Ein Konzept, das viel verspricht und wenig hält
Erstmals tauchte in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene im Frühjahr 2018 ein Begriff auf, der die flüchtlingspolitischen Diskussionen in der Folge prägen sollte: "AnkER"-Einrichtungen. AnkER steht für Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung beziehungsweise Rückführung.
Für die Befürworter versprachen AnkEREinrichtungen eine umgehende Identitätsklärung, schnelle Asylverfahren sowie eine erleichterte Rückführung von Personen ohne Schutzanspruch, da Bewohner(innen) ohne Bleibeperspektive in den Einrichtungen verbleiben und direkt von dort rückgeführt werden sollten.
Für die Kritiker stand das "System AnkER" hingegen von Anfang an für Exklusion und die Schaffung der Integrationsprobleme von morgen: Längere Zeiträume ohne echte Teilhabemöglichkeiten seien für Bildung, Spracherwerb und Arbeitsaufnahme verlorene Zeit, gerade weil viele Personen nicht - oder erst nach langer Zeit - in ihr Herkunftsland zurückkehren. Auch auf oftmals problematische Lebensbedingungen in großen Flüchtlingsunterkünften wurde hingewiesen.
Was aber verbirgt sich hinter dem Konzept "AnkER" und wie sind die Einrichtungen zu bewerten? Zwei Jahre sind die ersten Einrichtungen inzwischen in Betrieb - höchste Zeit für eine Bilanz.1 Die Caritas stützt sich dabei auf Erfahrungen in vielen Einrichtungen, in denen sie die Bewohner(innen) berät und unterstützt. Eine Evaluation ist auch von der Bundesregierung angekündigt, wurde aber bis zur Fertigstellung dieses Artikels nicht öffentlich.
Was macht AnkEREinrichtungen aus?
Bei AnkER-Einrichtungen handelt es sich um Aufnahmeeinrichtungen nach § 44 Asylgesetz (AsylG).2 Das Gesetz nimmt keine weitere Differenzierung vor. Rechtlich unterscheiden sich AnkER-Einrichtungen damit nicht von sonstigen Aufnahmeeinrichtungen.
Grundsätzlich liegen Unterbringung und Versorgung von Schutzsuchenden im Kompetenzbereich der Bundesländer. Für die AnkER-Einrichtungen haben der Bund und die entsprechenden Bundesländer Verwaltungsvereinbarungen geschlossen. Als Besonderheit wird das vernetzte Arbeiten von Bundes- und Landesbehörden in AnkER-Einrichtungen benannt, das allerdings mit wenigen Ausnahmen auch in den sonstigen Aufnahmeeinrichtungen alltäglich ist. Weiterhin wird die Verfahrensbeschleunigung angeführt. Vieles am Konzept der AnkER-Einrichtungen ist jedoch nicht neu, sondern schließt nahtlos an die Neuausrichtung der Flüchtlingsaufnahme in den Jahren nach 2015 mit verlängerten Wohnverpflichtungen in Aufnahmeeinrichtungen und der Differenzierung nach Bleibeperspektive an.
Wo gibt es AnkEREinrichtungen?
Zum 1. August 2018 wurden sieben bayerische Aufnahmeeinrichtungen zu AnkEREinrichtungen umfunktioniert: Bamberg, Deggendorf, Donauwörth3, Manching, Regensburg, Schweinfurt und Zirndorf. Teilweise sind mehrere Dependancen zu einer Einrichtung zusammengeschlossen. Im selben Monat folgte Sachsen mit Dresden und einen Monat später das Saarland mit Lebach. Seither wurden keine weiteren AnkEREinrichtungen eröffnet, so dass die von Bundesinnenminister Seehofer ursprünglich avisierte Zahl von 40 Einrichtungen deutlich verfehlt wurde. Allerdings gibt es seit 2019 sogenannte "funktionsgleiche Einrichtungen" in Mecklenburg-Vorpommern (Nostorf-Horst), Schleswig-Holstein (Neumünster), Sachsen (Chemnitz und Leipzig) sowie Brandenburg (Eisenhüttenstadt). Diese firmieren nicht unter "AnkER-Einrichtung", allerdings wurden auch für die funktionsgleichen Einrichtungen Verwaltungsvereinbarungen geschlossen.4
Wie hat sich die Dauer der Asylverfahren entwickelt?
Maßgebliches Ziel der AnkER-Einrichtungen war eine Beschleunigung der Asylverfahren. Im August 2019 verkündete Bundesinnenminister Seehofer, dass die Gesamtdauer der Asylverfahren in AnkER-Einrichtungen durchschnittlich bei 1,9 Monaten liege - in sonstigen Einrichtungen liege die Durchschnittsdauer bei 3,1 Monaten.5 Für das Gesamtjahr lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch keine abschließenden Zahlen vor. Verglichen mit dem Jahr 2017, als die durchschnittliche Bearbeitungszeit bei 10,7 Monaten lag, scheinbar ein großer Fortschritt.
Allerdings sind diese Zahlen nur die halbe Wahrheit: Die extreme Beschleunigung der Verfahren gerade in den AnkER-Zentren führt oft dazu, dass Asylsuchende das Verfahren nicht ausreichend verstehen und keine Vorbereitung auf die wichtige Anhörung in Anspruch nehmen können, weil sie beispielsweise keine Beratungsstelle der Wohlfahrtsverbände aufsuchen können. Wenn aber Personen daraufhin ihre Verfolgungsgeschichte unzureichend wiedergeben, folgen häufig die Ablehnung und ein gerichtliches Verfahren. Die Verfahrensdauer bis zur rechtskräftigen Entscheidung lag 2019 durchschnittlich bei 21,3 Monaten. Die Beschleunigung der ersten Verfahrensschritte in der AnkER-Einrichtung beziehungsweise Aufnahmeeinrichtung führt in einer Gesamtbetrachtung also nicht zwingend zu schnellen Verfahren. Stattdessen kommt es zu einer Verlagerung auf die Verwaltungsgerichte. Längere Zeitfenster für eine unabhängige Verfahrensberatung würden hingegen zu einer effektiven Beschleunigung führen.
Wie sind die Lebensbedingungen in AnkER-Einrichtungen?
Eine klare Antwort ist nicht möglich - zu groß sind die Unterschiede zwischen den Unterkünften und mitunter sogar einzelnen Dependancen. Einheitliche Standards fehlen: Alter und baulicher Zustand sowie Lage und Anbindung an die Kommune unterscheiden sich deutlich. So liegen einige Unterkünfte fernab der nächsten Stadt oder sind beispielsweise für ehrenamtliche Helfer(innen) teilweise nur unter Auflagen zugänglich. Im Gegensatz dazu unterhält die Caritas in Lebach eine Kindertagesstätte und einen Kinderhort in der AnkER-Einrichtung, die paritätisch von Kindern aus der Flüchtlingsunterkunft und aus der angrenzenden Stadt besucht werden (S. auch Interview auf S. 25).
AnkER-Zentren und andere große Aufnahmeeinrichtungen haben jedoch Gemeinsamkeiten, die sich negativ auf das Leben der Bewohner(innen) auswirken:
1. Großunterkünfte, in denen bis zu 1500 Plätze vorgehalten werden, mit Mehrbettzimmern ohne Rückzugsmöglichkeiten und echte Privatsphäre setzen Bewohner(innen) einem permanenten Stress aus.
2. Auch die geballte Perspektivlosigkeit und das regelmäßige Erleben von Abschiebungen oder Polizeirazzien wirken sich auf die Psyche der Bewohner(innen), insbesondere auch von Kindern, aus. 3. Leistungen werden grundsätzlich als Sachleistungen erbracht. Essen kann etwa nicht selbst zubereitet werden und die Selbstbestimmung ist massiv eingeschränkt.
4. Wer verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung oder einem AnkER-Zentrum zu leben, darf zunächst keine Arbeit aufnehmen. Auch eine Schulpflicht für Kinder und Jugendliche kommt regelmäßig nicht zum Tragen.
5. Besondere Bedarfe vulnerabler Personengruppen (zum Beispiel Kinder, Schwangere, kranke Menschen) für die Unterbringung werden nach wie vor nicht systematisch und flächendeckend identifiziert und berücksichtigt.
6. Durch traumatische Erlebnisse, die Situation in den Unterkünften, aber auch die komplexe Rechtsmaterie benötigen die Bewohner(innen) vielfach eine intensive Begleitung und Beratung. Die Caritas und andere Verbände sind in Unterkünften mit Angeboten vertreten und unterstützen die Bewohner(innen) mit großem Engagement - aber aufgrund begrenzter Fördermittel häufig geringen Kapazitäten.
Wie fällt die Bilanz aus?
Effektive und schnelle Verfahren sind ein legitimes Ziel, von dem grundsätzlich auch Schutzsuchende profitieren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass derzeit weniger eine Beschleunigung, sondern eine Verlagerung auf das gerichtliche Verfahren stattfindet. Bei einer Evaluation der AnkER-Zentren müssen zudem neben der Verfahrensdauer aus Sicht der Caritas zwingend die Lebensbedingungen in den Unterkünften in den Blick genommen werden. Mindeststandards müssen gewährleistet und den Bewohner(inne)n Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden.6 Nachdem der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, im Januar 2019 die AnkER-Einrichtung in Manching besucht hatte, forderte er unter anderem eine Verkürzung der Aufenthaltsdauer, eine Verbesserung der Kinderbetreuung und Zugang zu Schulen sowie zum Arbeitsmarkt.7All diese Forderungen bestehen fort und richten sich nicht nur an AnkER-Einrichtungen, sondern an alle Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Entscheidend ist nicht das Türschild, sondern es sind die Bedingungen in den Einrichtungen. Und diese sind auch im "Normalbetrieb" jenseits der Corona-Pandemie oftmals verbesserungswürdig.
Anmerkungen
1. Vgl. auch Haaf, S.: Alles andere als ein sicherer AnkER für geflüchtete Menschen. In: Materialheft zur interkulturellen Woche 2019, S. 48-49
2. Zunächst sind Asylsuchende verpflichtet, bis zu 18 Monate (Familien mit minderjährigen Kindern bis sechs Monate) in Aufnahmeeinrichtungen der Bundesländer zu leben. Anschließend werden Asylsuchende kommunal untergebracht - in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften.
3. Die Einrichtung in Donauwörth schloss Ende 2019 wieder.
4. Da kein Unterschied zwischen "AnkER-Einrichtungen" und "funktionsgleichen Einrichtungen" ersichtlich ist, werden letztere im Folgenden unter "AnkER-Einrichtungen" subsumiert.
5. Siehe dazu Kurzlink: https://bit.ly/31vNK0b
6. Vgl. hierzu auch § 44 Abs. 2 a AsylG, wonach geeignete Maßnahmen ergriffen werden müssen, um den Schutz der Bewohner(innen) zu gewährleisten. Mit § 53 Abs. 3 AsylG wird dies auch auf kommunale Gemeinschaftsunterkünfte übertragen. 7. Details unter Kurzlink: https://bit.ly/30oZvpC
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