Die Dorfgemeinschaft lebt eine neue Sorge- und Pflegekultur
Der demografische und gesellschaftliche Wandel verlangt nach neuen Wegen in der Sorge für und Pflege von älteren Menschen. Die Versorgungslücke zwischen dem zunehmenden Pflegebedarf und dem abnehmenden familiären Pflegepotenzial lässt sich mit den herkömmlichen Angeboten allein nicht mehr bewältigen. Stationäre Einrichtungen sind diesem Ansturm längst nicht mehr gewachsen. Der Fachkräftemangel zwingt heute schon zur Schließung einzelner Bereiche. Hinzu kommt, dass "Heime" in der Beliebtheitsskala der angestrebten Wohnformen weit hinten rangieren und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeitenden in Wohngemeinschaften ungleich höher ist. Wir alle müssen neu denken, weg von "versorgenden Strukturen" hin zu "sorgenden Gemeinschaften", die eingebettet in das örtliche Gefüge Beteiligung und Mitverantwortung ermöglichen. Grundlage ist ein gutes Zusammenwirken auf Augenhöhe und in gemeinsamer Verantwortung von Angehörigen, engagierten Bürger:innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, sozialen Dienstleistern und Kommunen.
Oberried ist eine Gemeinde mit knapp 3000 Einwohnern am Rande des Ballungsgebietes Freiburg. Dort gründeten engagierte Bürger:innen im Jahr 2015 die Bürgergemeinschaft Oberried, die inzwischen rund 400 Mitglieder zählt. Sie ist angetreten, das soziale Miteinander im Dorf zu stärken und die Verantwortung für ältere Menschen gemeinsam zu tragen. Diese sollen auch bei Unterstützungs- und Pflegebedarf Teil der Dorfgemeinschaft bleiben. So werden Verbundenheit und Zusammenhalt vor Ort gestärkt und das soziale Miteinander belebt.
"Was eine:r allein nicht schafft, das schaffen wir gemeinsam …" ist das Motto der Bürgergemeinschaft. Die Entwicklung der Sorgestrukturen erfolgte Schritt für Schritt. Zuerst wurden häusliche Alltagsbegleiterinnen qualifiziert und ein niedrigschwelliger Dienst aufgebaut. Es folgten eine Betreuungsgruppe und ein Fahrdienst. Diese Unterstützungsstrukturen waren der Beginn gezielter Hilfen, die den Austausch förderten und das Gefühl der Verantwortung füreinander stärkten.
Orte der Sorge geschaffen
Sorgende Gemeinschaften brauchen förderliche Rahmenbedingungen und Orte, an denen sie wachsen können. In Oberried nahmen vor einigen Jahren in der Dorfmitte die Planungen für den Ursulinenhof Gestalt an. Es entstanden eine Tagespflege mit 16 Plätzen, Räumlichkeiten für elf Bewohner:innen in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft, zwei barrierefreie Apartments und zehn Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus. Als Investorin trat die Gemeinde auf und garantierte damit eine langfristige, gemeinwohlorientierte Nutzung. Die Bürgergemeinschaft übernahm die konzeptionelle Ausgestaltung.
Beteiligung schafft Verantwortung
Diese Aufgabe war nur durch eine breite Beteiligung der Bürgerschaft möglich. In sieben von der Bürgergemeinschaft initiierten Bürger-Arbeitsgruppen wurde der künftige Betrieb im Ursulinenhof vorbereitet und damit auch ein Bewusstsein für das Thema Alter in der Dorfgemeinschaft geschaffen. Die "AG Einrichtung" beispielsweise zeichnete sich vollständig verantwortlich für die Ausstattung und Einrichtung der Tagespflege, die "AG Öffentlichkeitsarbeit" organisierte unter anderem ein großes Sommernachtskino im Klosterinnenhof mit dem Film "Still Alice - mein Leben ohne Gestern". Die Arbeitsgruppen arbeiteten mit Begeisterung und Engagement. Hier bestätigte sich, wovon alle zutiefst überzeugt sind und waren: Beteiligung schafft Verantwortung. Wenn es gelingt, Menschen wirklich zu beteiligen und Raum zu schaffen für Mitgestaltung, führt dies zu Identifikation, Verbundenheit, bereicherndem Mitdenken und tragfähigen Lösungen. Der Mehrwert, der dadurch entstanden ist, ist bedeutend für Oberried, erfüllend für die Beteiligten und stabilisierend für die Dorfgemeinschaft.
Wer sollte die Trägerschaft der Tagespflege übernehmen? Es bestand die Möglichkeit, diese in die Hände eines Verbandes zu legen oder sie der Eigenverantwortung der Bürgergemeinschaft zu übertragen. Eine gemeinschaftliche und gleichberechtigte Lösung ließ sich leider nicht umsetzen. Nach vielen Gesprächen wurde klar, dass die Vision einer Tagespflege, die in der Mitte der Dorfgemeinschaft verankert sein sollte, am besten durch die Bürgergemeinschaft realisiert werden kann. Der Gemeinderat folgte dem Antrag der Bürgergemeinschaft und honorierte mit seiner Entscheidung deren Mut, Engagement und Zuversicht.
Mehrwert einer bürgerschaftlich verantworteten Tagespflege
Die Tagespflege ist seit gut zwei Jahren in Betrieb. Der Mehrwert und die gute Verankerung wurden gleich zu Beginn deutlich, als zwei Monate nach der Eröffnung die Auslastung bei 95 Prozent lag. Und dies spürt man weiterhin, zum Beispiel beim Fahrdienst, den zehn Männer und eine Frau übernehmen. Diese sind gleichzeitig Handwerker, Gärtner und Hausmeister der Gemeinschaft. Sie kennen die Tagesgäste zum Teil schon jahrelang. Das schafft von Beginn an Vertrauen und ein Gefühl von Geborgenheit.
Das "Oberrieder Catering" wird von vielen beneidet: Die Oberrieder Gastwirte zaubern jeden Tag im Wechsel für die Tagesgäste ein leckeres frisch gekochtes Mittagessen, das von den Fahrern abgeholt und direkt in die Tagespflege gebracht wird. Jeder Wirt übernimmt damit gegen eine Entschädigung, die nicht viel mehr als die Sachkosten deckt, einmal wöchentlich die Versorgung der Tagesgäste. Ein schöner Beitrag für die Dorfgemeinschaft.
Zu klären war auch, wie die Wohngemeinschaft organisiert sein sollte. Träger-, also anbietergestützt, oder vollständig selbstverantwortet? Das Ergebnis der "Arbeitsgruppe Wohngemeinschaft", in der auch interessierte Angehörige vertreten waren, mündete in ein Votum für die Selbstverantwortung. Die Gemeinde folgte diesem Vorschlag. Gerade im Hinblick auf den weiteren Aufbau einer sorgenden Gemeinschaft war dies eine zentrale Entscheidung. Die Angehörigen bleiben so in der Verantwortung und bestimmen gleichzeitig die Rahmenbedingungen der Wohngemeinschaft. Als Assistenzdienst beauftragten sie die Bürgergemeinschaft. Weitere Qualifizierungskurse für "Alltagsbegleiterinnen in Pflegewohngemeinschaften/zusätzliche Betreuungskraft nach § 43 b SGB XI" sorgten dafür, dass die Bürgergemeinschaft auch Mitarbeiter:innen einstellen konnte, die zum Teil schon früh an der Vision mitgearbeitet oder zumindest hautnah die Entwicklungen mitverfolgt haben.
Wohngemeinschaft in geteilter Verantwortung
In der Wohngemeinschaft wohnen elf Bewohner:innen mit Unterstützungs- und Pflegebedarf in häuslicher Atmosphäre - bis zum Tod. Das Prinzip der geteilten Verantwortung bestimmt den Alltag der Akteur:innen, die am Leben in der Wohngemeinschaft beteiligt sind, der Alltagsbegleiter:innen, die bei der Bürgergemeinschaft angestellt sind (und nach TvöD bezahlt werden), der Pflegemitarbeiter:innen des Pflegedienstes, der Angehörigen, der ehrenamtlich Mitarbeitenden und des Bürgervereins. Alle Akteure bringen ihren Blick und ihr Engagement in die Wohngemeinschaft ein. Dadurch wird auch Qualität neu definiert. Es geht nicht allein um fachliche Standards und gute Pflege, sondern gleichberechtigt um Aushandlung, Solidarität, Verbundenheit und das Einstehen füreinander.
Durch die Initiative der Bürgergemeinschaft, das breite Engagement der Bürger:innen, das gute Zusammenwirken mit der Kommune und auf der Grundlage eines guten und tragenden Netzwerkes konnte vieles erreicht werden:
◆ Stabilisierung sozialer Strukturen in der Dorfgemeinschaft;
◆ hohe Lebensqualität für ältere Menschen;
◆ Aktivierung des gesellschaftlichen Engagements;
◆ Stärkung der Gemeinde als Lebensraum;
◆ breite Akzeptanz der Einrichtungen;
◆ wirtschaftliche Wertschöpfung vor Ort (30 Arbeitsplätze);
◆ gestiegene Attraktivität der Kommune.
Die Sorgegemeinschaft in Oberried lebt davon, dass Verantwortung geteilt und Beteiligung gelebt wird. Das stärkt den Zusammenhalt, stabilisiert und bereichert das Miteinander.
Mehr Information: www.buergergemeinschaft-oberried.de
Literatur
1. Werner, B.: Studie zu psychischen Belastungen und Beanspruchungen von Mitarbeitenden in der Schwerstpflege Demenzkranker in zwei verschiedenen Versorgungsbereichen.
Institut für angewandte Forschung, Weiterbildung und Entwicklung (IAF) der Katholischen Hochschule Freiburg, 2018.
2. Klie, T.: Beliebte Alternative - Evaluierung von elf Wohngemeinschaften im Freiburger Modell. In: Altenheim, 2/2022, S. 16-21.
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