„Gesundes Altern bei der Arbeit braucht gesunde Arbeitsbedingungen und Ressourcen“
Professor Müller, Sie haben in einer aktuellen Studie gesundheitsförderliche und -schädliche Faktoren im Klinikalltag untersucht. Worum ging es da?
Müller: Im Forschungsverbund "Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz Krankenhaus", kurz: Seegen1, arbeiten mehrere Universitäten zusammen daran, partizipativ und beteiligungsorientiert Maßnahmen zu entwickeln, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Manche Stressfaktoren in der Pflege kann man aber nicht komplett beseitigen. Darum kommt es auch darauf an, die Mitarbeitenden zu stärken.
Welche Faktoren sind denn besonders belastend?
Müller: Vor allem psychosoziale Faktoren, die man im Pflegebereich gehäuft findet und die durch die Pandemie noch einmal verschärft wurden: hohe Arbeitsbelastung, zeitliche Überforderung, Arbeitsverdichtung und personelle Unterbesetzung, ungünstige Arbeitszeitgestaltung und die fehlende Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf, dazu die Sorge, aufgrund der hohen Arbeitsbelastung Fehler zu machen. Ein Risikofaktor ist auch die Kombination aus hohen Belastungen und Anforderungen, gepaart mit geringen Entscheidungsspielräumen.
Wie wirkt sich das auf die älter werdenden Belegschaften in Pflegeeinrichtungen aus?
Müller: Mit zunehmendem Alter sammeln wir wertvolle Erfahrungen, die uns helfen, die Arbeit besser und effizienter zu bewältigen. Aber es gibt auch Ressourcenverluste. In einem hochbelasteten Beruf wie der Pflege fallen Faktoren wie eine ungünstige Arbeitszeitgestaltung, eine hohe Arbeitsbelastung und mangelnde Regenerationszeiten ganz besonders ins Gewicht und können dazu beitragen, dass man in seinem Beruf vorzeitig altert und verschleißt. Gerade Schichtarbeit ist ein Faktor, der mit zunehmendem Alter weniger gut bewältigt wird.
Was ist nötig, damit Pflegefachkräfte ihren Beruf möglichst lange gesund und motiviert ausüben können?
Winter: Die Arbeit muss sowohl altersgerecht als auch alternsgerecht organisiert werden. Altersgerechtes Arbeiten bedeutet, dass die Arbeit konkret auf das jeweilige Lebensalter zugeschnitten ist, und berücksichtigt die Veränderungen der physischen und psychischen Leistungsfähigkeit bei älteren Arbeitnehmer:innen. Altersgerecht ist zum Beispiel, wenn eine ältere Pflegefachkraft mit einem Wirbelsäulenschaden keine Patiententransfers mehr alleine vornimmt. Beim alternsgerechten Arbeiten steht dagegen das Ziel im Vordergrund, die Arbeit wirklich bis zum Rentenalter ausüben zu können. Wenn ich ältere Pflegekräfte von körperlich anstrengenden Aufgaben entlaste, dann mute ich diese Arbeiten den jüngeren zu. Dann muss ich aufpassen, dass das bei ihnen nicht zu einer Überlastung führt. Dabei spielt das betriebliche Gesundheitsmanagement eine wichtige Rolle.
Die Belastungen in der Pflege sind durch die Coronapandemie stark gestiegen. Welche Folgen hat das auf die betriebliche Gesundheitsförderung?
Winter: Allein die AOK hat im Coronajahr 2020 in über 1300 Pflegeeinrichtungen Angebote der betrieblichen Gesundheitsförderung umgesetzt. Diese galten überwiegend den Beschäftigten, etwa zum rückengerechten Arbeiten in der Pflege. In ungefähr 500 Pflegeeinrichtungen konnten wir helfen, die Arbeitsorganisation gesundheitsförderlich zu gestalten und die Abläufe zu optimieren. Denn darum geht es ja: Belastungen zu identifizieren und Risikofaktoren für ein vorzeitiges Altern zu minimieren. Klar ist aber: Arbeitsbelastungen aufgrund von Personalknappheit können mit der BGF nicht komplett aufgefangen werden. Diese Personalknappheit hat offenbar viele Pflegeeinrichtungen daran gehindert, hier systematisch aktiv zu werden. Wir hoffen, dass sich das ändert.
Müller: Wir haben in unserer Studie das Paradox erlebt, dass viele Pflegekräfte vor lauter Stress nicht an der Stressprävention teilnehmen können. Andererseits haben wir gemerkt, dass bei den Leitungen und Geschäftsführungen eine zunehmende Offenheit gegenüber dem Thema psychische Gesundheit herrscht.
Was können Stations- oder Pflegedienstleitungen verbessern?
Müller: Wichtig ist, ein konstruktives, offenes Klima in Teambesprechungen zu schaffen, so dass Beschäftigte Probleme ansprechen können, und dann gemeinsam Lösungen zu suchen.
Winter: Gerade in schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass die Führungskräfte als Ansprechpartner zur Verfügung stehen, um Ängste und Unsicherheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. Ein weiterer zentraler Aspekt ist, als Führungskraft in Sachen Gesundheit ein Vorbild zu sein und zum Beispiel selbst Pause zu machen.
Mitunter leben Führungskräfte eher ungesundes Verhalten vor, etwa indem sie krank zur Arbeit kommen.
Müller: Um ihrer Verantwortung nachzukommen, wird es mit Sicherheit manchmal passieren, dass Führungskräfte krank zur Arbeit erscheinen. Dann sollten sie ihrem Team aber klar sagen: Ich komme hier heute nur meinen dringendsten Pflichten nach. Trotzdem gilt, dass ihr euch im Krankheitsfall auskurieren sollt. Ich erwarte nicht von euch, krank zur Arbeit zu kommen.
Wie können die Einrichtungsleitungen ein gesundes, alternsgerechtes Arbeiten fördern?
Müller: Da bedarf es eines klaren Signals der Geschäftsführung, dass Gesundheit ein zentrales Thema ist, das bei allen Entscheidungen mitgedacht wird. Dieser Grundsatz sollte kommuniziert und zum Beispiel im Leitbild der Einrichtung festgeschrieben werden. Das gibt auch den Führungskräften auf den mittleren Ebenen Orientierung. Wichtig ist auch das Management von gesundheitsbezogenen Angeboten im Betrieb. Um wirklich zielgerichtet agieren zu können, muss man klare Verantwortlichkeiten festlegen und zum Beispiel Steuergremien einrichten, in die alle relevanten betrieblichen Gruppen eingebunden sind.
Winter: Die Unternehmensführung kann das Thema Gesundheit auch in Zielvereinbarungen mit den Führungskräften aufnehmen. In die Formulierung eines Leitbildes sind die Beschäftigten unbedingt einzubeziehen. Partizipation ist wichtig für die Akzeptanz.
Die AOK hat 2021 die Initiative "Pflege.Kräfte.Stärken"2 gestartet. Wie können Sie die Einrichtungen damit unterstützen?
Winter: Kurzfristig können wir niederschwellige verhaltenspräventive Angebote machen, um die Ressourcen der Beschäftigten zu stärken. Das sind sowohl digitale als auch Präsenz-Angebote, etwa zur Stressbewältigung. Langfristig geht es darum, einrichtungsspezifisch arbeitsbedingte Gesundheitsbelastungen zu analysieren und daraus auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse betriebsindividuelle Maßnahmen abzuleiten. Im Programm "Care4Care"3 bieten wir Pflegefachkräften interaktive Online-Trainings an, beispielsweise zur Gestaltung gesunder Arbeitsbedingungen. Die Erkenntnisse aus diesen digitalen Trainings können anschließend vor Ort in Themen-Workshops weiterentwickelt werden. Ferner bieten wir ein Coaching für Führungskräfte an, das ihnen hilft, gesundheitsgerecht zu führen.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um in der Pflege gesund altern zu können?
Müller: Gesundes Altern bei der Arbeit braucht gesunde Arbeitsbedingungen, braucht Ressourcen und soziale Unterstützung. Eigene Entscheidungsspielräume sind besonders wichtig, um bei altersbedingten Veränderungen die Arbeit selbst so organisieren zu können, dass man mit den Belastungen besser zurechtkommt.
Winter: Um ein alters- oder alternsgerechtes Arbeiten zu ermöglichen, ist eine Analyse der Belastungen ganz zentral. In der Pflege ist aber auch der generationenübergreifende Austausch extrem wichtig, um voneinander zu lernen.
Ein weiterer Punkt sind lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle. Damit meine ich nicht nur Teilzeit, sondern Möglichkeiten, zum Beispiel die Arbeitszeit für die Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen vorübergehend zu reduzieren. Dann tut eine verlässliche Dienstplangestaltung not. Sinnvoll ist eine Rotation bei der Arbeit, um Einseitigkeit zu vermeiden oder auch Ältere von bestimmten Tätigkeiten zu entlasten. Und ein guter Teamgeist trägt viel dazu bei, in der Pflege gesund alt werden zu können.
Anmerkungen
1. Siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/36jOyvx
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