Dem Leben eine Chance geben
Der "assistierte Suizid" wird, auch bedingt durch die Weltanschauung, sehr unterschiedlich gedeutet. Die Deutungen reichen von der Selbstbestimmung des Menschen über sein Leben - als Ausdruck der Freiheit - bis hin zum unverantwortlichen Weggeben des Lebensgeschenks. Wenn man über den assistierten Suizid nachdenkt, so wird man dies nicht losgelöst von eigenen moralischen Haltungen dem Leben gegenüber tun. Dabei ist es notwendig, über diese moralischen Haltungen ausführlich zu reflektieren, um sicherzustellen, dass man gegenüber den moralischen Haltungen jener Person, die ein Suizidverlangen äußert, möglichst offen und dialogfähig ist. Denn dies muss immer mitbedacht werden: Das Suizidverlangen eines Menschen lässt uns als jene, die Kenntnis von diesem erlangen, nicht gleichgültig. Es fordert dazu heraus, sich zunächst auf die Seite des Lebens zu stellen und zu fragen, (a) ob sich bei näherer Betrachtung dieses Verlangen als variabel oder stabil erweist, (b) ob trotz der erlebten Belastungen auch weiterhin Lebensbindungen erkennbar sind oder nicht und (c) ob das Individuum Möglichkeiten der Kontrolle über die weitere Entwicklung seiner Lebenssituation wahrnimmt oder davon überzeugt ist, dass ihm diese Kontrolle entglitten ist. Warum aber ist dies notwendig?
Störfragen müssen gestellt werden
Hier sei von "empathisch gestellten Störfragen" gesprochen, in denen das Leben zu seinem Recht kommt. Diese Störfragen sollen dazu dienen, die Tiefe und Stabilität des Suizidverlangens zu prüfen. Sie sollen das Individuum, das dieses Verlangen äußert, darin unterstützen, dieses Verlangen noch einmal zu reflektieren. Sie sollen schließlich zum Ausdruck bringen, dass man dessen Selbstbestimmung ernst nimmt und eben aus diesem Grunde das Verlangen noch einmal genau auf seine Motive hin abklopft. Nicht selten ist gerade in einem solchen Prozess der wahrhaftigen Kommunikation ein Perspektivenwechsel aufseiten der von Todeswünschen bestimmten Person erkennbar: Neben die Vorstellung, das Leben durch eigene Hand zu beenden (eine Vorstellung, die viel Entlastendes bergen kann), tritt nun - noch einmal - das Leben, das danach verlangt, ernst genommen und fortgesetzt zu werden. Mit anderen Worten: Die Aussage, das Leben beenden zu wollen, bildet - von diesem Kommunikationsakt aus betrachtet - nicht den Endpunkt, sondern vielmehr den Ausgangspunkt des intensiven Dialogs, des solidarisch gemeinten "Kampfes". Und am Ende eines solchen Kampfes kann die Entscheidung des vormals suizidbereiten Menschen für die Fortsetzung des Lebens stehen. In einen derartigen Dialog muss selbstverständlich die Information über die objektiv gegebenen Möglichkeiten einfließen, die gegebene Lebenssituation positiv zu verändern. Das Individuum muss darin unterstützt werden, die weitere Entwicklung in stärkerem Maße kontrollieren zu können. Dieser Aspekt gewinnt vor allem für Menschen an Bedeutung, die an chronisch-progredient (fortschreitend) verlaufenden Erkrankungen leiden.
Wie kann es dennoch gelingen, Ja zum Leben zu sagen?
Es sind vielfach chronisch-progrediente, (möglicherweise) zum Tode führende Erkrankungen, die dann, wenn sie symptomreich verlaufen und wenn sie mit starken Schmerzen sowie mit körperlichen Deformationen verbunden sind, in Patientinnen und Patienten die Überzeugung wachsen lassen, dass das eigene Leben nun an einem Endpunkt angelangt ist, dass dieses Leben nicht mehr so viel Positives, Sinnstiftendes bereithält, um Ja zu ihm zu sagen. Hier nun bilden die Erfolge der Palliativmedizin und Palliativpflege sowie der Hospizarbeit eine bedeutende Grundlage für den mitfühlend und solidarisch gemeinten Appell an die Patientinnen und Patienten, "dem Leben eine Chance zu geben". Und es lässt sich in der Tat beobachten, dass jene schwerstkranken Menschen, die auf einer Palliativstation oder in einem Hospiz umfassend betreut werden, vielfach mit einer Perspektivenänderung antworten: Die Erfahrung von Mitgefühl und Solidarität stärkt die bestehende Lebensbindung in einem Maße, dass die Todeswünsche zurückgehen.
Antizipation und Aufklärung
Im Falle chronisch-progredienter Erkrankungen (seien dies körperliche, seien dies neurokognitive Erkrankungen) spielt auch die Frage der gedanklich-emotionalen Vorwegnahme (Antizipation) des weiteren Krankheits- und Symptomverlaufs eine große Rolle für auftretende und an Intensität gewinnende Todeswünsche. Die Antizipation des weiteren Krankheitsgeschehens kann Sorgen, wenn nicht sogar Ängste vor einer abnehmenden Kontrolle über Körper- und kognitive Funktionen auslösen. Diese können schließlich in die Überzeugung münden, dass das Leben - unter einer solchen Perspektive - nicht mehr ertragen werden kann. Derartige Entwicklungen sind bei manchen Patientinnen und Patienten zu finden, nachdem sie den Befund "Demenz" erhalten haben. Enorm wichtig ist eine hochgradig sensible, immer auch die Ressourcen der Patientinnen und Patienten akzentuierende Aufklärung über den weiteren Krankheits- und Symptomverlauf wie auch über die Möglichkeiten, trotz dieser chronisch-progredienten Erkrankung Phasen von Wohlbefinden, Stimmigkeit und Glück zu erleben. Unverzichtbar ist es, die Gleichzeitigkeit von Verletzlichkeit, Ressourcen und Selbstgestaltung zu thematisieren.
Teilhabe stärken, Empathie zeigen
Todeswünsche nehmen unter dem Erleben von Isolation und Einsamkeit weiter zu, vor allem dann, wenn das Individuum die Überzeugung ausbildet, von anderen Menschen vergessen worden zu sein, aus sozialen Bezügen ("aus der Welt") gefallen zu sein, keine Aufgabe mehr zu haben, nicht mehr von anderen Menschen gebraucht zu werden. Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, Menschen nach Austritt aus dem Beruf, Menschen nach dem Verlust des Partners beziehungsweise der Partnerin können in eine Situation wachsender Isolation und Einsamkeit geraten, in der die Lebensbindung immer weiter zurückgeht, depressive Episoden (nicht selten verbunden mit generalisierter Angst) immer häufiger und symptomreicher wer den. Schließlich wird nur der eigene Tod als "Ausweg" und "Entlastung" gedeutet. Gerade hier erweist sich der Aspekt der Teilhabe als sehr wichtig. Gerade hier wird deutlich, dass Todeswünsche und Suizidhandlungen auch der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, denn: Darf und kann es sein, dass Menschen immer weiter in Isolation und Einsamkeit geraten, von der Welt vergessen werden? Man darf sich hier nicht täuschen: Isolation und Einsamkeit, vor allem dann, wenn sie mit deutlich einschränkenden sozialen Lebensbedingungen einhergehen, bilden ein bedeutendes Motiv für auftretende und stärker werdende Todeswünsche. Die zentrale Antwort lautet: anregende und das Selbstbild stärkende Teilhabeangebote und Erfahrungen, eine Stützung des Individuums in einer von Verlusten bestimmten Lebenssituation. "Das Leben stark machen" bedeutet hier: Empathie und Solidarität zeigen.
Ich bin eine Last für andere Menschen
Eine schwierige Situation tritt dann ein, wenn Schwerstkranke die Überzeugung ausbilden oder mit der Aussage konfrontiert wurden, dass betreuende oder pflegende Angehörige die Begleitung beziehungsweise Pflege nur noch als "Last" erleben. "Ich bin eine Last für andere Menschen": Diese Überzeugung, diese Erfahrung ist ein wichtiges, in seiner Bedeutung vielfach unterschätztes Motiv, aus dem Leben zu gehen; Nahrungs- und Flüssigkeitsverweigerung stellen hier eine häufig anzutreffende Form der schleichenden Selbsttötung dar. Aus einer somato-psychosomatischen Perspektive kann hier aber auch noch eine ganz andere "Antwort" erfolgen: Bestehende Erkrankungen exazerbieren, das heißt sie nehmen an Symptomtiefe und Symptomvielfalt so stark zu, dass das Individuum nach und nach in einen lebensbedrohlichen Zustand gerät, aus dem es ab einer gewissen Schwere nicht mehr befreit werden kann. Was bedeutet dies? Familien mit einem schwerstkranken oder pflegebedürftigen Menschen müssen immer auch aus einer "Sorgeperspektive" betrachtet werden: Inwieweit besteht die Gefahr der körperlichen und psychischen Überforderung? Inwieweit erwachsen daraus erhöhte Anforderungen mit Blick auf die psychologische und soziale Begleitung dieser Familien? Ist auch ein Umzug des Schwerstkranken in eine stationäre Einrichtung oder in ein Hospiz möglich?
Es wird vielfach - und zu Recht - die Aussage getroffen, dass Todeswünsche aus einer psychisch hoch belastenden Situation oder einer psychischen Störung (vor allem Depressionen) hervorgehen. Dies ist insofern korrekt, weil hohe psychische Belastungen und psychische Störungen vielfach das Symptom des Todeswunsches zeigen. Aus diesem Grunde ist die Empfehlung auszusprechen, Menschen mit Todeswünschen die Möglichkeit einer psychotherapeutischen oder psychiatrischen Begleitung zu eröffnen - einer Begleitung übrigens, die nicht stigmatisiert oder demütigt, sondern die von dem Prinzip der mitfühlenden Solidarität bestimmt ist.
Erinnerung an Verantwortung
Aber: Nicht alle Todeswünsche sind das Ergebnis hoher psychischer Belastung oder psychischer Störungen. Es ist durchaus möglich, dass Menschen mit einer schweren körperlichen Erkrankung, ja sogar ohne eine derartige Erkrankung das Verlangen zeigen, aus dem Leben zu gehen - zum Beispiel, weil sie "lebensmüde" oder "lebenssatt" sind. Ein derartiges Verlangen darf nicht einfach als Pathologie klassifiziert werden.
Und doch: Auch hier sind "empathisch gestellte Störfragen" wichtig, diesmal folgender Art: Auch wenn das Recht auf Selbsttötung nicht in Zweifel gezogen wird, so ist es trotzdem notwendig, die Verantwortungsbezüge der Person zu thematisieren. Inwiefern berührt die Selbsttötung das Leben anderer Menschen, die ihr sehr nahe sind? Besteht nicht auch eine Verantwortung diesen gegenüber? Kann die Erinnerung an diese Verantwortung vielleicht sogar die Lebensbindung fördern? Und besteht nicht eine Verantwortung sich selbst gegenüber? Kann die Erinnerung an die Verantwortung vor sich selbst die Überlegung anstoßen, dem "Leben eine Chance zu geben"?
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