Die wirtschaftliche Unsicherheit der Menschen wächst
Zunehmende Ungleichheit in Europa: Mythos oder Fakt?" - Das war der Titel einer Veranstaltung des Centers for European Policy Studies in Brüssel, bei der der Deutsche Caritasverband (DCV) vertreten war. Hintergrund ist die gestiegene Aufmerksamkeit, die die Themen "Ungleichheit" oder "Soziales" in Europa erreicht haben, nicht zuletzt durch die zunehmenden Wahlerfolge populistischer und europakritischer Parteien.
Zu den Fakten: Die sind umstritten oder doch zumindest nach Blickwinkel sehr uneinheitlich. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) diagnostiziert eine seit den 1980er-Jahren gestiegene Einkommensungleichheit in den weitaus meisten europäischen Ländern. Überdurchschnittlich hoch ist die Ungleichheit generell in den südeuropäischen Ländern, in Großbritannien und dem Baltikum.1 Eine Studie des in Brüssel ansässigen Think Tanks Bruegel kritisiert die Berechnung der Einkommensungleichheit auf Ebene der EU. In der Studie wird argumentiert, dass die Ungleichheit seit Mitte der 90er-Jahre bis zum Jahr 2008 gefallen und seitdem relativ stabil wäre, würde man die Einwohner(innen) der Mitgliedstaaten als europäische Bürger(innen) sehen und einen gemeinsamen Ungleichheitsindex berechnen. Der Hauptgrund sind gestiegene mittlere Einkommen in den zentral-, ost- und südeuropäischen Mitgliedstaaten im Vergleich zu den reicheren europäischen Staaten.2 Eine Studie des Wissenschaftlichen Dienstes des Europaparlaments kommt zu dem Schluss, dass sich die Einkommensungleichheit in den letzten zwei Jahrzehnten nur leicht verändert hat und die Entwicklungen in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich waren.3,4 Die Autor(inn)en machen außerdem anhand französischer Langfristdaten den Punkt, dass wir eventuell statt einer steigenden Ungleichheit eher das Ende einer sinkenden Ungleichheit erleben. Tatsächlich zeigen diese Daten seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis circa 1980 eine im Trend sinkende Ungleichheit, die dann leicht ansteigt und schließlich recht stabil verläuft. Ist die steigende Ungleichheit also doch ein Mythos? Und warum erstarkt die Debatte darum gerade jetzt?
Das Vermögen ist deutlich ungleicher verteilt als das Einkommen
Natürlich reicht es nicht, nur auf das Einkommen zu schauen, um diese Frage zu beantworten. Eine wesentliche Rolle spielt auch die Verteilung des Vermögens, die Verschuldung und die allgemeine Infrastruktur eines Landes (auch die soziale). Hier wird die Messung schwieriger, weil in der Regel weniger Daten vorhanden und Bewertungen schwierig sind beziehungsweise im Fall der allgemeinen Infrastruktur Indikatoren zur Messung fehlen. Allgemein anerkannt ist aber, dass das Vermögen deutlich ungleicher verteilt ist als das Einkommen. In Deutschland verfügen die Haushalte in der unteren Hälfte der Verteilung nur über rund ein Prozent des Nettovermögens, den vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte hingegen gehören über mehr als fünfzig Prozent des Nettovermögens.5 Zu vermuten ist, dass die Vermögensverteilung in den vergangenen Jahren noch ungleicher wurde, da zum Beispiel die Immobilienpreise gestiegen sind.
Auch die Kehrseite des Vermögens - die Verschuldung - hat in den letzten zehn Jahren zugenommen. Laut Schuldneratlas waren im Jahr 2018 6,9 Millionen Menschen über 18 Jahre in Deutschland überschuldet. Beide Faktoren, Vermögen und Verschuldung, spielen eine große Rolle bei der Beurteilung der eigenen finanziellen Situation. Denn sie bestimmen, wie viel Puffer es für unerwartete Ausgaben gibt, welche Extras man sich ohne weiteres leisten und wie lange man eine finanzielle Durststrecke durchstehen kann.
Ein Blick auf den Alltag
Daneben gibt es aber viele weitere Faktoren, die in der Bewertung von Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit eine Rolle spielen können. Um den Blick zu weiten, wurde im Rahmen der Veranstaltung der Fokus auch auf die täglichen Lebensumstände der Europäer(innen) gelegt. Hierzu war die Caritas gefragt. Eine Abfrage unter Kolleg(innen) innerhalb der Zentrale des DCV, von zwei Diözesan-Caritasverbänden, Caritas Europa, Caritas Italien sowie von Caritas Portugal zu derzeitigen Veränderungen und neuen Herausforderungen hat trotz der großen Unterschiede zwischen den Ländern, ihrer Arbeitsmarkt- und Finanzsituation und den Sozialsystemen ein erstaunlich einheitliches Bild ergeben. Herausforderungen sind:
- Armut trotz Arbeit und die steigende atypische Beschäftigung, besonders für junge Menschen;
- Zugang zu Sozialsystemen und sozialen Dienstleistungen: In vielen Ländern gab es in der Folge von Sparanstrengungen Einschnitte bei den Sozialsystemen und ihren Diensten. Dies gilt im Übrigen auch für Deutschland, das mit den Hartz-Reformen ebenfalls Einschnitte in sein Sozialsystem vorgenommen hat;
- steigende Wohnkosten und steigende Zahl von Wohnungslosen.
In Deutschland wurde daneben noch die hohe Zahl von EU-Migrant(inn)en genannt beziehungsweise deren Ausschluss von diversen Sozialleistungen und Probleme aufgrund von Unsicherheiten über die Rechtslage. Dieser Punkt ist stark mit dem Thema Ungleichheit verbunden, denn er spiegelt die immer noch sehr große Diskrepanz zwischen den europäischen Mitgliedstaaten wider - sowohl hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation als auch in Bezug auf die Sozialsysteme.
Die anderen Punkte sind direkt oder indirekt mit sozialer Ungleichheit beziehungsweise mit dem Erleben dieser verbunden. Die steigenden Wohnkosten bedeuten, dass weniger Einkommen für den täglichen Verbrauch übrig ist und weniger gespart werden kann. Das trifft einkommensschwächere Haushalte stärker als einkommensstarke. Zudem wurde bei der Konferenz berichtet, dass die steigenden Wohnkosten teilweise zu einer geringeren Mobilität und Verharren an ungünstigen Orten führen, wenn dort Wohneigentum besteht und die Menschen sich eine andere Wohnung nicht mehr leisten können. Hier kommt dann auch das Thema der "räumlichen Ungleichheit" zum Tragen.
Ähnliches gilt für den Zugang zu Sozialsystemen. Wenn für bestimmte Leistungen nun bezahlt werden muss, bleibt weniger für den täglichen Verbrauch übrig. Zudem - und das ist der wichtigere Effekt - bedeuten ein verringerter Zugang zu Sozialsystemen oder niedrigere Leistungen weniger soziale Sicherheit in Notsituationen, wiederum besonders für Menschen, die arm sind oder über wenig Vermögen verfügen. Das bedeutet, dass die finanzielle und persönliche Unsicherheit der Menschen steigt. Die Zunahme der atypischen und prekären Beschäftigung schließlich erhöht ebenfalls das finanzielle Risiko und die Unsicherheit des Einzelnen.
Zusammenfassend mag es also auch sein, dass die zunehmende Bedeutung des Themas "Ungleichheit" nicht so sehr in den (eher geringen) Zuwächsen der Einkommensungleichheit begründet liegt als eher in einer Zunahme wahrgenommener persönlicher und finanzieller Risiken. Einfache Antworten und Lösungen gibt es mit Sicherheit nicht.
Anmerkungen
1. OECD: Understanding the socio-economic divide in Europe.Background Report, 2017.
2. World Economic Forum: This is the state of inequality in Europe. Cologny (CH), 2018. (siehe unter Kurzlink: https://bit.ly/2HRHHLN).
3. European Parliamentary Research Service: Global Trends to 2035 - Economy and Society, Kapitel 6: Inequality. Brussels, 2018. Siehe Kurzlink: https://bit.ly/2AilZdx
4. Zu den Hintergründen der gestiegenen Einkommensungleichheit in Deutschland siehe Cremer, G.: Armut in Deutschland. München: C.H.Beck Verlag, 2016, Kapitel 3.
5. BMAS: Lebenslagen in Deutschland. Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin, 2017.
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