen und erweiterte den Sperrbezirk. Als neuer Ausweichstandort etablierte sich nun die weitgehend unbewohnte Pferdebahnstraße, die zuvor bereits gewerblich tätige Sexarbeitende zur Arbeitsausübung nutzten. Zeitnah wurden von der Stadt Essen dort Maßnahmen zur Umfeld-Verbesserung durchgeführt, so dass erstmals das Thema sichereres Arbeiten für die Sexarbeitenden in den Fokus genommen wurde. Zugleich wurde direkt vor Ort durch das in einem umgebauten Linienbus untergebrachte Beratungsangebot "Bus-Stop" ein professionelles Umfeld-Management initiiert. Dazu kamen Beratung für Sexarbeitende sowie die Möglichkeit des Spritzentauschs und der gesundheitlichen Versorgung. Dies trug bis 2006 zu einem reibungslosen Ablauf bei. Dann weitete sich der Straßenstrich infolge von Baumaßnahmen unkontrolliert auf angrenzende Straßen aus und kam in Berührung mit einer anliegenden Jugendeinrichtung, die sehr beliebt war und als Treffpunkt diente. Durch die Ausweitung konnte hier der Kinder- und Jugendschutz nicht mehr gewährleistet werden. Mit einem neuen Standort wollte man eine dauerhafte Lösung finden. Ziel war die sozialverträgliche Verlagerung und Ausgestaltung eines geeigneten neuen Standortes.
Der wichtigste Punkt, der gewährleistet werden musste, war der Kinder- und Jugendschutz. Der Straßenstrich sollte nicht in einem Wohngebiet liegen, außerhalb des Sperrbezirks und trotzdem noch innenstadtnah sein. Zum Schutz der Sexarbeitenden sollte das Gelände gut überschaubar, gut beleuchtet und einsehbar sein. Eine Erweiterungsmöglichkeit sollte ausgeschlossen sein und Straßenverhältnisse des neuen Standortes mussten bestimmten Anforderungen entsprechen. Zuletzt waren auch die Interessen der Kunden zu berücksichtigen, um die Annahme des Platzes durch alle beteiligten Gruppen zu gewährleisten. Mit der Auswahl eines geeigneten Standortes wurde unter Beteiligung der Hilfeanbieter ein operatives Gremium aus den Strukturen des Kriminalpräventiven Rates beauftragt. Im Mai 2008 war dieses fündig geworden: der ehemalige Kirmesplatz an der Gladbecker Straße. Dieser Standort erfüllte alle Kriterien und war mit geringem Kostenaufwand herzurichten. Die Schwerpunkte des Essener Ansatzes zum Umgang mit Sexarbeitenden sind ein sicheres Arbeitsumfeld und passgenaue Beratungs- und Unterstützungsangebote.
Ziel: ein sicheres Arbeitsumfeld
Der Straßenstrich in Essen ist beispielgebend für einen progressiven und erfolgreichen Umgang mit Prostitution in der Stadtgesellschaft. Von Beginn an steht die Stadtpolitik hinter diesem Ansatz und ermöglicht so den dauerhaften Bestand und eine kooperative Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Das Gelände ist hell beleuchtet und übersichtlich, jedoch von der Hauptstraße nicht einsehbar. Die Fahrbahn ist eine Einbahnstraße, aber breit genug, dass zwei Autos nebeneinander herfahren können. Wenn ein Kunde im Gespräch mit einer Sexarbeitenden ist, kann der restliche Freier-Suchverkehr überholen und es entsteht kein Stau. Es gibt zehn Autoverrichtungsboxen und drei Fußgängerverrichtungsboxen. Alle Boxen sind mit einem Notknopf ausgestattet, so dass die Frau im Notfall sofort auf sich aufmerksam machen kann. Die Autoboxen sind so aufgebaut, dass das Auto ganz links in die Box hineinfahren muss. Dadurch kann der Kunde nicht aus dem Auto aussteigen. Die Sexarbeitende kann aber jederzeit aus dem Auto aussteigen, um den Notknopf zu drücken und um zu flüchten. Durch das Drücken des Notknopfes wird ein akustisches sowie optisches Signal ausgelöst. Die anderen Sexarbeitenden auf dem Platz hören und sehen dieses Signal und können der betroffenen Person helfen.
Durch die Verrichtungsboxen ist ein sicheres Arbeiten möglich. Die Sexarbeitenden müssen nicht mehr in abgelegene Gewerbegebiete oder auf einsame Parkplätze fahren, um dort unter prekären Bedingungen zu arbeiten. Von jedem Platz am Straßenstrich aus sind die Verrichtungsboxen sichtbar, es gibt keine dunklen Ecken. Die Zahl der Übergriffe ist drastisch zurückgegangen, seitdem der Straßenstrich umgezogen ist. Durch die offene Gestaltung des Platzes stehen die Kunden bei den Anbahnungsgesprächen unter Beobachtung der anderen Sexarbeitenden, aber auch der Mitarbeiterinnen des Beratungsangebotes. Die Polizei und das Ordnungsamt fahren in regelmäßigen Abständen Streife, um Präsenz zu zeigen und die Sicherheit für die dort arbeitenden Personen zu erhöhen.
Passgenaue Beratungs- und Unterstützungsangebote sind vor Ort
Das Beratungsangebot "Strichpunkt" ist ein niedrigschwelliges Beratungsangebot auf dem Essener Straßenstrich. Vor Ort kooperieren mehrere Dienste miteinander. Die Caritas-SkF-Essen (cse) ist mit der Leitung des Strichpunkts sowie den Beratungsstellen freiRaum (Beratung und Begleitung von Frauen in der Sexarbeit) und Nachtfalter (Beratung und Begleitung von Mädchen und Frauen, die von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung betroffen sind) federführend tätig. Weitere Kooperationspartner sind das Gesundheitsamt der Stadt Essen (Beratungsstelle zu HIV/Aids und anderen sexuell übertragbaren Infektionen), die Suchthilfe Direkt Essen sowie der Verein Bella Donna (Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen Essen).
Der anforderungsarme Ansatz der aufsuchenden Sozialarbeit soll einer möglichst großen Gruppe von Sexarbeitenden den Zugang zu Institutionen und damit auch einen möglichst niedrigschwelligen Einstieg ins Hilfesystem ermöglichen. Anonymität und Schweigepflicht, Akzeptanz und Verständnis sowie Parteilichkeit stellen die Grundlagen in jeder pädagogischen Intervention dar. Die Sexarbeitenden sollen sich in einer geschützten Atmosphäre sicher, verstanden und ernst genommen fühlen. Eine solche Haltung schafft die Basis, auf der Vertrauen aufgebaut und Beziehungsarbeit geleistet werden kann.
Neben dem Basisangebot vor Ort in Form von Versorgung und Beratung versteht sich das Netzwerk der Hilfeanbieter als Clearingstelle zur Vermittlung in weiterführende Hilfen. Die schwerpunktübergreifende Zusammenarbeit und der damit einhergehende differenzierte Blick auf die Klient:innen ermöglichen ein passgenaues Unterstützungsangebot, ausgerichtet auf den individuellen Hilfebedarf. Es ist ein erfolgreiches Angebot und beispielgebend für andere Städte.
Wege in die Prostitution
Die Beteiligung der oben genannten Beratungsstellen macht deutlich, wie vielschichtig die Wege in die Prostitution sein können. So vielfältig sind auch die Bedarfe der Aufsuchenden in den Beratungseinrichtungen.
Es gibt Sexarbeitende, die sich freiwillig entscheiden, diese Dienstleistung anzubieten. Da gibt es BDSM2-Fetischist:innen, die damit ihren sexuellen Neigungen nachgehen können, Escort-Services für gehobenere Ansprüche, Tantramassage-Studios, Sexualassistenzen für Menschen mit Behinderungen oder Senior:innen, und es gibt Menschen, die nur gelegentlich ihre Haushaltskasse auffüllen wollen. Aufklärung über Rechte und Pflichten sowie Unterstützung sind hier sozialarbeiterische Prämissen.
Dann gibt es drogengebrauchende Menschen, die ihre Beschaffungskosten mit Sexarbeit finanzieren und darin eine Möglichkeit sehen, nicht straffällig werden zu müssen. Auch sie entscheiden sich bewusst für diese Tätigkeit, obgleich der ausschlaggebende Faktor die Zwangslage der Drogenabhängigkeit ist und die Sexarbeit mitunter auch traumatische Folgen haben kann. Angebote der Suchtmitteltherapie können hier einen Ausstieg aus der Prostitution ermöglichen, wohl wissend, dass dies nur selten langfristig gelingt. Niederschwelliger Kontakt, Beratung und ein sicheres Arbeitsumfeld sind Grundvoraussetzungen, um diese Menschen zu erreichen und zu begleiten.
Darüber hinaus gibt es migrantische Sexarbeit, bei der vor allem Frauen zum Zweck der Ausübung der Sexarbeit einreisen, um mit dem Verdienst ihre Familien in den Heimatländern zu unterstützen. Die migrationsspezifische Beratung, gesundheitliche Aufklärung und Vorsorge sowie die Aufklärung über Rechte und Pflichten stehen hier im Mittelpunkt. Zuletzt gibt es den Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, der eine massive Menschenrechtsverletzung darstellt. Insbesondere Mädchen und Frauen werden unter Drohungen, durch Täuschung oder Gewalt in die Prostitution gezwungen und ausgebeutet. Opferschutz, Betreuung der Opfer bei der strafrechtlichen Verfolgung und psychosoziale Begleitung sind unabdingbar.
Kriminalisierung ist keine Lösung
In einigen feministischen Kreisen wird Sexarbeit grundsätzlich mit Herabwürdigung, Ausbeutung und Gewalt gegen Frauen gleichgesetzt. Daher sprechen sich viele für die Einführung eines Sexkaufverbotes aus.3 Dem können wir uns nicht anschließen. Sexarbeit ist nicht Gewalt gegen Frauen, solange diese einverstanden sind und gut bezahlt werden. Gewalt ist vielmehr die Kontrolle, die über Sexarbeitende ausgeübt wird und wenn an ihrer Stelle entschieden wird, was würdig ist und was nicht. Daher stehen die grundsätzliche Akzeptanz der Sexarbeitenden und ihre individuelle Lage für uns über allem, und wir verurteilen nicht. Um Missbrauch und Zwang zu verhindern, muss Sexarbeit aus dem Dunkelfeld herausgeholt werden. Erst damit ist es möglich, die Menschen zu erreichen, sie in ihren Rechten zu stärken sowie Probleme offensiv anzugehen.
Gewalt muss geahndet werden
Stigmatisierung, Diskriminierung und gesellschaftliche Marginalisierung von Sexarbeitenden sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass Sexarbeit im Dunkelfeld stattfindet, Sexarbeitende ihre Rechte nicht wahrnehmen und vulnerabel bleiben. Gerade prekäre Zielgruppen wären von einem Sexkaufverbot besonders betroffen, da sie häufiger Opfer von Straftaten werden oder sich mit sexuell übertragbaren Infektionen wie HIV anstecken. Wenn die Sexarbeit ins Dunkelfeld abrutscht, ist es umso schwieriger, diese Gruppe der Frauen und Männer zu erreichen, um ihnen adäquate Unterstützungs- und Gesundheitsangebote machen zu können. Diese Auswirkungen eines Sexkaufverbotes konnten wir schon jetzt in der Pandemie erleben.
Wir fordern daher gesetzliche Rahmenbedingungen, die sich an der Diversität der Zielgruppe orientieren. Wir lehnen es entschieden ab, alle Sexarbeitenden unter Generalverdacht zu stellen, von Menschenhandel betroffen zu sein. Wenn Gewalt und Zwang eine Rolle spielen, muss dies klar benannt und nach § 232 StGB geahndet werden. In diesem Fall sprechen wir dann nicht von Sexarbeit, sondern von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung. Es ist wichtig, differenzierte Präventions-, Beratungs- und Hilfeangebote vorzuhalten, die den Bedürfnissen und der individuellen Situation der Menschen angepasst sind und die gewünschte Unterstützung und auch Hilfe zum Ausstieg anbieten können.
Anmerkungen
1. BMFSFJ - Gesetzliche Regelungen.www.bmfsfj.de/bmfsfj/themen/gleichstellung/frauen-vor-gewalt-schuetzen/prostituiertenschutzgesetz/gesetzliche-regelungen-80646 (10. März 2022).
2. "Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism": Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Sexualpräferenzen, die oft auch unschärfer als Sadomasochismus (SM) bezeichnet werden.
3. www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/frauenhandel (10. März 2022).
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