Harte Arbeit, um die Hütten zu einem menschenwürdigeren Zuhause zu machen
Sengende Hitze, 35 Grad im Schatten. Ein enges Tal, das von zwei steilen Hügeln eingeschlossen ist. Die Hügel gleichen einer bunten Landschaft aus windschiefen Lehmhütten und Bretterverschlägen, die mit Wellblech gedeckt sind. Staub, Dreck, aus verschiedenen Richtungen schallt dröhnend Musik. Wir sind in Nueva Alianza am Rande der kolumbianischen Großstadt Cúcuta. Keine Frage, hier sind Not und Elend zu Hause.
"Man kann arm sein. Aber niemand ist dazu verurteilt, arm zu bleiben", lautet das Credo von Schwester Teresa Builes. In ihrer grauen Ordenstracht steigt sie flink den Hügel hinauf. Ich keuche schwitzend hinter ihr her und denke, dass das Gelände doch besser für Ziegen als für Menschen geeignet sei. Als ich Schwester Teresa später nach ihrem Alter frage, antwortet sie: "Siebzig!" und lacht schallend.
Inzwischen leben 92 Familien in Nueva Alianza. Gut die Hälfte der 327 Bewohnerinnen und Bewohner sind Kinder und Jugendliche. Von den beiden Hügeln aus hat man einen weiten Blick auf die Stadt Cúcuta und die Berge. Diese gehören schon zu Venezuela. Die Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela ist nur wenige Kilometer entfernt. Der Fluss Tachira, so breit wie die Isar in München, trennt die beiden Länder hier.
Der Durchschnittslohn eines Arbeiters in Venezuela liege zurzeit bei zehn US-Dollar pro Woche, erzählt Sergio Martinez (58). Das reiche gerade für ein Brot und zwei Kilo Reis. Er habe seine Heimat 2017 verlassen, da er als Bauarbeiter keine Arbeit mehr finden konnte. Sein Haus im Norden Venezuelas habe er seiner Mutter überlassen. Er selbst lebt jetzt mit seiner Frau Dulce in einem Bretterverschlag am Fuße des Steilhangs von Nueva Alianza. Doch Sergio und Dulce betonen, wie glücklich sie hier seien. Als Straßenhändler verkaufen sie Tabak, Zigaretten, Bonbons und Kaugummi im Zentrum von Cúcuta. Das Geld reiche ihnen, damit sie jeden Tag zu essen haben. Es bleibe sogar ab und zu noch ein bisschen übrig.
Der steinige Weg aus dem Elend
Fast zwei Millionen venezolanische Migrant:innen leben inzwischen in Kolumbien. Ihr größtes Problem ist, dass sie keinen geregelten Aufenthaltsstatus haben. Deshalb erhalten sie keine Arbeitsgenehmigung und haben keinen Schutz vor Ausbeutung und Gewalt. Frauen prostituieren sich, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Zehntausende Kinder gehen nicht zur Schule, weil ihren Eltern das Geld für Schuluniform, Schulhefte und Bücher fehlt. Stattdessen gehen sie betteln.
"Häusliche Gewalt, misshandelte Kinder, Prostitution, sexueller Missbrauch selbst in den Familien", zählt Schwester Teresa die größten Probleme in Siedlungen wie Nueva Alianza auf. Sie hat Erfahrung damit. Anfang 2019 kam sie nach Cúcuta, davor war sie zehn Jahre lang als Sozialarbeiterin für kolumbianische Binnenvertriebene in der Millionenstadt Cali tätig. "Was wir hier sehen, ist hart - unglaublich hart", sagt sie. Trotzdem lehne sie einseitige Hilfsangebote ab. "Mir geht es darum, dass sich die Menschen engagieren und sich aktiv an der Entwicklung ihrer Gemeinschaft beteiligen. Dass sie nicht immer nur jammern und um Hilfe betteln. Auf sie selbst kommt es an!"
So erschreckend der erste Eindruck von Nueva Alianza ist: Die Bewohner:innen arbeiten hart daran, ihre Hütten und ihre Siedlung zu einem menschenwürdigeren Zuhause zu machen. Sie erhalten dabei Unterstützung von Schwester Teresa und ihrer Ordensgemeinschaft der Lauritas (Missionsschwestern von Mutter Laura), von einem multiprofessionellen Team des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten, von verschiedenen anderen lokalen Hilfsorganisationen und Ehrenamtlichen. Sie alle arbeiten hier zusammen, um das Leben der Menschen in dieser und anderen Siedlungen wie Nueva Alianza erträglich zu machen und ihnen zu helfen, sich eine neue Existenz aufzubauen.
Die Menschen brauchen Infrastruktur
Schätzungsweise zwei Millionen venezolanische Migrantinnen und Migranten in Kolumbien leben von der Hand in den Mund. Die meisten von ihnen kamen schon in den Jahren 2017 und 2018 über die Grenze. Der Weg in die Obdachlosigkeit begann für viele schleichend. Irgendwann hatten sie die letzten mitgebrachten Ersparnisse aufgebraucht. Sie konnten ihre Miete nicht mehr zahlen. 2019 zimmerten sich die ersten obdachlosen Migrantinnen und Migranten aus Plastikplanen und Sperrmüll auf einem Steilhang zwischen Dornengestrüpp und Bäumen eine Bleibe zurecht. Schnell folgten andere ihrem Beispiel. So entstand die Siedlung Nueva Alianza. Sie ist die ärmste von insgesamt zehn solcher Siedlungen im Umkreis von nur wenigen Kilometern.
Auf der Agenda, die Schwester Teresa zusammen mit den Bewohner:innen von Nueva Alianza für das Jahr 2021 erstellt hatte, stand ganz oben: "Wir gewährleisten die Strom- und Wasserversorgung sowie die Kanalisation; wir binden Mädchen und Jungen in sportliche Aktivitäten ein; wir pflanzen Baumsetzlinge und halten die Siedlung frei von Müll." Anfang Oktober 2021 gab es in jeder Hütte Strom, standen an zentralen Stellen Wassertanks, die zwei- bis dreimal pro Woche befüllt werden, und gab es für die Siedlung einen Anschluss an die städtische Kanalisation.
Lachend erzählt die resolute Ordensfrau, das sei tatsächlich nur illegal möglich geworden. Die Leute hätten die Oberleitungen angezapft und von dort Stromkabel zu ihren Hütten gespannt. Holz und Kabel wurden mit Spendengeldern beschafft. Die Kabel hätten die Leute dann selbst in ihren Hütten verlegt. Und mit der Kanalisation sei es ähnlich gegangen: "Wir haben uns an die städtische Abwasserleitung drangehängt!" Das sei natürlich nicht erlaubt. Schwester Teresa beruft sich auf die Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, wonach jeder Mensch ein Recht auf menschenwürdige Lebensbedingungen hat, wozu ein Obdach, der Zugang zu Wasser und Elektrizität und vieles mehr gehöre. "Ich bin zur Stadtverwaltung gegangen und habe sie darum gebeten", erzählt sie. "Sie haben geantwortet, dass das nach den hiesigen Gesetzen nicht ginge. Ich habe ihnen erklärt, dass die Leute auf Basis der international anerkannten Menschenrechte sehr wohl ein Recht darauf hätten. Schließlich zuckten sie mit den Schultern und meinten nur: Macht doch, was ihr wollt!"
Perspektiven für die junge Generation
Die venezolanischen Migrant:innen in Nueva Alianza haben verstanden, dass es auf jede:n Einzelne:n ankommt, um die Lebensbedingungen für sich selbst, für die Kinder und für die Gemeinschaft zu verbessern. Für dieses und das kommende Jahr haben sie sich folgende Ziele gesetzt: "Wir erreichen, dass acht von zehn Kindern und Jugendlichen zur Schule gehen können; dass mindestens zehn Erwachsene an einer beruflichen Weiterbildung teilnehmen, um sich eine Existenz aufbauen zu können; dass die Mädchen und Jungen weiterhin zur Schule gehen. Kein Kind bleibt zurück!"
Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, unterstützt die Ordensschwestern und Fachkräfte des Flüchtlingsdienstes der Jesuiten, die sich Tag für Tag in Cúcuta und vielen anderen Orten für Migrant:innen aus Venezuela einsetzen. Mit der Solidaritätsaktion #EineMillionSterne, die im Rahmen der Caritas-Jahreskampagne in diesem Jahr am 12.November stattfindet, wird Caritas international zu Spenden für die venezolanischen Migrantenkinder in Kolumbien aufrufen (www.einemillionsterne.de).
Die Krise in Zahlen
In Venezuela …
◆ 2014 beginnt der Konflikt in Venezuela mit einem Generalstreik;
◆ 33 Millionen Einwohner:innen hatte Venezuela zu diesem Zeitpunkt;
◆ 5,7 Millionen Venezolaner:innen haben seither ihr Heimatland verlassen, das sind 17 Prozent der Bevölkerung -
oder in anderen Worten: Jede:r fünfte Einwohner:in hat Venezuela seit 2014 verlassen;
◆ die stärkste Abwanderung fand in den Jahren 2017 und 2018 statt.
… und in Kolumbien
◆ 51,2 Millionen Einwohner:innen hat Kolumbien;
◆ 8,1 Millionen Kolumbianer:innen leben als Binnenvertriebene im eigenen Land;
◆ 1,8 Millionen Venezolaner:innen sind in Kolumbien als Migrant:innen registriert (hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer
von illegalen Zuwanderern);
◆ jede:r fünfte Einwohner:in Kolumbien ist entweder binnenvertrieben oder Migrant:in (aus Venezuela);
◆ mehr als 250.000 schulpflichtige Migrantenkinder (aus Venezuela) besuchen keine Schule;
◆ damit gehen sechsmal mehr schulpflichtige venezolanische Flüchtlings- und Migrantenkinder nicht zur Schule als ihre
kolumbianischen Altersgenossen;
◆ ein Drittel der venezolanischen Migrantenkinder im Grundschulalter besucht keine Schule;
◆ die Hälfte aller venezolanischen Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren besucht keine Schule, teilweise infolge
der Corona-Pandemie.
Daten zusammengestellt von Christine Decker
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