Menschen auch in Grenzsituationen beistehen
Ist der Suizid Ausdruck von Freiheit oder das tragische Ende einer Lebensgeschichte? Eindrucksvoll beschreibt Richard Ford in der Kurzgeschichte "Der Lauf des Lebens" die Rückkehr eines Mannes an den jahrelangen Urlaubsort mit seiner Frau. "Maes plötzliche Abwesenheit traf ihn von Anfang an, wenn er Sachen vom Auto in das Birney-Haus trug, Kommoden und Schränke öffnete, die Kellertür aufmachte, Wasserhähne aufdrehte, die Zimmer lüftete, sie traf ihn von Anfang an, wie eine Keule; ein Schock, dass sie fehlte, sogar in einem Haus, in das sie nie einen Fuß gesetzt hatte. Dann wurde ihre Abwesenheit fast zu einer Erleichterung, einem Trost, einer Anwesenheit. Und dann wieder zu der elenden Guillotine der klaren Tatsache."1 Seine Frau hatte sich in dem Fischerörtchen zwei Jahre zuvor das Leben genommen - sterbenskrank und ohne jemanden vorher einzuweihen. "Es ist erst zwei Jahre her. Wie man binnen genau zwei Jahren damit umgeht, steht doch in keinem Buch."2
Neue Fragen entstehen
Die Auswirkungen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, bei dem diese als Ausdruck der Selbstbestimmung betont wird, sind noch nicht abzusehen. "Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren"3 , so das Urteil. Dies umfasse auch die Freiheit, Hilfe bei Dritten zu suchen, ohne dass diese zur Beihilfe verpflichtet werden könnten.
So eindeutig das Urteil scheint, so befremdlich ist es. Denn viele Lebenssituationen sind alles andere als eindeutig: häufig sind wir nicht so frei, selbstbestimmt, vernünftig und reflektiert, wie wir das gerne wären. Gerade äußere Faktoren spielen eine bedeutende Rolle, wenn es um Suizid geht. Vor diesem Hintergrund ist die eindeutige Positionierung der Kirche und ihrer Caritas ein wichtiges Signal: Das menschliche Leben ist bis zuletzt zu achten und zu schützen!
Dies wirft dennoch Fragen auf. Nicht zuletzt, weil die Richter den (assistierten) Suizid auf der Ebene der Grundrechte ansiedeln. Dies lässt sich nicht einfach beiseitewischen. Wie also kann es auf der Basis einer das Leben zu schützenden Haltung in den Einrichtungen und Diensten der Caritas gelingen, Menschen zur Seite zu stehen und gleichzeitig das Recht auf Selbstbestimmung (mit allen Implikationen und Konsequenzen des Urteils) zu respektieren? Und was ist mit denjenigen, die (offenkundig) in ihrem freien Willen eingeschränkt sind und nach einem assistierten Suizid verlangen?
Dilemmata beim Namen nennen
In ersten verbandlichen Gesprächsformaten und Veranstaltungen zeigte sich, wie unterschiedlich die Antwortversuche sind. Bei allen Überlegungen muss es aus christlich-caritativer Perspektive darum gehen, Menschen gerade auch in schwierigen Phasen ihres Lebens zur Seite zu stehen. Die Begleitung auf Augenhöhe setzt voraus, dass der Suizidwunsch selbst benannt werden können muss. Häufig entsteht dieser Wunsch angesichts von Erkrankungen, Leid, Schmerzen, Verzweiflung, Wut oder der Sorge, anderen zur Last zu fallen. Hierfür ist es existenziell, weiter flächendeckend an einer Kultur der Begleitung zu arbeiten, welche die Themen Tod und Sterben aufgreift und nicht tabuisiert. Wie wichtig dies ist, zeigte beispielsweise das 2014 bis 2016 vom Deutschen Caritasverband (DCV) durchgeführte Projekt "Bei uns soll keiner alleine sterben". Menschen in ihrem Wunsch nach Suizid alleinzulassen, sie wegzuschicken oder ihre Besucher(innen) zu überprüfen kann für kirchlich-caritative Einrichtungen, die sich dem christlichen Wert von der Würde des Lebens verpflichtet wissen, keine Lösung sein, auch den Angehörigen gegenüber nicht. Umgekehrt kann die Aufgabe von Einrichtungen und ihrer Mitarbeiter(innen) aber auch nicht darin bestehen, den Suizid von Bewohner(inne)n zu organisieren oder gar durchzuführen.
Vor diesem Hintergrund müssen wir offen darüber diskutieren, was es bedeutet, wenn ein Arzt, eine Organisation oder eine andere Person Suizidbeihilfe in einer kirchlich-caritativen Einrichtung leisten will. Kann dies verweigert werden? Was bedeutet dies für Bewohner(innen)? Welche Auswirkungen könnte dies auf das Zusammenleben haben? Könnte sich der Druck auf andere erhöhen, Suizidbeihilfe selbst als vermeintliche Lösung in Anspruch zu nehmen? Wie können Angehörige unterstützt werden? Und was bedeutet es für Mitarbeitende und ihre Beziehung zu den Bewohner(inne)n? Denn bei all diesen Diskussionen darf auch der Schutz von Mitarbeitenden und den Bewohner(inne)n nicht aus dem Blick geraten, die mit ihren Vorstellungen, Werten, Wünschen und Befürchtungen das Zusammenleben in den Einrichtungen prägen.
Eigene Perspektiven in die Debatten einbringen
Viele dieser Fragen, die sich gerade in Einrichtungen und Diensten der Caritas unter spezifischen Bedingungen stellen, werden auch in das anstehende Gesetzgebungsverfahren und die damit zusammenhängenden Debatten einfließen müssen. Die Frage, wie die Freiverantwortlichkeit und Dauerhaftigkeit des Wunsches überprüft werden können, oder wie der Unterschied zur aktiven Sterbehilfe, wie sie in den Niederlanden oder Belgien geregelt ist, auch weiterhin bestehen bleibt, sind dabei nur zwei Herausforderungen. Zudem wird die Grenze zwischen assistiertem Suizid und dem Töten auf Verlangen fließend, wenn der Suizidwunsch von jemandem geäußert wird, der dazu körperlich nicht mehr in der Lage ist.
Die Argumentationsweise des Urteils lässt befürchten, dass eine umfassende Würdigung der Lebenslagen und -bedingungen vieler Menschen, wie sie uns beispielsweise in der Pflege, der Suchtberatung, der Sozialpsychiatrie, der Behinderten- und auch der Jugendhilfe begegnen, nicht in dem Maße einfließen werden, wie es notwendig wäre. Gerade diese Menschen brauchen dringend akzeptierende Begleitung und müssen um Hilfsangebote und Alternativen wissen. Es obliegt unserer gesellschaftlichen Fürsorgepflicht, zugrundeliegende Erkrankungen angesichts eines Suizidwunsches zu behandeln und sie nicht zu ignorieren.
Menschen stärken und Suizidprävention ausbauen
Eine politische Debatte wäre aber zu wenig. Es braucht auch eine gesellschaftliche Diskussion, in der die unterschiedlichen Positionen eingebracht, aber auch Uneindeutigkeiten beim Namen genannt werden. Denn die gesetzliche Regelung eines assistierten Suizids darf unter keinen Umständen dazu führen, dass sich Menschen unter Druck gesetzt fühlen, den Suizid als Option wählen zu müssen. Ganz im Gegenteil: Es gilt Menschen zu stärken und mit ihnen nach Lösungen zu suchen, die den möglichen Wunsch nach Suizid überwinden helfen oder zumindest in den Hintergrund treten lassen.
In diesem Sinne wird es entscheidend sein, dass die bestehenden Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung weiter ausgebaut und als Alternativen am Lebensende bekannt und zugänglich gemacht werden. Damit verbunden wird es ein Auftrag für die verbandliche Caritas sein, Fortbildungsangebote für Mitarbeitende der unterschiedlichen Fachbereiche zu entwickeln, damit diese darin befähigt werden, Menschen bei Suizidwünschen adäquat begleiten zu können. Genauso wichtig ist es, die Angebote der Suizidprävention zu stärken und neue zu schaffen. Dies ist gerade da entscheidend, wo es um latente Suizidalität geht. Hier können niederschwellige präventive Angebote eine wichtige Rolle spielen, wie die Online-Suizid Prävention [U25] zeigt, die sich speziell an junge Menschen richtet. Eine Stärkung der Suizidprävention wird aber nur mit politischer Unterstützung möglich sein. Auch dies muss in den kommenden Monaten deutlich benannt und eingefordert werden.
Anmerkungen
1. Ford, R.: Irische Passagiere. Erzählungen. Berlin 2020, S. 110.
2. Ebd., S. 120.
3. Bundesverfassungsgericht, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 http://www.bverfg.de/e/rs20200226_2bvr234715.html
Höhere Hartz-IV-Regelsätze
Dem Leben zugewandt
Dem Leben eine Chance geben
Zukunft beginnt, wo Beziehung wächst
Das BTHG und die Ambulantisierung des Stationären
„So schlimm ist katholisch gar nicht
Immobilien: Krisen früh abfangen
Pensionskasse der Caritas VVaG
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}