Zur Zukunft des kirchlichen Arbeitsrechts in Caritas und Diakonie
Zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), denen das Bundesarbeitsgericht (BAG) jeweils gefolgt ist (25. Okober 2018; 8 AZR 501/14 sowie 20. Februar 2019, 2 AZR 746/14), haben für das bestehende kirchliche Arbeitsrecht ungeachtet seiner Anpassungen bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) erhebliche Konsequenzen. Bei den Urteilen ging es zunächst um zwei unterschiedliche Sachverhalte: Im ersten Fall in Sachen "Egenberger" (17. April 2018, C-414/16) wurde darüber verhandelt, ob eine Religionszugehörigkeit für eine berufliche Aufgabe im Feld von Caritas oder Diakonie als Einstellungsvoraussetzung erforderlich ist. Im zweiten Fall in Sachen "Chefarzt" (11. September 2018, C-68/17) ging es um sogenannte Loyalitätsobliegenheiten insbesondere der persönlichen Lebensführung im Sinne des katholischen Selbstverständnisses an katholische Beschäftigte. Diese werden an nichtkatholische Beschäftigte nicht gestellt und somit benachteiligt dies katholische Mitarbeitende. In beiden Fällen rekurrieren weder EuGH noch BAG auf die Begriffe Dienstgemeinschaft oder Verkündigungsnähe, die sonst in solchen Kontexten mit unterschiedlich guten Gründen angeführt werden. Vielmehr ziehen der EuGH und das BAG eine Passage der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie heran, welche Bedingungen formuliert, unter denen sowohl Religionszugehörigkeit als auch spezielle Loyalitätspflichten eingefordert werden dürfen: wenn diese nämlich "eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung angesichts des Ethos der Organisation"1 darstellen. Wenn diese Anforderung nicht erfüllt sei, handle es sich um eine illegitime und damit rechtswidrige Diskriminierung, sei es im Fall Egenberger bei der Bewerbung auf eine Stelle, sei es im Fall des Chefarztes eines katholischen Krankenhauses im Blick auf die Weiterbeschäftigung nach seiner zivilen Wiederheirat nach Scheidung.
Wesentlich - rechtmäßig - objektiv notwendig - verhältnismäßig
Im Folgenden werden viele Fragen ausgeblendet, die sich um diese neueste Rechtsprechung des EuGH und des BAG gegenüber der bisherigen deutschen Rechtsprechung und im Blick auf das deutsche Verhältnis von Kirchen und Staat stellen (können). Es geht vielmehr um die "Begründungsfigur" des EuGH beziehungsweise dessen Anforderungen. Dabei kommt es im Grunde auf jedes Wort und seine Bedeutung (im Kontext) an. Die Aufgabe, die der Caritas wie auch der Diakonie beziehungsweise der DBK und der EKD für ihr kirchliches Arbeitsrecht von EuGH und BAG mit beiden Fällen aufgetragen ist, ist die Klärung, welche Merkmale "eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung angesichts des Ethos der Organisation" an die Beschäftigten darstellen. Sie müssen sogar (wie im Fall Egenberger formuliert) "objektiv notwendig" und "verhältnismäßig" sein. Was bedeutet das?
"Wesentlich" muss eine Anforderung aus Sicht des Ethos der Organisation sein beziehungsweise für dieses Ethos.
Mit "rechtmäßig" kann nur gemeint sein, dass es dem zivilen beziehungsweise staatlichen Recht entspricht - nicht dem Eigenrecht der Kirchen; denn sonst wären die Kirchen einfach nur bestätigt worden. Das Gegenteil ist der Fall. Im Grunde ist hier Rechtsgehorsam der Organisation gegenüber dem zivilen beziehungsweise staatlichen Recht gefordert. Wie weit dies in das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen hineinreicht und dieses radikal beschneidet, wird die Entwicklung erst noch zeigen müssen. Im Fall Egenberger hat die evangelische Seite am 18. März 2019 Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt.
"Gerechtfertigt" bezieht sich wieder auf das Ethos der Organisation - von ihm her muss die Anforderung plausibel begründet werden. Wer beurteilt, ob sie plausibel begründet ist?
Mit der Formulierung "objektiv notwendig" im Fall Egenberger wird das weltliche Gericht als Instanz angeführt, die beurteilt, ob plausibel begründet wurde und ob es sich auch um eine "objektiv notwendige" Anforderung handelt. "Objektiv" ist im Sinne des Wissenschaftstheoretikers Karl Popper zu deuten, also als "intersubjektiv überprüfbar". Das weltliche Gericht (u. a.) muss also seinerseits überprüfen können, ob und dass Anforderungen "notwendig" sind und dass auf sie nicht verzichtet werden kann.
Das Gericht geht noch einen Schritt weiter: Eine Anforderung muss auch noch "verhältnismäßig" sein. Wieder ist zu fragen, wer die Verhältnismäßigkeit beurteilt. Wieder das Gericht? So ist es wohl wieder gemeint. Dann schließt sich die Frage an: Verhältnismäßig aufgrund welcher Maßstäbe? Und da es sich um Ethos-Fragen handelt: Maßstäbe welchen Ethos werden angelegt, um eine Anforderung als "verhältnismäßig" zu akzeptieren? Das Ethos der Organisation - oder des Ethos des Gerichtes? Diese dürften in der Regel nicht identisch sein.
"Nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung"
Auch die Formulierungen "nach der Art der Tätigkeit oder der Umstände der Ausübung" bedürfen einer kurzen Klärung. Wie ist die Art der Tätigkeit im Ethos der Organisation definiert? Das Ethos bestimmt, wie die Art der Tätigkeit im Selbstverständnis der Organisation zu verstehen ist. Oder will das wiederum das Gericht bestimmen?
Was ist für die "Umstände der Ausübung" einer Tätigkeit von Bedeutung? Auch hier können nicht beliebige Aspekte der Umstände gemeint sein, sondern wiederum Umstände, die Bedeutung vom Ethos der Organisation her haben: Welchen Sinn haben zum Beispiel personennahe Dienstleistungen oder anwaltschaftliche Tätigkeiten oder Solidaritätsstiftung oder die professionelle (Aus-, Fort- und Weiter-)Bildung für diese Aufgaben vom Ethos der Organisation in einem sozialen oder sozialstaatlichen Setting her?
Alles läuft auf die Frage hinaus, was mit "Ethos" und "Ethos der Organisation" gemeint ist und was dieses für die Tätigkeiten der Organisation im Feld der (freien) Wohlfahrtspflege bedeutet.
Ethos (der Organisation)
Was bedeutet also der Begriff "Ethos" überhaupt und besonders in unserem Zusammenhang? Das EuGH hat den Begriff selbst nur aus der Antidiskriminierungsrichtlinie zitiert; er ist meines Wissens in der europäischen Rechtsprechung bislang nicht näher bestimmt.
Der Begriff Ethos stammt aus dem Griechischen und kann beschreibend oder normativ gemeint sein. Er enthält damit bereits eine Spannung und Dynamik. Er meint umgangssprachlich sittliche Gesinnung(en), Bräuche und Verhaltensweisen von Einzelnen und Gruppen. Philosophisch bezeichnet er vorgegebene, die Menschen mitprägende Lebensgewohnheiten und das soziale Gefüge moralischer Verhaltensweisen. Ethos ist nicht dasselbe wie Ethik. Ethik ist praktische Philosophie. Sie reflektiert und begründet Ethos und begibt sich dafür auf eine Abstraktionsebene. Ethos hat in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen demgegenüber ähnliche, aber nicht deckungsgleiche Bedeutungen, die dem umgangssprachlichen Sinn nahe sind; das Historische Wörterbuch der Philosophie führt auf:
Kulturanthropologisch: "Gesamtheit der von der Mehrheit einer ethnisch abgrenzbaren Gruppe geglaubten Auffassungen über wesentliche Angelegenheiten."2
Soziologisch: "die von jeweiligen Mehrheiten (in Kleinstgruppen, in Sekten, in Großgesellschaften) als verbindlich gelebten ‚Leitbilder‘, ‚Verhaltensmuster‘, die eine bestimmte, eindeutig festgelegte ‚dogmatische Denkform‘ enthüllen und ein vorhersagbares, geregeltes Zusammenleben mit Vertrauen, Verlässlichkeit, Verstehen gewährleisten."3
"im Deutschen als Fremdwort seit dem späten 19. Jahrhundert gebraucht zur Bezeichnung der bleibenden Gesinnung und Haltung eines Einzelnen oder einer Gemeinschaft, insofern in dieser bestimmte sittliche Akzente gesetzt, bestimmte Werte betont sind. Auch von ‚Ethos der Religion‘, von ‚Ethos des Alten Testaments‘ wird gesprochen."4
Der EuGH meint mit dem Ethos der Organisation jedenfalls nicht das Ethos von Einzelnen. Caritas und Diakonie sind Wohlfahrtsverbände der beiden großen Kirchen in Deutschland und somit religiöser Organisationen. "Ethos" ist ein festes Element der Strukturprinzipien von Religionen, wie religionswissenschaftliche Theorien herausarbeiten. Den amerikanischen Soziologen Charles Y. Glock und Rodney Stark zufolge haben Religionen die folgenden vier Strukturprinzipien:5
- Erfahrung
- Mythos und Lehre
- Ritus und Gemeinschaft
- Ethos und Praxis/Lebensregeln
Die Strukturprinzipien gehören zusammen. Sie lassen sich jedoch unterscheiden und selektiv behandeln. Hier liegt wohl eine wesentliche Spur für das Verständnis des EuGH. Dem Ethos der Religion zu entsprechen hieße nicht, automatisch und in gleicher Weise der Lehre oder den Riten entsprechen zu müssen.
Ethos in freier Wohlfahrtspflege - Caritas und Diakonie
In der Selbstdarstellung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) legen die Wohlfahrtsverbände dar: "Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind geprägt durch unterschiedliche weltanschauliche oder religiöse Motive und Zielvorstellungen. Gemeinsam ist allen, dass sie unmittelbar an die Hilfsbereitschaft und an die Solidarität der Bevölkerung anknüpfen."6
Religiös-weltanschauliche Pluralität und damit Diversität ist somit ein zentrales, gewünschtes Merkmal des Wohlfahrtssystems. Die "religiösen" Motive und Zielvorstellungen in Caritas und Diakonie (zumal im Blick auf Hilfsbereitschaft und Solidarität) sind Teil der gewünschten Pluralität, und zwar als sie selbst, nicht als unkenntlich "angeglichene".
Für das Ethos der Caritas (und im Grunde auch der Diakonie) ist das Ethos der "Agape" (lat. Caritas, dt. Liebe) im Neuen Testament wesentlich, wie es Mk 12,28-34 (parr.) dicht formuliert ist:
"Ein Schriftgelehrter … ging zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. [vgl. Dtn 6,4f.] Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. [vgl. Lev 19,18] Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer. Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes."
Was heißen "Gottesliebe" und "Nächstenliebe" als Herzstück dieses Ethos der Caritas? Dem Bochumer Exegeten Thomas Söding zufolge heißt Gottesliebe: Gott bejahen, ihn bitten, ihm danken; ihm zutrauen, dass er seine Herrschaft vollendet; sich von ihm für diese Herrschaft - für Gottes Reich - in Dienst nehmen lassen (vgl. Lk 11,42; 16,13); und Nächstenliebe heißt darum nicht nur, den Nächsten "zu akzeptieren und ihm Gutes zu tun, sondern ihn als den anzunehmen, als den ihn Gott durch das Nahekommen der Gottesherrschaft bejaht"7. Für das Ethos der Christen ist das Ethos Jesu maßgeblich, wie Söding an anderer Stelle ausführt: Das Ethos "Jesu folgt der Logik des Doppelgebotes, die ihrerseits die Logik der Zehn Gebote fortschreibt. Die Konzentration auf Jesus bildet die Mitte: Die vielen Formen der Gottesliebe kommen nach den Evangelien zur Erfüllung, wenn Gott so geliebt wird, wie Jesus ihn verkündet; und die vielen Formen der Nächstenliebe kommen dann zur Erfüllung, wenn die Menschen so gesehen werden, wie Jesus sie gesehen hat. Die Kehrseite: In jeder Form von Gottesliebe und von Nächstenliebe wird die Nähe des Reiches Gottes verwirklicht. Das spricht Jesus dem Schriftgelehrten zu."8
In diesem Sinne des Ethos Jesu und der Unterscheidung von Ethos und (zum Beispiel) Lehre/Verkündigung unterstrich bereits das II. Vatikanische Konzil, dass es für die caritative Tätigkeit nicht darauf ankommt, Gelegenheit zur Verkündigung des Evangeliums zu sein: "Die caritative Tätigkeit hat aus sich apostolischen Wert, nicht nur als Instrument oder Gelegenheit zur Evangelisierung."9 Caritas ist sozusagen intrinsisch wesentlich für die Sendung der Kirche, sie geschieht um der notleidenden Menschen und in diesem Sinne um ihrer selbst willen.
Für dieses Ethos der Caritas (als Organisation) lassen sich Kriterien für ihre Arbeit für und mit Hilfesuchenden herausarbeiten, aber auch ein Ethos der Organisation im Blick auf die Mitarbeitenden, die Leitenden und die Unternehmenskultur. Dieses Ethos weiter zu operationalisieren und begründungsfähig zu machen auch gegenüber außerkirchlichen Instanzen, wie zum Beispiel weltlichen Gerichten, stellt eine kontinuierliche Aufgabe dar, die der Caritas auch selbst dient, ihre Sendung als ihr Ethos glaubwürdig(er) zu realisieren. Sie kann dafür auf eigene Arbeiten etwa der Kommission Caritasprofil wie auch auf caritaswissenschaftliche Beiträge zurückgreifen und weiterbauen.
Anmerkungen
1. Art. 4 Abs. 2 Richtlinie 2000/78/EG.
2. Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2 (digitale Ausgabe 2007), S. 812.
3. Ebd. S. 813.
4. Ebd. S. 815.
5. Glock, C. Y.; Stark, R.: Religion and Society in Tension. Chicago: Rand McNally, 1965.
6. www.bagfw.de/ueber-uns/freie-wohlfahrtspflege-deutschland (zuletzt überprüft: 20.4.2019).
7. Söding, T.: Art. Liebe/Hass. In: Coenen, L.; Haacker, K. (Hrsg.): Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament. Wuppertal/Neukirchen: R. Brockhaus/Neukirchener Verlag, 2005, S. 1322-1326, S. 1329-1331, hier: S. 1323?f.
8. Söding, T.: Das Hauptgebot in der Verkündigung Jesu. Beobachtungen bei den Synoptikern. In: Augustin, G.; Kramer, K. (Hrsg.): Gott denken und bezeugen. FS Kardinal Walter Kasper, Freiburg: Herder, S. 250-273, hier S. 266.
9. Zit. nach Klostermann, F.: Einleitung und Kommentar zum Dekret über das Apostolat der Laien. In: LThK2 Erg. Bd. II, Freiburg: Herder 1967, S. 587-701, hier: S. 631-633.
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