Spielerisch Motivation erzeugen
Spiele bilden als Modell die große Welt im Kleinen ab. In Spielen finden sich oft dieselben Zwänge und Konflikte, die den Menschen auch im echten Leben Kopfzerbrechen bereiten. Wer sich vor dem Coronavirus an der Seuchenbekämpfung versuchen wollte, konnte beispielsweise in einem Spiel "Pandemie" gegen die Dynamik einer weltweiten Virusinfektion ankämpfen.1 Natürlich wird niemand nach einer geselligen Abendrunde "Pandemie" am nächsten Morgen die Welt retten können. Stattdessen ist aus Spielen etwas anderes, viel Grundsätzlicheres zu lernen: wie man Menschen motiviert. Denn Spiele sind starre Regelsysteme, die ebenso wie die Anweisungen und Vorschriften unseres echten Lebens mit Geboten und Verboten nur so gespickt sind. Das Verblüffende ist, dass diese Regeln Spaß machen und unser Handeln trotzdem zielgerichtet motivieren. Im Gegensatz dazu erleben wir die Regeln, die unseren Alltag und unseren Beruf prägen, oft als einschränkend und demotivierend.
Motivation wird übertragen
Dass man die motivationale Kraft, die in vielen Spielen steckt, auch in spielfremden Kontexten gut gebrauchen könnte, ist eine Erkenntnis, die vor allem seit dem Jahr 2010 mit dem Begriff "Gamification" (englisch: "game" für "Spiel") verbunden ist. Damit ist der Einsatz von spieltypischen Elementen in spielfremden Kontexten gemeint.2 Einige Elemente werden in der Literatur sehr häufig genannt und haben das Verständnis von "Gamification" geprägt: Punkte, Abzeichen, Bestenlisten, Leistungsgraphen, Narrativ und Avatar.3 Arbeitgeber verfolgen damit beispielsweise das Ziel, Mitarbeiter(inne)n spieltypische Erfahrungen zu ermöglichen, um sie so zur Erledigung monotoner oder unliebsamer Aufgaben zu motivieren. Gleichwohl zeigt sich nach mittlerweile zehn Jahren "Gamification"-Forschung, dass der Übertrag von Spielelementen in einen spielfremden Kontext alles andere als einfach ist. Viele Versprechungen, mit denen das Thema "Gamification" zu Beginn der 2010er-Jahre aufgeladen wurde, haben sich in der Praxis nicht immer erfüllt.4
Eine auf Wettbewerb ausgerichtete "Gamification"- Lösung läuft beispielweise Gefahr, zu einem motivationalen Nullsummenspiel zu werden, indem die Motivation der einen durch die Demotivation der anderen erkauft wird.5 Und selbst dann, wenn es gelingt, die Mehrzahl der Mitarbeiter(innen) mit spielerischen Mitteln zu motivieren, ist der motivationale Effekt oft nicht nachhaltig.6 Allerdings stellt sich angesichts des hohen Anteils von 43 Prozent der Deutschen, die regelmäßig ihre Freizeit mit Computerspielen verbringen7 , nicht mehr prinzipiell die Frage, ob Spiele die Menschen motivieren. Die Frage ist nur: Wie und womit gelingt ihnen dies?
An dem "Wie" wird geforscht
Diese Frage bildet den Ausgangspunkt für das Forschungsprojekt "Empamos" (Empirische Analyse motivierender Spielelemente), das die Technische Hochschule Nürnberg seit Ende 2016 gemeinsam mit dem Deutschen Spielearchiv umsetzt.8 Das Deutsche Spielearchiv verfügt mit aktuell mehr als 30.000 Brettund Gesellschaftsspielen über die weltweit größte Sammlung dieser Art. Ziel des Projekts ist es, herauszufinden, welche Elemente die Spielentwickler in ihren Spielen wie kombinieren, um daraus menschliches Handeln und soziale Interaktion zu motivieren.
In der ersten Projektphase wurden zunächst tatsächlich viele Spiele gespielt. Um herauszufinden, welches motivationale Problem ein spieltypisches Element löst, untersuchte die TH Nürnberg, wie sich das motivationale Gefüge eines Spiels verändert, wenn man das Element aus dem Spiel entfernt. Denn erst durch das gedankliche Entfernen einzelner Elemente zeigt sich, welches fragile System dafür sorgt, dass ein Spiel Spaß macht und motiviert. Mit Rückgriff auf die Motivationspsychologie, insbesondere auf die Selbstbestimmungstheorie nach Deci und Ryan9 , lässt sich die motivationale Wirkung der Spielelemente in vier Kategorien einteilen.10 Richtig eingesetzt, fördern die Elemente das Erleben von
- Autonomie: Wir fühlen uns bei unserer Tätigkeit als selbst- und nicht fremdbestimmt.
- sozialer Eingebundenheit: Wir fühlen uns von anderen akzeptiert und anerkannt.
- Kompetenz: Wir erleben uns als fähig, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.
- Bedeutung: Wir betrachten unser Tun als sinnvoll, da wir damit ein wichtiges Ziel verfolgen.
In der ersten Projektphase wurden viele Spiele gespielt
Würde man zum Beispiel ein Mensch-ärgere-Dichnicht-Spiel ohne Würfel spielen, wäre der Zufall eliminiert. Ohne Zufall verlöre das Spiel aber jeglichen Reiz, da der Spielverlauf für die Spieler(innen) zu vorhersehbar und das Spiel zu einfach werden würde. Aber gerade weil wir in Spielen das Unvorhersehbare meistern, ermöglichen sie uns das Erleben von Kompetenz. Dies setzt wiederum autonome Entscheidungen voraus. Hätte jede(r) Spieler(in) nur einen statt vier Spielsteine, würde es an der wichtigen Wahlmöglichkeit fehlen, mit welchem Stein die Teilnehmer(innen) ziehen. Sie würden sich zu stark eingeengt und vollständig dem Faktor Zufall ausgeliefert fühlen. Auf diese Weise stützen sich die Spielelemente des Zufalls und der Auswahl aus vier Spielsteinen gegenseitig, ebenso wie sich die tragenden Elemente eines Hauses wechselseitig stützen.
Gamification" und soziale Beratung
In den Feldern der sozialen Arbeit ist die spielerische Gestaltung von Inhalten kein Neuland. Insbesondere aus dem Bereich der Suchtkrankenhilfe liegen mit Methoden wie dem "Motivational Interviewing" (MI)11 bereits Ansätze vor, die motivationale Probleme in den Blick nehmen. Dabei wird deutlich, dass Kernaspekte dieses Ansatzes, wie die Anerkennung der Autonomie der Klient(inn)en und die Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung sowohl im MI als auch in der Motivationstheorie von Deci und Ryan12 eine wichtige Rolle spielen. Auch in der Beratungswissenschaft ist die Erzeugung von Motivation als ein entscheidender Wirkfaktor professioneller Beratung empirisch belegt.13
Individuelles Verhalten wird berücksichtigt
Angesichts der großen individuellen Unterschiede bei der Wirksamkeit von "Gamification" erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass eines Tages eine fertige Lösung für die typischen Problemstellungen der sozialen Arbeit existieren wird. Zwar gibt es bereits heute für die verschiedensten Herausforderungen "gamifizierte" Apps (zum Beispiel zur Raucherentwöhnung oder zur Reduktion des Alkohol- und Drogenkonsums), doch allen ist gemein, dass sie nicht "der Stein der Weisen" sind. An diesem Punkt ist die Kompetenz der Sozialarbeiter(innen) gefragt. In der Beratung lernen sie die Probleme der Ratsuchenden und die bestehende motivationale Struktur ihres Verhaltens kennen. Wenn dieses fachliche Wissen nun mit dem feinkörnigen Wissen um einzelne Spielelemente verknüpft wird, besteht die Möglichkeit, dass zielgenau der relevanteste Motivationsaspekt angesprochen wird. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die beratende Person ein ideales Spiel für jeden Ratsuchenden entwickelt, sondern als Vermittler(in) und Lotse oder Lotsin die Möglichkeiten der "Gamifizierung" erschließt.
Am Beispiel der Reduktion des Substanzkonsums kann das gut verdeutlicht werden. Häufig fehlt die Motivation, den bestehenden Konsum zu verringern. Je nach Einzelfall kann dieser Motivationsmangel mit unterschiedlichen Elementen zusammenhängen. Ist vor allem die Selbstwirksamkeit relevant, können Apps, die als Konsumtagebuch den täglichen Konsum visualisieren und dessen Reduktion optisch positiv hervorheben, sehr hilfreich sein. Sollte die soziale Eingebundenheit größere Relevanz haben, können Apps, in denen man die eigenen Fortschritte mit anderen teilen kann, die Ratsuchenden besser unterstützen.
Wirksame Lösungen müssen nicht kompliziert sein
Dass spielerische "Gamification"-Lösungen auch spontan und ungeplant entstehen können, zeigt ein Beispiel aus der Corona-Pandemie. Eltern klagten darüber, dass sie ihren Kleinkindern die Bedeutung der Handhygiene nicht verdeutlichen konnten. Im spielfremden Kontext der Pandemie gaben sich Eltern auf Twitter folgenden Rat: "Der Vierjährige kriegt jetzt jeden Morgen einen Virus auf die Hand gemalt und wenn er tagsüber oft genug seine Hände gewaschen hat, verschwindet er wieder. Seitdem ist Händewaschen kein Problem mehr"14 (s. Abb.1).
Dass diese spielerische Lösung funktioniert, verwundert nicht, bedient sie sich interessanterweise desselben Spiel-Element-Moleküls aus "Loswerden", einem "Zeitlimit" und einer "Siegbedingung", wie sie im Rahmen des "Empamos"-Projekts in vielen Kinderspielen gefunden wurde. Das zentrale Element dieser Lösung, Loswerden, ist zu definieren als "ein Spielziel, das darin besteht, eine zu Spielbeginn oder während des Spiels erhaltene Menge an Objekten bis zum Spiel-, Runden-, Zug- oder Phasenende möglichst schnell oder komplett loszuwerden".15 Abbildung 1 zeigt diese Teilstruktur am Beispiel des Spiels Kuck Ruck Zuck!16, in dem die Kinder ihre Karten mit Suchaufgaben so rasch wie möglich erfüllen und loswerden müssen, um das Spiel zu gewinnen.
Dieses Beispiel zeigt, dass selbst Kombinationen aus wenigen Elementen eine motivationale Wirkung entfalten können und es nicht erforderlich ist, komplexe Spielsysteme auf den spielfremden Kontext zu übertragen. Ziel des Projekts "Empamos" ist es daher, die Vielzahl und Vielfalt motivierender Elementverbindungen sichtbar und für die soziale Beratung verfügbar zu machen. Daher werden die Spielanleitungen des Deutschen Spielearchivs digital so aufbereitet, dass "Machine-Learning"-Algorithmen die über 30.000 Spiele des Deutschen Spielearchivs nach neuen Mustern und den interessantesten Verbindungen durchsuchen können. Bislang wurden 104 Spielelemente gefunden und über 1800 Verbindungen dokumentiert. Daraus ergibt sich ein großer und noch weitgehend unerforschter Möglichkeitenraum, um für spezifische Problemstellungen passgenaue "Gamification"-Lösungen zu entwickeln. Das Bild auf S. 27 zeigt ein Kartenset, mit dem Teilnehmer(innen) eines Workshops diesen Raum spielerisch erforschen und damit ihre "Gamification"-Lösungen Schritt für Schritt selbst erarbeiten können.
Damit wird deutlich, dass in der Praxis der sozialen Arbeit das Wissen um die motivationalen Eigenschaften von Spielen mit dem Fachwissen zu den inhaltlichen Problemen der Menschen verknüpft werden muss. Weiterhin ist es sinnvoll, mit diesem Wissen bestehende Angebote zu analysieren, um diese dann den Ratsuchenden zu empfehlen. Aktuell arbeiten wir daran, Instrumente zu entwickeln, die Fachkräften schnell ein vertieftes Verständnis ermöglichen und sie so zum unkomplizierten Einbau solcher Elemente in der Praxis befähigen.
Anmerkungen
1. Leacock, M.: Pandemie. Quebéc: Z-Man Games, 2012.
2. Deterding, S.; Dixon, D.; Khaled, R.; Nacke, L.: From game design elements to gamefulness: defining gamification. Proceedings of the 15th international academic MindTrek conference: Envisioning future media environments. 2011, S. 9-15 (siehe Kurzlink: https://bit.ly/336tsNc)
3. Fleisch, H.: Gamification4Good. Gemeinwohl spielerisch stärken. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2018, S. 32-35. 4. Bogost, I.: Why Gamification is bullshit. In: Walz, S.P.; Deterding, S.: The Gameful World. Approaches, Issues, Applications. Cambridge: MIT Press, 2015, S. 69. 5. Werbach, K.; Hunter, D.: For the win: How game thinking can revolutionize your business. Philadelphia: Wharton Digital Press, 2012, S. 76.
6. Nicholson, S.: A Recipe for Meaningful Gamification. In: Reiners, T.; Wood, L.C.: Gamification in Education and Business. Cham: Springer, 2015, S. 3.
7. May, O.: Die Gaming-Trends 2019. Bitkom Präsidium, 2019 (siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/3jGQksh, S. 2).
8. Empamos: Empirische Analyse motivierender Spielelemente. Wiki des Forschungsprojekts der TH Nürnberg in Kooperation mit dem Deutschen Spielearchiv Nürnberg, 2020 (https://empamos.in.th-nuernberg.de).
9. Deci, E. L.; Ryan, M. R.: Intrinsic Motivation and Self-Determination in Human Behaviour. New York: Plenum Press, 1985.
10. Sailer, M.: Die Wirkung von Gamification auf Motivation und Leistung. Dissertation. Wiesbaden: Springer, 2017, S. 113-125.
11. Miller, W. R.; Rollnick, S.: Motivierende Gesprächsführung: Motivational Interviewing: 3. Auflage des Standardwerks in Deutsch (4. vollst. Übersetzung der 3. amerik. Auflage). Freiburg im Breisgau: Lambertus, 2015.
12. Deci, E. L.; Ryan, M. R., a. a.O.
13. Wälte, D.; Borg-Laufs, M. (Hrsg.): Psychosoziale Beratung. Grundlagen, Diagnostik, Intervention (Grundwissen Soziale Arbeit, Band 24, 1. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer Verlag, 2018.
14. Marco: Twitter-Post des Users @mta1209 vom 13. März 2020 (Kurzlink: https://bit.ly/3g9fNIz).
15. Empamos, a. a.O. 16. Fraga, R.: Kuck Ruck Zuck!. Bad Rodach: Haba-Spiele, 2012.
Weiterhin zu wenig Pflegekräfte
Katastrophenprävention braucht Weitblick
Ein Konzept, das viel verspricht und wenig hält
Die Entwicklung der Online-Beratung
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}