Die Kirchen müssen jetzt ihr Profil schärfen
So langsam wird das Bild rund - mit diesem Fazit kann man die Entscheidungen der diversen obersten Gerichte in Deutschland und Europa belegen, die sich in den vergangenen Monaten mit dem kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland zu befassen hatten. Nachdem über Jahre hinweg kirchliche Arbeitsverhältnisse nahezu vollständig unter dem europäischen Radar hindurchsegeln konnten, ist dies nun eindeutig anders geworden. Über den Hebel des Diskriminierungsrechts sind nunmehr auch die Arbeitsverhältnisse des insgesamt zweitgrößten Arbeitgebers in Deutschland vom europäischen Recht erfasst. Auch wenn Ausgangspunkt allein das Diskriminierungsrecht war, ist doch deutlich erkennbar, dass die Auswirkungen erheblich weiter reichen werden. Das alte Diktum, das deutsche kirchliche Arbeitsrecht sei "europafest", kann in dieser Pauschalität nach den Entscheidungen in der Rechtssache Egenberger einerseits und zum Düsseldorfer Chefarzt (siehe dazu auch neue caritas Heft 5/2019,
S. 8) andererseits nicht mehr aufrechterhalten werden. Vielmehr gilt: Die kirchlichen Arbeitgeber sind nun zumindest diskriminierungsrechtlich ein Stück weit "normaler" geworden. Doch die Entscheidungen reichen deutlich über das Diskriminierungsrecht hinaus und bergen das Potenzial, dass die Kirchen als Arbeitgeber nicht mehr in gleicher Weise wie bisher ihren verfassungsrechtlich verbürgten Status, ihre grundgesetzlich garantierte Selbstbestimmung ausüben können. Das war vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht vorrangig zu entscheiden, ist aber eine Folge seiner Spruchpraxis, die vom Bundesarbeitsgericht übernommen worden ist.
Beide Urteile beziehen sich auf das AGG
Die beiden Entscheidungen betrafen ganz unterschiedliche Aspekte, und doch kreisten sie um dieselbe Thematik. Beide hatten die Auslegung des § 9 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zum Gegenstand. Doch im Fall Egenberger ging es um die Religion als Anforderung für die Stellenausübung, also um § 9 Abs. 1 AGG ("Muss man der Kirche angehören, um in einer kirchlichen Einrichtung zu arbeiten?"), beim Chefarzt in Düsseldorf war § 9 Abs. 2 AGG betroffen, also die Frage, welche Loyalität der kirchliche Dienstgeber von welchen seiner Beschäftigten verlangen kann ("Darf der Arbeitgeber auch verlangen, dass ich in meinem privaten Leben, außerhalb meiner Arbeit, so lebe, wie seine Moralvorstellungen es verlangen?").
Der Tenor beider Entscheidungen ist sehr ähnlich. Übergreifend haben die Richter in Luxemburg (und ihnen folgend dann des Bundesarbeitsgerichts) zweierlei deutlich gemacht. Erstens: Weder darf die Kirchenzugehörigkeit eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin unterschiedslos bei allen Stellen, die ein kirchlicher Arbeitgeber zur Verfügung stellt, verlangt werden - noch darf unterschiedslos der gleiche Loyalitätsmaßstab bei allen Mitarbeitenden angelegt werden. Das war bislang allgemeine Überzeugung in der deutschen Rechtsordnung - aber nun heißt es im Lichte der Auslegung des EuGH, dass nur noch dann, wenn die Kirchenzugehörigkeit beziehungsweise Loyalitätsanforderung für die konkrete Stelle "wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt" ist, sie auch verlangt werden darf. Unerhört für das bisherige deutsche Verständnis des kirchlichen Arbeitsrechts - nicht mehr pauschal ohne Unterschied, sondern abhängig von der jeweiligen Stelle. "Das hat es noch nie gegeben!", "Das greift zu weit in das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ein!" So klangen die Aufschreie derjenigen, die das Kirchliche zu stark bedrängt sahen.
Und ein Zweites: Das, was die Kirchen für die jeweilige Stelle dann vortragen, kann von einem Gericht vollumfänglich überprüft werden. Auch hier zeigt sich (für manchen: zu) viel Neues, waren die Gerichte in Deutschland bislang doch sehr zurückhaltend und haben meist nur nachgesehen, ob etwa die Anforderung der Kirchenmitgliedschaft willkürlich erhoben wurde, wenn also beispielsweise in einem Fall ein(e) Pfleger(in) der Kirche angehören musste, ein anderes Mal hingegen nicht. Jetzt jedoch heißt die Vorgabe: Es wird immer überprüft, welche Anforderung warum gestellt wird.
Konsequenzen daraus sind differenziert zu betrachten
Man kann mit diesen Entscheidungen hadern, man kann sie - auch gerichtlich - angreifen. Man kann umgekehrt auch in der Fachdiskussion völlig zu Recht darüber streiten, ob etwa der EuGH hier die Stellung der Kirchen, wie sie von den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft explizit geschützt wurde und wird, völlig falsch und unzureichend gewichtet hat. Doch jenseits dieser hochspannenden juristischen Auseinandersetzungen stellt sich konkret die Frage, was nun zu tun ist. Welche Lehren sind zu ziehen?
Man wird an dieser Stelle für die Frage, welche Auswirkungen sich für das kirchliche Arbeitsrecht ergeben, differenzieren müssen - nach der Zeitachse sowie nach den Konfessionen. Die katholische Kirche hat ihre Grundordnung vor wenigen Jahren bereits so geändert, dass der vom EuGH entschiedene Chefarzt-Fall in dieser Weise heute wohl nicht mehr gerichtlich relevant würde. Die Rigorosität, die zur Kündigung des Chefarztes wegen seiner zweiten, kirchenrechtlich ungültigen Ehe geführt hat, würde heute nicht mehr zum Ausdruck kommen. Die Grundordnung hat für derartige Sachverhalte Differenzierungsmöglichkeiten eingezogen, die europarechtlich möglicherweise vor den Augen des EuGH Bestand haben könnten.
Die evangelische Kirche hingegen hat mit ihrer Loyalitätsrichtlinie nach der neuen Rechtsprechung ein erhebliches Problem. Dieses liegt darin, dass diese Richtlinie verlangt, dass grundsätzlich jeder, der in einer evangelischen Einrichtung arbeiten möchte, evangelisch oder zumindest christlich sein muss. Nur ausnahmsweise kann hiervon abgewichen werden. Dahinter steht und stand die Vorstellung, dass die Kirchenzugehörigkeit aller Mitarbeitenden als "zentrales Instrument" anzusehen ist, um als Einrichtung jeweils mit ausreichend evangelischem Profil tätig zu sein. Die Kirchlichkeit der evangelischen Einrichtung hängt an der Kirchlichkeit der Mitarbeitenden - grundsätzlich. Dieser Weg ist nun versperrt. Es ist dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis, das sich nach den Entscheidungen des EuGH beziehungsweise Bundesarbeitsgerichts nicht mehr wird halten lassen. Denn die Gerichte haben ja genau das Gegenteil für richtig erachtet: Ein kirchlicher Arbeitgeber darf gerade nicht mehr unterschiedslos bei jeder Stelle die Kirchenzugehörigkeit verlangen. Insofern wird die Loyalitätsrichtlinie der evangelischen Kirche geändert werden müssen. Vorschläge dazu liegen vor. Die Zugehörigkeit zu einer Gliedkirche der Evangelischen Kirche in Deutschland oder einer Kirche, die mit der Evangelischen Kirche in Deutschland in Kirchengemeinschaft verbunden ist, darf insofern mittelfristig nicht mehr (grundsätzlich) für alle Mitarbeiter(innen), sondern nunmehr nur noch für bestimmte Mitarbeitendengruppen vorausgesetzt werden.
Kurzfristig wird man allen Einrichtungen empfehlen müssen, für jede einzelne Stelle begründet darzulegen, warum man für sie die Kirchlichkeit verlangt. Das bedeutet einen höheren Argumentationsaufwand, ist aber eine Konsequenz der Entscheidungen aus Luxemburg und Erfurt.
Keine vorgegebene Marschroute mehr
Von dieser Problematik ist die katholische Kirche befreit - für sie hängt die Kirchlichkeit ihrer jeweiligen Einrichtungen nicht an der Kirchenzugehörigkeit der Mitarbeitenden. Doch genau wie die evangelischen Einrichtungen müssen sich auch die katholischen Einrichtungen langfristig der Frage stellen, was ihr Profil ausmacht, wenn man nämlich nicht mehr von allen Mitarbeitenden, unabhängig von der konkret ausgeübten Tätigkeit, die gleiche Loyalität erwarten darf. Auch die katholischen Einrichtungen werden also klären müssen, welche Aufgaben bei ihnen mit welchen Pflichten an die private Lebensführung verbunden sind - vor allem dort, wo man bei den Pflichten danach differenziert, ob ein Beschäftigter katholisch ist oder nicht.
Die Rechtsprechung hat mit ihren Urteilen "Egenberger" und "Chefarzt" aufgezeigt, dass es nicht mehr darum gehen kann, als Kirche ungestört Vorgaben machen zu können. Die Grundrechte und betroffenen Interessen der Beschäftigten haben eigenständiges - und gerichtlich nachprüfbares - Gewicht bekommen. Zu Recht. Kirchlich sind diese Einrichtungen künftig daher nicht mehr, weil und soweit der Dienstgeber eine Marschroute unterschiedslos für alle vorgeben kann. Er kann nicht mehr verlangen: "Werde Kirchenmitglied" oder "Verhalte dich so, wie unsere Moralvorstellungen es vorgeben", ohne zugleich auch im Blick zu haben, an wen beziehungsweise an welche Mitarbeitergruppe er diese Anforderung richtet. Damit fällt jedoch ein bislang so zentraler Baustein der "Kirchlichkeit" weg.
Das aber impliziert zweierlei: Rechtlich lassen sich die Auswirkungen dieser Entscheidungen noch nicht so recht prognostizieren. Die Tektonik des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, verankert in Art. 140 Grundgesetz (GG), 137 WRV, ist durch die Urteile betroffen, möglicherweise ist sie erschüttert worden. Liegt hier eine Aushöhlung des genuin Kirchlichen im Recht vor? Eine Nivellierung derjenigen verfassungsrechtlichen Stellung, die den Kirchen zugesagt ist? Denkbar. Daher ist es gut vertretbar, dies nochmals vom Bundesverfassungsgericht, der höchsten Instanz im System des Grundgesetzes und seiner Rechte, klären zu lassen.
Entscheidungen könnten positive Wirkung haben
Faktisch hingegen können die Stöße, die von Egenberger und dem Chefarzt ausgehen, für die kirchlichen Einrichtungen positive Auswirkungen haben. Sie werden gezwungen - sollte diese Linie halten und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt werden -, klarer herauszuarbeiten, was ihr Spezifikum ist. Sie werden dazu verpflichtet, deutlich zu machen, was bei ihnen anders ist als bei anderen Wohlfahrtseinrichtungen. Sie werden gehalten, ihr Profil zu schärfen, ihre Kirchlichkeit grundlegend zu verorten - und zwar nicht gegen, sondern im Einklang mit den von der Verfassung ebenfalls geschützten Rechten der Beschäftigten. Das kann ein wichtiger Schritt hin zu weiterhin attraktiven Arbeitgebern und zu einem lebendigen Zeugnis des christlichen Wirkens in der Welt sein. Nicht die schlechteste Entwicklung, die sich hier als Fazit abzeichnet.
Anmerkung
Das Urteil "Egenberger" betraf eine konfessionslose Bewerberin bei der Diakonie, die sich um eine Stelle beworben hatte, für die die Kirchenzugehörigkeit schon in der Ausschreibung verlangt war - zu Unrecht, wie nun gerichtlich entschieden wurde. Der "Chefarztfall" betraf einen katholischen Chefarzt in einem katholischen Krankenhaus, der nach gescheiterter erster Ehe wieder geheiratet hatte. Diesen Verstoß gegen die katholische Lehre ahndete der Dienstgeber mit einer Kündigung. Der EuGH hielt dies für diskriminierend, weil evangelischen Chefärzt(inn)en aus diesem Grund nicht gekündigt wurde.
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