Allein erziehen bedeutet oft alleingelassen
In Deutschland leben 8,2 Millionen Familien mit 13,2 Millionen minderjährigen Kindern. Davon sind 17,4 Prozent alleinerziehend, in 85 Prozent der Fälle leben die Kinder bei der Mutter. Der Trend zur Einelternfamilie nimmt zu: Von 1996 bis 2020 ist die Zahl der Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern von 1,30 Millionen auf 1,43 Millionen angestiegen.1
Das gegenüber Paarfamilien deutlich erhöhte Risiko von Alleinerziehenden für wirtschaftliche, gesundheitliche und psychosomatische Belastungen ist seit langem bekannt. Studien belegen für alleinerziehende Elternteile immer wieder ein massiv erhöhtes Armutsrisiko und erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen. Dies wurde schon vor über 15 Jahren in der Düsseldorfer Alleinerziehenden-Studie vom Klinischen Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikum Düsseldorf nachgewiesen.2 Auch internationale Studien sowie die epidemiologischen Daten des Robert-Koch-Instituts belegen dies immer wieder neu.3
Besonders alleinerziehende Mütter sind im Vergleich zu Müttern in Paarfamilien häufiger durch Armut, Zeitmangel, Zukunftsängste, Einsamkeit, die oft noch konflikthafte Beziehung zum getrennten Partner sowie damit verbundenen Schuldgefühlen und die alleinige Verantwortung im Alltag belastet. Aufgrund dieser komplexen und etwa bei der Hälfte der alleinerziehenden Mütter jahrelang anhaltenden multiplen Belastungen bestehen bei ihnen erhöhte Häufigkeitsraten für chronische psychosomatische Erkrankungen, Schmerzen, Befindlichkeitsstörungen und psychische Störungen. Vor allem Depressionen, Angststörungen, Rauchen oder Substanzmissbrauch treten bei alleinerziehenden Müttern zwei- bis dreimal so häufig auf wie bei Müttern in Partnerschaften. Der Zusammenhang zwischen Familienstatus "alleinerziehend" und erhöhten psychosomatischen Erkrankungsraten bleibt übrigens auch stabil, wenn man soziologische Einflussfaktoren wie den sozioökonomischen Status statistisch kontrolliert. Das bedeutet, dass Armut zwar ein wichtiger Belastungsfaktor ist, aber dem häufig anhaltenden Trennungskonflikt mit dem anderen Elternteil des Kindes für die Entstehung psychosomatischer Beschwerden ein bedeutender Einfluss zuzurechnen ist. Allein erziehen bedeutet auch heute noch viel zu häufig alleingelassen.
Konfliktbelastete Trennung hat gesundheitliche Auswirkungen
Den mitbetroffenen Kindern fehlen nach konflikthafter elterlicher Trennung häufig die Väter und damit deren besondere Beiträge beispielsweise für die Selbstständigkeitsentwicklung ihrer Kinder. Das Fehlen des einen und die häufige strukturelle und emotionale Überforderung des betreuenden Elternteils haben natürlich auch Folgen für die Trennungskinder. Kinder und Jugendliche aus Einelternfamilien zeigen entsprechend ebenfalls häufiger Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit sowie ihrer sozialen und kognitiven Entwicklung als Kinder aus Paarfamilien. Sie entwickeln nicht selten auf die elterliche Trennung bezogene Schuldgefühle oder Selbstwertprobleme und leiden dann häufiger unter emotionalen oder Verhaltens- und Schulproblemen sowie Übergewicht, Drogenmissbrauch, Rauchen und psychischen Beeinträchtigungen.
Weil alle Kinder - und besonders Kinder in familiären Krisensituationen - sichere, schutzbereite und einfühlsame Eltern brauchen, versuchen manche Trennungskinder auch, ihre Eltern zu "therapieren", wenn diese emotional oder psychisch durch einen anhaltenden Trennungskonflikt belastet sind. Die durch eine solche Rollenumkehr verursachte Parentifizierung des Kindes kann in eine durch häufig unausgesprochene Verlustängste, Wiedervereinigungswünsche und Schuldgefühle getriebene Loyalität führen und die eigene Entwicklung des Kindes behindern. Aus Liebe zu seinen bedürftigen Eltern verzichtet ein solches Kind auf seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse (und versucht dann manchmal sogar noch als Erwachsener im Sinne einer altruistischen Depressionsabwehr immer nur für andere da zu sein - um nur die eigene verletzte Bedürftigkeit nicht spüren zu müssen). Dann sind Hilfe und Unterstützung von außen dringend nötig. Stehen keine anderen familiären Bezugspersonen, zum Beispiel kompetente und liebevolle Großeltern, zur Verfügung, müssen öffentliche Einrichtungen und Programme Verantwortung übernehmen. So formuliert es sogar die UN-Kinderrechtskonvention.4
Mögliche Probleme auch im Erwachsenenalter
Natürlich gilt das nicht für alle Kinder aus allen Trennungsfamilien. Natürlich gibt es auch funktionale Trennungsfamilien, wenn es dem Elternpaar gelingt, die gescheiterte Paarbeziehung von der gemeinsamen Elternverantwortung zu trennen. Die Entwicklungsrisiken für die Kinder aus Trennungsfamilien sind aber erhöht. Selbst als Erwachsene haben ehemalige Trennungskinder aus konfliktbelasteten Familien noch erhöhte Risiken für: psychische Störungen wie Depressionen oder Nikotin- und Substanzmissbrauch, häufigere Arbeitslosigkeit, geringere Lebenszufriedenheit, häufigere Beziehungskonflikte, ein erhöhtes Scheidungsrisiko. Dabei zeigt sich, dass das Ausmaß familiärer Gewalt und Konflikte beziehungsweise die elterliche Überforderung sowie eingeschränkte Elternkompetenzen das kindliche Risiko für psychische Beeinträchtigungen und Problemverhalten bis ins spätere Erwachsenenleben maßgeblich beeinflussen.
"Wir2" unterstützt Alleinerziehende und ihre Kinder
Vor diesem Hintergrund wurde mit Forschungsmitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) am Universitätsklinikum Düsseldorf das inzwischen mehrfach ausgezeichnete Unterstützungsprogramm "wir2" für Alleinerziehende und ihre Kin[1]der entwickelt, erprobt und evaluiert.5
Wir2"ist ein Elterntraining für psychosozial beziehungsweise psychosomatisch belastete Alleinerziehende mit Kindern im Vor- und Grundschulalter. Das Gruppenprogramm basiert auf entwicklungspsychologischen, psychodynamischen und bindungswissenschaftlichen Grundlagen. Es fokussiert auf das emotionale Erleben, den Umgang mit Affekten und Gefühlen. Die Gesundheit der Alleinerziehenden, ihre Beziehung zu sich selbst und ihren Kindern werden während des gesamten Gruppenprogramms gefördert durch einen emotionszentrierten, individuellen Lernzyklus mit Rückblicken auch in die eigene kindliche Biografie anhand von Rollenspielen und Fantasiereisen in Entspannung. Die hierdurch entstehende und wieder mögliche Wahrnehmung verschütteter oder lange Zeit abgewehrter Gefühle ist eine Grundvoraussetzung neuer Lernprozesse, vor allem, wenn es um die Bewusstwerdung und Veränderung tief verankerter Verhaltensmuster geht. Dieser Prozess führt zu einer zunehmenden Vertrauensbeziehung und Öffnungsbereitschaft in der Gruppe und fördert so das Selbstwertgefühl und die emotionale Wahrnehmungsfähigkeit - auch für die Bedürfnisse des Kindes. Dadurch kann das Erlebte und Gelernte besonders gut verarbeitet und langfristig beibehalten werden.
Entscheidend und besonders an "wir2" ist der sehr emotionszentrierte Gruppenprozess, der von beziehungsstärkenden Feinfühligkeitsübungen mit dem Kind zu Hause begleitet wird. Hier wird ein zuvor von den Eltern in der Gruppe affektiv selbst erlebtes und kognitiv konsolidiertes Thema zusammen mit dem Kind erprobt und erlebt, zum Beispiel mittels Eltern-Kind-Übungen, in denen zu Hause in spielerischer Weise die unterschiedlichen Gefühle mimisch und körpersprachlich dargestellt und gemeinsam verstanden werden.
Die "wir2"-Gruppen mit Alleinerziehenden finden auf der Basis eines detaillierten Manuals6 statt. Geführt werden sie von einem Gruppenleitungspaar aus sozialen, pädagogischen und therapeutischen Berufen, wie zum Beispiel Sozialpädagog(inn)en, Erzieher(inne)n, Psycholog(inn)en, Sozialarbeiter(inne)n. Das Leitungspaar wird von einem "wir2"-Team in einer dreitägigen Intensivschulung ausgebildet. Das Training für die Alleinerziehenden selbst umfasst im kommunalen Setting 20 wöchentliche Gruppensitzungen, die jeweils 90 Minuten dauern. Seit dem Jahr 2015 bietet die gemeinnützige Walter Blüchert Stiftung das Programm "wir2" im Rahmen eines Kooperationsmodells interessierten Institutionen und öffentlichen Trägern an.
Kommunales Setting in Kitas oder Familienzentren
Das Programm wird in der Basisvariante bundesweit zumeist in Kitas, Bildungseinrichtungen oder Familienzentren angeboten, weil hier die Zielgruppe der Alleinerziehenden wohnortnah und niederschwellig gut erreicht werden kann. Es richtet sich in diesem Zusammenhang an Alleinerziehende, die in ihrer Alltagsbewältigung beeinträchtigt und psychosozial belastet sind.
Die nachhaltige Wirksamkeit des Bindungstrainings im kommunalen Setting wurde in einer methodisch aufwendigen randomisierten kontrollierten Stu[1]die nachgewiesen.7 Die positiven Effekte beispielsweise auf elterliche Depression oder psychosomatische Beschwerden waren statistisch signifikant mit sehr hohen Effektstärken noch zwölf Monate nachweisbar, nachdem die Intervention beendet wurde. Auch kindliches Problemverhalten verringerte sich. Das Programm erfüllt sämtliche Qualitätskriterien moderner psychosozialer Intervention im Bereich der präventiven und rehabilitativen Versorgung. Es wird deshalb auch in der höchsten Evidenzkategorie der "Grünen Liste Prävention" gelistet und vom GKV-Bündnis für Gesundheit als Modell guter Praxis aufgeführt.
"wir2Reha" als Programm während eines Klinikaufenthaltes
Für stärker belastete Alleinerziehende mit Kindern im Alter von drei bis zehn Jahren wurde zusätzlich zum wohnortnahen "wir2"-Angebot in Kommunen eine weitere Programmvariante für die stationäre psychosomatische Rehabilitation entwickelt.8 Zunächst im Rahmen einer kontrollierten, vom Bundesforschungsministerium geförderten Studie richtet sich "wir2Reha" an psychosozial hochbelastete Alleinerziehende, deren Arbeitsfähigkeit aufgrund psychosomatischer Beschwerden auf Dauer bedroht ist. Innerhalb eines sechswöchigen stationären Klinikaufenthaltes werden die Alleinerziehenden - nach Beantragung einer Reha - zusammen mit ihren Kindern in bislang drei psychosomatischen Rehabilitationsfachkliniken9 aufgenommen. Sie erhalten in diesen besonders qualifizierten Kliniken Unterstützung. Gerade in Zeiten von Corona sind die Alleinerziehenden in besonderer Weise von Einsamkeit, emotionalen und wirtschaftlichen Nöten betroffen. Deshalb kann gerade jetzt ein sechswöchiges Angebot für Mutter/Vater und Kind wie "wir2-Reha" in der therapeutischen Gemeinschaft einer psychosomatischen Fachklinik sehr hilfreich sein.
* Die Originaltexte sind erschienen in der Zeitschrift "Der niedergelassene Arzt" 4/2020 und 6/2020
Anmerkungen
1. Siehe Statistisches Bundesamt: Haushalte und Familien, Ergebnisse des Mikrozensus 2020. Wiesbaden, 2021. Direkter Kurzlink: https://bit.ly/3Iu4F7E
2. Franz, M.; Lensche, H.; Schmitz, N.: Psychological distress and socioeconomic status in single mothers and their children in a German city. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 2003, 38, S. 59-68
3. Rattay, P.; Lippe, E. V. D.; Borgmann, L. S.; Lampert, T.: Gesundheit von alleinerziehenden Müttern und Vätern in Deutschland. Journal of Health Monitoring 2(4), Robert-Koch-Institut: Berlin, 2017.
4. https://unicef.at/fileadmin/media/Kinderrechte/crcger.pdf, siehe Artikel 7, 9, 19.
5. "wir2" Bindungstraining für Alleinerziehende: www.wir2-bindungstraining.de
6. Franz, M.: wir2. Bindungstraining für Alleinerziehende. Vandenhoeck und Ruprecht: Göttingen, 2014.
7. Weihrauch, L.; Schäfer, R.; Franz, M.: Long-term efficacy of an attachment-based parental training program for single mothers and their children: a randomized controlled trial. J Public Health, 2014, 22, S. 139-153.
8. "wir2-Reha": www.reha-alleinerziehende.de
9. Celenus Klinik Schömberg; Dekimed Klinik Bad Elster; Median Klinik Bad Gottleuba.
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