Das BTHG und die Ambulantisierung des Stationären
Auch vier Jahre nach Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) ist nicht in allen Punkten klar, was in der praktischen Umsetzung konkret zu tun ist. Noch immer gibt es nicht in allen Bundesländern Landesrahmenverträge, und dort, wo es sie gibt, handelt es sich teilweise noch um Entwürfe oder es fehlen entscheidende Anlagen. Häufig wurden Übergangsfristen vereinbart, um Zeit zu gewinnen, die Rahmenbedingungen zu definieren und zu verhandeln. Die ersten Übergangsregelungen laufen jedoch bereits Ende 2021 wieder aus.
Immerhin lässt sich mit Blick auf die Leitprinzipien des BTHG und auf die Landesrahmenverträge in einigen größeren Bundesländern1 inzwischen weitgehend absehen, welche Veränderungen in den besonderen Wohnformen für Menschen mit Behinderung kommen werden. Die Abkopplung der Wohn- und Grundleistungen (wie zum Beispiel Verpflegung) von der Fachleistung wurde in vielen Bundesländern bereits vollzogen. Doch dies ist nur der Anfang der Veränderung. Den besonderen Wohnformen steht der größte Umbruch noch bevor: die zumindest teilweise "Ambulantisierung des Stationären".
Konkret bedeutet dies, dass die Betreuungsleistungen zukünftig deutlich stärker aufgesplittet werden. Je nach Bundesland wird es ein Grund- oder Basismodul2 als Tagespauschale geben, mit dem die notwendige Mindestpersonalpräsenz zur ganztägigen Grundbetreuung der Klienten sowie die Sachkosten und die Gemeinkosten für Leitung und Verwaltung sichergestellt werden. Daneben wird es verschiedene individuell bemessene Assistenz- oder Fachleistungsmodule geben, über die bedarfsabhängige und personenzentrierte Einzelleistungen abgebildet werden. Diese Leistungen müssen aus dem bisherigen Setting der vollumfänglichen Leistungserbringung herausgelöst und separat betrachtet werden. Zusammengefasst bedeutet dies: Die Leistungserbringung und Finanzierung der besonderen Wohnformen erfolgen zukünftig über zwei Stränge: personenbezogene Fachleistungsstunden und Tagespauschalen.
Die genaue Umsetzung sowie die einzelnen Folgen dieses Paradigmenwechsels sind noch nicht gänzlich absehbar, aber es lassen sich bereits einige Implikationen ableiten:
Ein neues Steuerungsmodell soll eingeführt werden
Durch das Herauslösen der Assistenz-/Fachleistungsmodule vollzieht sich der Übergang zu einem hybriden ambulant-stationären Setting. Der ambulante Teil wird voraussichtlich in Anlehnung an eine Fachleistungsstundensystematik refinanziert und muss daher eher wie das Ambulant Betreute Wohnen (ABW oder BeWo) gesteuert werden. Hier gelten folgende zentrale Erfolgsmerkmale:
- Genau wie im BeWo muss für die Mitarbeitenden also zunächst eine Ziel-Mindestauslastung an Fachleistungsstunden ermittelt und vorgegeben werden.
- Die zuständige Führungskraft muss dann dafür Sorge tragen, dass ausreichend Klient(inn)en und zu leistende Stunden vorhanden sind.
- Die konkrete Einsatzsteuerung obliegt den Mitarbeitenden selbst, beziehungsweise erfolgt in Abhängigkeit der Nachfrage nach Assistenzleistungen durch die Leistungsberechtigten und unter Beachtung der Vorgaben. Ziel: eine möglichst hohe Budgetausschöpfung.
Wird diese Modularisierung tatsächlich konsequent umgesetzt, werden Leistungserbringung und Personalsteuerung von den bisherigen einrichtungsbezogenen Abläufen mehr oder weniger entkoppelt. Es findet also echte Personen- statt Institutionenorientierung statt!
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich das zukünftige Zusammenspiel zwischen den Mitarbeitenden in den beiden Modulgruppen gestaltet, denn im Grund-/Basismodul wird es vermutlich zu einer deutlichen Ausdünnung der Personaldecke kommen. Dies hat wiederum Konsequenzen für die Dienstabdeckung, den Informationsaustausch und das Ausfallmanagement, so dass hier in der Praxis ein Personalaustausch zwischen den Modulen zu erwarten ist.
Die IT-Unterstützung muss optimiert werden
Eine solch modularisierte, in Teilen aber auch weiterhin kombinierte Leistungserbringung lässt sich nur mit geeigneter IT-Unterstützung zielführend steuern. Denn anders als im bisherigen über Tagespauschalen finanzierten System wird nur dann Geld verdient, wenn auch Leistungen erbracht werden. Dafür bedarf es eines integrierten Systems aus Leistungsplanung, Dienstplanung, Dokumentation und Abrechnung sowie - und das ist neu! - einer Touren-/Einsatzplanung je Mitarbeitenden und Klienten für die ambulanten Leistungen.
Ein laufendes und funktionsfähiges Steuerungssystem kann daraus jedoch nur entstehen, wenn neben der technischen Integration durch Schnittstellen auch die steuerungsrelevanten Daten vorhanden sowie valide und zeitnah verfügbar sind. Dies gilt insbesondere für die erbrachten Leistungen sowie die Anwesenheitszeiten der Mitarbeitenden. Nur so können die relevanten Produktivitätskennzahlen mit vertretbarem Aufwand berechnet und von der zuständigen Führungskraft (idealerweise mindestens wöchentlich) überprüft werden, um dann gegebenenfalls Steuerungsmaßnahmen einzuleiten. Gleichzeitig kommt genau wie im BeWo der Selbststeuerung der Mitarbeitenden eine entscheidende Bedeutung zu. Nur sie können entscheiden, wie mit kurzfristigen Absagen umzugehen ist und wie unproduktive Zeiten möglichst produktiv genutzt werden können usw.
Der Change-Management-Prozess muss begleitet werden
Auch wenn die Modularisierung noch nicht unmittelbar umgesetzt werden muss, sind die Leistungserbringer gut beraten, schon heute vorbereitende Schritte einzuleiten:
Es muss für alle Beteiligten spürbar werden und sich ein konkretes Bild ergeben, was Personenzentrierung heißt. Insbesondere bei Fachkräften sollte es so gut wie nicht mehr vorkommen, dass diese ohne Klient(inn)en arbeiten. Es ist dabei eine wichtige Führungsaufgabe, die Mitarbeitenden sprichwörtlich in die "neue Welt" mitzunehmen. Jahrelange Institutionenorientierung verschwindet nicht einfach aus den Köpfen, denn die alte Welt war nicht schlecht, sondern anders.
Der notwendige Kultur- und Verhaltenswandel lassen sich aber nur bedingt "nebenbei" erreichen. Daher empfiehlt es sich, zur Begleitung des Wandels einen eigenen Change-Management-Prozess zu initiieren, der eine eigene "Change-Kommunikation" und Angebote zur Personalentwicklung etc. umfasst.
Das BTHG führt überall zu Veränderungen
Im Rahmen des Change-Management-Prozesses müssen die Mitarbeitenden verstehen, was sich in der täglichen Arbeit ändert, wo die Gründe für diese Veränderung liegen und welche Chancen diese auch bietet. Das BTHG führt in allen Bereichen eines sozialen Dienstleisters zu Veränderungen - bei der inhaltlichen Ausrichtung, bei Arbeitsabläufen und Verwaltungsprozessen, aber auch bei der Steuerung und der richtigen Kennzahlensystematik. Diese gilt es anzugehen.
Anmerkungen
1. Zum Beispiel Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.
2. NRW Fachmodul Wohnen. https://www.lwl.org/spur-download/rahmenvertrag/0-2_LRV_SGB_IX_Gesamttext.pdf
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