Zukunftsmut und Zukunftskunst
Im kommenden Jahr erreicht der Deutsche Caritasverband (DCV) mit seinem 125. Gründungstag eine Zwischenetappe auf seinem Zukunftsweg.1 Wir schauen zurück, und wir schauen nach vorn. Erfahrung und Aufbruch, Tradition und Innovation - "das machen wir", wie es das Motto der Caritas-Kampagne 2021/22 bekräftigt, "gemeinsam".2
Aus Erfahrung sind wir klug geworden: Kaum ist eine Not halbwegs überstanden, folgt allzu oft eine nächste. Auf Zeiten, in denen viel zu viele langzeiterwerbslose Menschen der Ermutigung und Beratung durch die Caritas bedurften, folgten Phasen, in denen vor Hunger, Krieg und Verfolgung Fliehende unsere Solidarität besonders nötig hatten und haben. Und wenn heute die gesundheitlichen und gesellschaftlichen, die psychischen und ökonomischen Folgen der Coronapandemie unsere engagierte Gegenwehr bis ans Limit herausfordern, ist gleichzeitig mit Flutkatastrophen zu Hause und Dürren anderswo die Dringlichkeit einer sozial gerechten Klimapolitik unübersehbar.
Die Fähigkeit, früh auf drohende Krisen zu reagieren, kreative Lösungen zu entwickeln und im vereinten Einsatz von Ehren- und Hauptamtlichen Hilfsangebote und politisches Engagement gemeinsam zu gestalten, zeichnet die Caritas aus. Diese Fähigkeit zu erhalten, erfordert Anpassungen - in Strukturen und Qualifikationen. Heute gilt das besonders im Zusammenhang mit der digitalen Transformation, aber auch im Angesicht der Krise unserer Kirche. Not sehen und handeln - diesen Auftrag können wir nur gemeinsam mutig und erfolgreich erfüllen. Zukunftsmutig.
Georg Hüssler, einer der Vorgänger im Präsidentenamt, beschrieb es zum 75. Geburtstag des Verbandes so: "Der Deutsche Caritasverband, immer wieder herausgefordert in den Krisenzeiten unseres Landes…ist auch heute nicht schlechthin selbstverständlich: er bleibt ein Wagnis."3 Und Michael Landau, Präsident unseres österreichischen Schwesterverbandes, zugleich Präsident von Caritas Europa, hat bei der Delegiertenversammlung des DCV im Oktober 2021 in Freiburg unterstrichen: "Der Blick zurück lehrt uns: Wir haben den Mut, die Fantasie, die Möglichkeit und die Mittel, Gegenwart und Zukunft gut zu gestalten - wenn wir das wollen! Zusammenhalt und Zuversicht, darum geht es! Die Schärfung des positiven Möglichkeitssinns. Viel[1]leicht in dieser Zeit noch mehr als sonst."4
In Kooperationen entsteht das Wir
Die Schärfung des positiven Möglichkeitssinns - das ist unser Programm für das Jubiläumsjahr 2022. Es wird dazu verschiedene Formate verbandlicher Selbstvergewisserung geben - "Expeditionen in die Zukunft" und "Caritas Blind Dates". Wir werden im Gespräch zu zweit (Blind Date) oder in größerer Runde (Expedition) die Perspektiven ehren- und hauptamtlich Mitarbeitender austauschen und Erfahrungen aus 125 Jahren verbandlicher "Liebestätigkeit"5 nutzen, um den Aufbruch in die nächsten 25 Jahre gut zu gestalten.
Dabei werden wir uns fragen (lassen), welches "Wir" gemeint ist, wenn wir sagen: "Zukunft und Zusammenhalt: DasMachenWirGemeinsam." Das Agendapapier6 zur Kampagne hat angekündigt: Es geht um Kooperationen. Um Allianzen, Bündnisse und Partnerschaften. Um eingeübte ebenso wie um überraschende. Dem Gründungsauftrag des DCV entsprechend, wollen wir im Jubiläumsjahr die Zusammenarbeit in den Mittelpunkt stellen und daraus eine Botschaft der Kooperationsfähigkeit und Handlungsstärke ableiten. Alte und neue, "herausfordernde und versöhnende Allianzen machen uns stark: Haupt- & Ehrenamt, Expert(inn)en in eigener Sache & Soziale Arbeit, nationale & internationale Caritas, Wohlfahrtsverbände & Politik, Caritas & andere gesellschaftliche Akteure, Wissenschaft & Praxis, Enttäuschte & Hoffnungsträger(innen), digital Versierte & digitale Anfänger(innen), Jung & Alt. Das sind einige der Allianzen, mit denen wir das Netzwerk der Caritas"7 stärken und weiterentwickeln wollen. Denn: "Als Caritas sind wir ein lernendes Netzwerk."8 Ein Netzwerk für Engagierte und ein Netzwerk von Ansprechpartner(inne)n für die Politik.
Von der Spinne abgeschaut: das seismografische Netz
Das Netz ist die Verlängerung der Sinne der Spinne und ihres Wahrnehmungsapparates. Die Spinne erfährt die Welt durch die Spannungen und Vibrationen des Netzes."9 Diese Kommentierung des argentinischen Künstlers Tomás Sarazeno zu seiner Ausstellung "Aria", die 2020 in Florenz zu sehen war, passt, so meine ich, in besonderer Weise zu dem, wie sich die verbandliche Caritas weiterentwickeln kann und wird. Nicht als "geschlossene Organisation" und nicht als "in kleine Vereine zersplitterte Armenpflege"10, sondern als seismografisches Netz. Nicht als Bauchladen beliebiger Angebote, aber als vielfältige Struktur sozialer Daseinssorge, in der von Alten- bis Kinder- und Jugendhilfe, von Suchtberatung bis Hospizarbeit, vom Krankenhaus bis zur Online-Peerberatung alle Angebote zusammengehalten werden, mit denen wir auf die verschiedenen Notlagen der Menschen antworten. Komplexität der Gleichzeitigkeit, Überwindung von Polarisierungen.
Neu zu klären ist, wie sich die Menschen in unserer Netzwerkarbeit zur aktiven Teilhabe eingeladen fühlen, denen die Hilfs- und Unterstützungsangebote der Caritas gelten: Menschen mit Sucht- und Armutserfahrung, zu Pflegende in unseren Altenhilfeeinrichtungen, Geflüchtete, Menschen mit Behinderung. "Nichts für uns ohne uns" hieß sinngemäß eine Botschaft der "Krüppelbewegung" in den 1970er-Jahren. Sie hat ihre dringliche Berechtigung bis heute nicht verloren.11
Die Kompetenz, Zukunftsmut zu institutioneller Zukunftsgestaltung werden zu lassen, nenne ich mit Uwe Schneidewind "Zukunftskunst"12. In einer Zeit beinahe schon heroischen Individualismus‘ dürfen wir die Bedeutung institutioneller Rahmungen für gemeinsames Engagement nicht übersehen. Wo man sich einige Jahre lang für ein soziales Anliegen engagiert, sichert der institutionelle Möglichkeitsraum die Fortführung des Engagements durch Dritte, wenn man durch andere Verpflichtungen und Lebenspläne sein Engagement nicht mehr fortsetzen kann. Das gilt nicht zuletzt für das freiwillige ehrenamtliche Engagement. Ich habe das in meinem Leben an vielen Stellen erfahren. Nachdem ich mich sieben Jahre lang in der Leitung einer katholischen Bücherei engagiert hatte und die Aufgabe abgeben musste, fand sich in der Pfarrei ein neues Team - die Bücherei hat bis heute mehrmals wöchentlich ihre Türen geöffnet, bleibt Begegnungsort für Kinder und Erwachsene im Schatten des Kirchturms.
Ähnlich im Hildegardis-Verein: "Bildung verleiht Flügel" bleibt seine institutionelle Zusage für Studieren[1]de - und trägt Ideen weiter, auch wenn erste Impulsgeberinnen längst nicht mehr im Vorstand mitarbeiten. Women4Youth, die neueste Initiative des Vereins, hat ihn wieder näher an den DCV geführt, dessen Fachverband er bis in die 1970er-Jahre war. Zusammen mit dem Katholischen Deutschen Frauenbund (KDFB) und IN VIA ist der Hildegardis-Verein in dem Projekt ein Motor starker Frauensolidarität, so wie sie Lorenz Werthmann früh und intensiv unterstützte:13 Er sorgte dafür, dass die "Christliche Frau", die Verbandszeitschrift des Frauenbundes, im Verlag des Caritasverbandes erscheinen konnte; der Mädchensozialarbeit galt seine besondere Sorge.
Das Jubiläumsjahr des DCV ist auch Jubiläum etlicher seiner Gliederungen. Der Diözesan-Caritasverband Limburg und der Orts-Caritasverband Essen feiern mit dem DCV zusammen ihren 125. Geburtstag. Viele andere Verbände - wie der Orts-Caritasverband Darmstadt oder der Diözesan-Caritasverband Dresden-Meißen - feiern ihren 100. Gründungstag.
100 Jahre Flammenkreuz
Auch das Caritas-Logo feiert Geburtstag: 1922 wurde ihm vom Deutschen Patent- und Markenamt der Markenschutz zuerkannt.14 Seit 100 Jahren begleitet es die Caritasarbeit, national und längst auch international. Das Kreuz mit seinen Pfingstflammen steht für das Selbstverständnis der Caritas: Die weltweite Caritasbewegung hört die Nöte aller, sie spricht alle Sprachen. Mit unserer Arbeit an den Krankenbetten, in den Bahnhofsmissionen und in der Migrationsberatung sind wir Gottes Dolmetscherdienst auch für diejenigen, die an Gottes lebendiger Nähe zweifeln: "Wo warst du, Gott, in Ahrweiler? Wo bist du, Gott, in Afghanistan?"15
Solche Fragen begleiten uns auf dem Weg zu unserem Jubiläums-Caritaskongress. Er wird im Januar 2023 unter dem Motto "Himmel & Erde - das machen wir gemeinsam" die Fragen nach dem fernen Gott in einer Welt voller Not aufgreifen.16 Antworten auf diese Fragen suchen und finden wir: gemeinsam.
Anmerkungen
1. Vgl. Welskop-Deffaa, E. M.: Expeditionen in die Zukunft. Caritas anno 2047. In: neue caritas-Jahrbuch 2022, S. 95-99.
2. Zur Jubiläumskampagne vgl. u.a. Welskop-Deffaa, E. M.: #DasMachenWirGemeinsam. In: Hagmans, G.; Kessmann, H.-J.; Stetter-Karp, I.: (Hrsg.): Weit weg ist näher, als du denkst. Eine Zeitreise zum Abschied für Prälat Dr. Peter Neher. Freiburg: Lambertus, 2021, S. 225-241
3. Hüssler, G.: Vorwort. In: DCV (Hrsg.): 75 Jahre Deutscher Caritasverband. Freiburg, 1972, S. 11.
4. Laut Redemanuskript; s. auch Landau, M. in: neue caritas Heft 1/2022.
5. Vgl. Noppel, C.: Denkschrift über den Ausbau der katholischen Caritasorganisation. Freiburg, 1915, S. 5.
6. Vgl. DCV (Hrsg.): Ich&Wir: #DasMachenWirGemeinsam. Sozialpolitsches Agendapapier 2022. In: neue caritas Heft 18/2021, S. 32 ff.
7. Ebd.
8. Ebd.
9. Sarazeno, T.: Aria. Ausstellungskatalog, S. 31.
10. Noppel, C.: Denkschrift, a.a.O.
11. Welskop-Deffaa, E. M: Vom Fürsprecher zum Lautsprecher? - Wohlfahrtsverbände zwischen Fürsorge und Partizipation. In: Hummel, K.; Timm, G. (Hrsg.): Demokratie und Wohlfahrtspflege. Baden-Baden: Nomos, 2020, S. 165-184.
12. Schneidewind, U.: Die Große Transformation. Frankfurt a.M.: Fischer, 2018.
13. Borgmann, K.: Lorenz Werthmann: Reden und Schriften. Freiburg: Lambertus, 1958, S. 9.
14. Zur hochspannenden Geschichte des Flammenkreuzes s. Strecker, W.: Das Flammenkreuz als Zeichen der Caritas. In: Caritas 88, Jahrbuch des DCV, S. 334-344.
15. Vgl. Wahl, S.: Ahr-Psalm, www.bistum-trier.de, 19. Juli 2021.
16. Unter: www.caritas.de/fuerprofis/caritaskongress/2023 wird herzlich zur Mitgestaltung eingeladen
Zu wenig für die Armen
Zukunftsmut und Zukunftskunst
Die Möglichkeiten ausschöpfen
Allein erziehen bedeutet oft alleingelassen
Wir sind und bleiben da
Bye, bye – oder darf es ein bisschen mehr sein?
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