Dem Leben zugewandt
Zum Wesenskern der Kirche zählt ihre Diakonie. Und zum Wesenskern kirchlicher Diakonie gehört, wie schon vor 75 Jahren der Jesuit und NS-Widerstandskämpfer Alfred Delp in seinem aufrüttelnden Appell zur Zukunft der christlichen Kirchen erinnerte, "das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben". Zur kirchlichen Diakonie gehöre vor allem "die geistige Begegnung als echter Dialog, nicht als monologische Ansprache und monotone Quengelei"1 .
Mit Alfred Delp ist das christliche Vorzeichen benannt, unter dem kirchliche Einrichtungen und ihre haupt- wie ehrenamtlichen Mitarbeitenden auch mit der sich gelegentlich einstellenden Suizidalität ihrer Bewohner(innen) umzugehen lernen müssen. Suizidalität macht vor kirchlichen Einrichtungen nicht halt. Sie ist mitunter Ausdruck einer dramatischen Lebenssituation, in die besonders ältere Menschen mit einer fortschreitenden, lebensgefährlichen oder zumindest lebensbegrenzenden Erkrankung geraten können; in der wenigstens da und dort der Wunsch nach einem raschen Ende von Beschwernis und Mühsal durch einen baldigen Tod aufblitzen kann.
Solche Sterbewünsche sind weder automatisch krankhaft noch münden sie zwangsläufig in das akute Begehren, "Hand an sich zu legen" und bei diesem Suizid die Assistenz einer Ärztin, eines Pflegers oder eines An- und Zugehörigen zu erbitten. Sterbewünsche können lediglich Lebenssattheit oder Lebensmüdigkeit signalisieren, ohne sich mit dem Wunsch nach einem beschleunigten Sterben oder nach einem selbst ausgelösten Tod zu verbinden. Erst durch diese Verbindung signalisieren Sterbewünsche das Phänomen der Suizidalität. Unter Suizidalität ist, so der einflussreiche Vorschlag des renommierten Suizidforschers Manfred Wolfersdorf, die "Summe aller Denk- und Verhaltensweisen eines Menschen oder einer Gruppe" zu verstehen, "die in Gedanken oder durch Handlung, aktiv und passiv durch Unterlassen oder Handeln lassen den eigenen Tod anstrebt beziehungsweise diesen im Rahmen der entsprechenden Handlungen in Kauf nimmt".2 Damit umfasst Suizidalität ein breites Phänomen: von allgemeiner Lebenserschöpfung über die Sehnsucht nach Ruhe, von der ein zunehmender suizidaler Handlungsdruck ausgehen kann, bis hin zur (assistierten) suizidalen Handlung oder sogar die von einer anderen Person vollzogene Tötung auf Verlangen. Entscheidend ist: Suizidalität im engeren Sinne, also die latente Bereitschaft oder das akute Begehren nach Selbsttötung, ist in der Regel keinesfalls eindeutig und stabil. Im Gegenteil, sie ist nicht selten gekoppelt an das Zeitgleiche von Lebenshunger und Lebenswille. Oftmals verdunstet das suizidale Begehren durch entsprechende Rahmung und Einbettung, zu denen keinesfalls nur medizinisch-pflegerische, sondern auch psychosoziale und spirituelle Begleitung gehören. Zudem kann suizidales Begehren sehr unterschiedliche Motive und Absichten eines schwer erkrankten Menschen verkörpern: von der Absicht, anderen nicht zur Last fallen zu wollen, über die Abwendung der drohenden Gefahr eines Kontrollverlustes bis hin zur Beendigung einer unerträglichen Leidenssituation, in der sich die eigenen Lebenskräfte erschöpft haben.
Lebenszugewandtes Ernstnehmen jedes Sterbewunsches
Jeder dieser Sterbewünsche ist ernst zu nehmen. Eine vorschnelle Pathologisierung verbietet sich. Zwar kann die krisenhafte Zuspitzung einer als ausweglos erlebten Lebenssituation Folge einer psychischen Erkrankung sein. Dann ist ihr selbstverständlich therapeutisch zu begegnen. Sie muss es aber nicht sein. Vielleicht will die notleidende Person mit ihrem Sterbewunsch einfach ihr Denken und Fühlen authentisch ins Wort setzen. Die Artikulation eines Sterbewunsches ist - so besehen - Ausfluss der Bestimmung ihrer selbst. Sich in seiner Lebensführung selbst zu bestimmen geht aber weit über konkrete Einfallentscheidungen hinaus. Selbstbestimmung ist ein prozesshaftes Geschehen. Selbstbestimmung ereignet sich im Raum des Suchens, des Mit-sich-Zurategehens, des Zweifelns, des Hoffens, des Gewisswerdens - und das alles regelmäßig im Austausch mit anderen, die Anteil nehmen an der Sorge der bedrängten Person um sich selbst; die mitdurchleiden, die mitringen, die mithoffen. Jede Selbstbestimmung ist grundsätzlich relational - also bezogen auf sich und andere, beeinflusst durch die eigenen und der anderen Ängste, Hoffnungen und Perspektiven.
Letztverantwortung des Einzelnen heißt nicht Alleinverantwortung
Das Mitdurchleiden, das Mitringen und das Mithoffen vonseiten beruflich oder privat Nahestehender nennen wir gelegentlich "Compassion" (engl. für "Mitgefühl"). Natürlich liegt die Letztentscheidung über die persönliche Lebensführung bei jeder/jedem Einzelnen. Daran ist auch katholischerseits zu erinnern. Die höchstpersönliche Selbstbestimmung ist Ausfluss jener Freiheit, in die der Schöpfer jedes seiner menschlichen Geschöpfe gerufen hat: "Die wahre Freiheit aber ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den Menschen ‚in der Hand seines Ent schlusses lassen‘ (…). Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder bloßem äußeren Zwang" (Gaudium et spes 17). Aber Letztverantwortung heißt nicht Alleinverantwortung. Zur Verantwortung derer, die einen Menschen in den Bedrängnissen seines Lebens begleiten, gehört neben dem Respekt vor seinem Letztentscheid vorher immer noch die Verpflichtung, ihm die Sichtachsen auf das Leben offenzuhalten und ihn nicht vorschnell der Aussichtslosigkeit preiszugeben. Und zu diesen Sichtachsen auf das Leben zählen neben den diversen medizinisch-pflegerischen Instrumenten, die des Menschen Notleiden mindern, vor allem auch die Erfahrung psychosozialer wie spiritueller Geborgenheit und Zuwendung. Wo sie verlustig gehen, können höchste Nöte schnell in Aussichtslosigkeit münden und den Menschen die "Exit-Option" der Selbsttötung ergreifen lassen. Hier bewahrheitet sich die beunruhigende Einsicht des französischen Soziologen Paul Valéry: Selbsttötungen dokumentieren immer auch "die Abwesenheit der Anderen".
Diese "Compassion" kann man lebenszugewandte Begleitung nennen - und zwar in einem doppelten Sinne: zugewandt diesem konkreten Menschen einschließlich seiner etwaigen Sterbewünsche wie zugewandt den Sichtachsen auf das Leben. Sie unterscheidet sich sorgfältig von einer moralischen Beurteilung von Sterbewünschen - gleich welcher Art. Wir Christen können die Frage, ob Selbsttötungen moralisch verwerflich sind oder nicht, vorerst auf sich beruhen lassen. Denn darauf kommt es hier nicht an. Es geht um Sichtachsen auf das Leben, nicht auf moralische Drohkulissen. Ohnehin müssen und dürfen wir auch nicht das Leben der anderen führen wollen - auch nicht in kirchlichen Einrichtungen. Vielmehr haben wir die Lebensführung einer unserer Obhut und Fürsorge anvertrauten Person zu achten - auch wenn sie anders entscheidet und zu handeln beabsichtigt, als wir es vielleicht für moralisch legitim halten.
Ein bergender Raum für alle - besonders für die Schwächsten
Eine Lebensführung zu achten verpflichtet uns aber keinesfalls dazu, der anderen Person als willfährige Erfüllungsgehilfen ihrer Wünsche stets zu Diensten zu sein. Achtungsansprüche sind nicht identisch mit Verschaffungsansprüchen, unmittelbar oder mittelbar Suizidassistenz zu leisten. Im Gegenteil, wir sind auch unserer eigenen Botschaft als Kirche verpflichtet. Und zu dieser Botschaft gehört, in unseren Einrichtungen die Sichtachsen auf das Leben für alle offenzuhalten. Das betrifft gerade jene Bewohner(innen), die sich durch eine drohende Normalisierung von Angeboten der Suizidbeihilfe an den Rand, schlimmer noch: zur Entscheidung gedrängt sehen, in eigenen Notsituationen die Exit-Option der Selbsttötung in Anspruch zu nehmen - als gleichermaßen probates wie zynisches Mittel, sich zum (vermeintlichen) Nutzen und Frommen aller aus dem Leben zu nehmen und rechtzeitig sich selbst zu entsorgen. Auch darin besteht ja das Fatale jenes Bundesverfassungsgerichtsurteils, mit dem das Verbot organisierter Suizidbeihilfe für nichtig erklärt wurde: Das Verfassungsgericht setzt sich über die eigenen Skrupel, die es bezüglich der prekären Effekte einer normalisierten Selbsttötungspraxis auf die Selbstbestimmung vieler anderer Menschen selbst hegt, hinweg, nur um für einige wenige die Inanspruchnahme von Suizidassistenzen durch Sterbehilfevereine zu ermöglichen.
Das christliche Selbstverständnis ist herausgefordert
Hier geht es an die Substanz des christlichen Selbstverständnisses. Kirche ist den Schwächsten verpflichtet. Sie muss in ihren Einrichtungen einen bergenden, einen schützenden Raum besonders für alle jene offenhalten, die sich dem Sog überbordender Erwartungshaltungen an ein möglichst reibungsloses Sterben ansonsten kaum widersetzen könnten. Sie kann und wird sich ihrer Verantwortung für die leibhaft erlebten Sichtachsen auf das Leben nicht entziehen. Auch das ist mit "palliativ" und "Barmherzigkeit" gemeint: ein schützender Mantel ("pallium") für eine Phase des Wachsens ("barmherzig" als Ableitung vom hebräischen "rechem" = Gebärmutter). Und das heißt konkret: ein behütetes "Wachsenkönnen" des Sterbenden in ein abschiedliches Leben hinein, das um der betroffenen Menschen willen die lebenszugewandte Alternative zu verzweifelten Selbsttötungsoptionen offenhält. Und Teil dieses Wachsens könnte sein, dem eigenen Leben auch in seiner letzten Phase nicht nur eine vorausberechnende Prognose zu geben, sondern auch auf Zukunft für Momente überraschender Lebenswendungen, ja aufblitzender Lebensfreude offenzuhalten. Darin erwiese sich das palliativ-barmherzige "Raumklima" katholischer Einrichtungen, in dem ihr Selbst verständnis um der Menschen willen konkrete Gestalt annimmt. Ein solches "Raumklima" verträgt keine Irritationen, die von assistierten Suiziden oder von Besuchen organisierter Sterbehilfevereine im Nachbarzimmer der Bewohner(innen) unweigerlich ausgehen. Ob katholische Einrichtungen etwa über ihr Hausoder Vertragsrecht solche Aktivitäten unterbinden können, ist rechtlich derzeit noch ungewiss. Gewiss hingegen ist die Entschiedenheit ihrer moralischen Missbilligung.
In einer Stellungnahme der deutschen Bischöfe zur möglichen Neuregelung der Suizidassistenz und eines legislativen Schutzkonzeptes findet sich eine bemerkenswerte Passage: "Auch aus der Seelsorge wissen wir, dass an den Grenzen des Lebens Extremsituationen entstehen können, deren Aussichtslosigkeit und Belastungen einen Menschen zu einer suizidalen Handlung drängen. Solche Extremsituationen entziehen sich letztlich einer moralischen Beurteilung von außen. Sie bleiben jedoch tragische Entscheidungen, zu denen sich die betroffenen Personen genötigt sehen. Diese Menschen verdienen keine Verurteilung, sondern in ihrer Gefährdung und Verletzlichkeit einfühlende Aufmerksamkeit."3 Auch das gehört zum christlichen Selbstverständnis einer diakonalen Kirche: Sie steht für die Sichtachsen auf das Leben, nicht für Sichtachsen auf die Drohkulisse lebensabgewandter Moralvorstellungen, die jeden Menschen mit Suizidgedanken unbesehen abkanzeln und schon das freimütige Reden über Sterbewünsche als unchristlich verurteilen. Das Christliche ihrer Moral weist, um es wie eingangs mit Alfred Delp zu sagen, in eine andere Richtung: das Nachgehen und Nachwandern eines Menschen auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten seines Lebens, um genau dort bei ihm zu sein - und auch zu bleiben, anstatt in den Ernstfällen von suizidalen Verlorenheiten und Verstiegenheiten wegzugehen und sich die eigenen Hände in vermeintlich moralischer Unschuld zu waschen.
Anmerkungen
1. Delp, A.: Das Schicksal der Kirchen. In: ders.: Im Angesicht des Todes. Frankfurt a.M. 1981, S. 138-144, hier S. 141.
2.Wolfersdorf, M.: Suizid und Suizidprävention. Stuttgart: Kohlhammer, 2011.
3. https://bit.ly/3rKJXaP
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