Die Überlebenden
Wer lange genug lebt und überlebt, kann sich nur verwundert und staunend die Augen über die vielen Irrungen und Wirrungen der großen Weltgeschichte reiben. So geht es gerade drei betagten Damen aus Kiew, die die Caritas vom Dnepr an den Main geholt hat.
Mit dem Krankenwagen kamen sie am 27. März in Würzburg an. So kurz dieser Satz, so lang war doch die Reise. Fast 30 Stunden brauchten Nadja, Zhanna und Bella im ukrainischen Krankentransport allein bis an die polnische Grenze: lange Staus auf den großen Straßen gen Westen und immer wieder Kontrollen. An der Grenze wurden Fahrzeuge und Begleitpersonal gewechselt, bevor es über Warschau und Berlin in den Norden Bayerns ging. "Jede hatte nur zwei kleine Taschen dabei", erinnert sich Eva Pscheidl, Fachbereichsleitung Pflege und Betreuung beim Caritasverband Würzburg, "ein wenig Wäsche, ein wenig Proviant."
"Wir sind in Sicherheit", das ist den drei Frauen wichtig, und sie sind dankbar für das große Netzwerk der Hilfe, das auch sie aufgefangen hat. Denn so normal ihr Leben in Kiew auch gewesen sein mag, Nadja, Zhanna und Bella haben schon einmal überlebt. Sie tauchten 1941 unter, als die Nazis in die Ukraine einfielen und den Juden systematisch nach dem Leben trachteten. Mehr als 2,5 der drei Millionen Juden wurden ermordet. "Mit meinen Eltern bin ich für drei Jahre vor den deutschen Faschisten nach Ostsibirien geflohen. Da war ich erst zehn Jahre alt", erinnert sich Nadja, nun habe sie vor den russischen Faschisten fliehen müssen. "Diese Frauen stehen auf der Liste der Holocaust-Überlebenden", erläutert der Würzburger Aron Schuster, Direktor der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Er und die Jewish Claims Conference haben die Evakuierung in der Ukraine organisiert und sind Teil des Netzes, das ältere Menschen jüdischen Glaubens, die vor 1945 geboren wurden, aus den Kriegsgebieten holt. In Würzburg kümmert sich außerdem die Jüdische Gemeinde mit großem Einsatz. "Ich wollte nicht fliehen", berichtet Nadja. Sie ist 91 und war bis vor kurzem noch als Mikrobiologin am Polytechnikum in Kiew tätig. Jüdische Freunde hätten sie überredet, das Angebot anzunehmen. "Eine alte Katze kann in einer neuen Wohnung nicht leben", laute ein russisches Sprichwort. Sie sei gegangen, damit die Freunde beruhigt sind, sagt Nadja. Das sei eine schwere, aber richtige Entscheidung gewesen. "Als die Sirenen heulten und die Raketen flogen, bin ich schon gar nicht mehr in den Keller gegangen. Es ist in meinem Alter schwierig", sagt sie und zeigt auf ihren Gehstock.
15 Minuten später kam die Zusage
"Dann ging alles sehr koordiniert und schnell", erzählen Geschäftsführer Stefan Weber und Eva Pscheidl vom Caritasverband für die Stadt und den Landkreis Würzburg. Die Bitte um Hilfe habe sie aus der Zentrale der Caritas in Freiburg erreicht. "Wir haben bei den Ritaschwestern in der Würzburger Sanderau angefragt, ob dort Platz für drei betagte Damen aus Kiew sei; fünfzehn Minuten später kam die Zusage." Sie könne Putins Krieg gar nicht verstehen, sagt Nadja, schließlich seien die Russen doch immer Brüder der Ukrainer gewesen. Und nun ist sie im Land der Täter von einst angekommen. "Alle kümmern sich hier großartig um uns."
Die Ordensfrauen betreiben an ihrem Mutterhaus eine Wohngemeinschaft für ihre betagten Mitschwestern; die Caritas-Sozialstation St. Totnan übernimmt einen Großteil der Pflege. "Wir hatten noch ein Einzel- und ein Doppelzimmer frei", erläutert Generaloberin Rita-Maria Käß. "Uns allen war klar: Das machen wir gemeinsam", spielt Eva Pscheidl auf die Jahreskampagne der Caritas an und ist sichtlich dankbar für die Zusammenarbeit. Im Hintergrund wissen die Ritaschwestern um ihre lange Verbundenheit zur jüdischen Gemeinde, denn die katholischen Ordensfrauen taten seit 1912 jahrzehntelang Dienst im jüdischen Krankenhaus und Altenheim in der Dürerstraße. Nur für drei Jahre, von 1942 bis 1945, musste die Arbeit auf Anordnung der Gestapo eingestellt werden. "Wir nehmen den roten Faden wieder auf", sagt Oberin Rita-Maria.
Noch 400 Überlebende der Shoah
Nadja will unbedingt Deutsch lernen und Würzburg erkunden, und sie will unbedingt zurück in ihre Heimat. Die jüdische Gemeinde werde sich um eine Lehrkraft kümmern. Ihre beiden Kolleginnen planen die Weiterreise nach Hamburg, denn dort leben ihre Kinder. "In Hamburg staunte man nicht schlecht beim Anruf aus Würzburg, denn die Abreise aus Kiew ging schnell über die Bühne, so dass man an der Elbe nichts davon wusste", so Pscheidl. Sie werde, wenn es um die altersgerechte Unterbringung gehe, die Hamburger Caritas um Hilfe bitten.
In der Ukraine würden noch 400 Überlebende der Shoah wohnen, sagt Aron Schuster. Man wisse das über die Jewish Claims Conference. Eva Pscheidl: "Die Ursulinen haben schon zwei Plätze zugesagt, und wir schauen, ob auch anderswo die Kapazitäten und notwendigen Voraussetzungen gegeben sind, um ältere und pflegebedürftige Menschen aus der Ukraine aufzunehmen." Pscheidl engagiert sich für die Aktion Stolpersteine, mit der der ermordeten Jüdinnen und Juden gedacht wird. "Mir war sofort klar, dass wir jetzt erst einmal den Überlebenden helfen müssen. Und wenn die richtigen Leute sich vernetzen, dann kann sehr viel Gutes gelingen."
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