Der Weg zum bedarfsorientierten Personalmix
Seit Ende der 1990er-Jahre ist das Thema der Qualität pflegerischer Leistungen zu einem der wesentlichen Diskussionsstränge im Bereich der Langzeitpflege avanciert. Lag in den 1970er- bis 1990er-Jahren der Fokus auf dem Ob und Wie der Einführung der Pflegeversicherung als fünfte Säule des Sozialversicherungssystems, wurden nach den ersten bewegten Jahren ihrer Etablierung die Bedingungen und Ergebnisse der pflegerischen Leistungserbringung zentral. Diese hatte Avedis Donabedian1 bereits 1966 in die – heute noch grundlegenden – Dimensionen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität eingeteilt. Dabei stellt gute Strukturqualität eine notwendige Bedingung für gute Prozesse dar, die ihrerseits als notwendige Bedingung guter Ergebnisse gesehen wird. Sie kann allerdings nicht als hinreichende Bedingung gute Ergebnisse garantieren. Auch wenn diese einfache und eher mechanistische Sichtweise der Qualitätsdimensionen inzwischen vielfach erweitert wurde, kann doch festgehalten werden: Für professionelle Langzeitpflege, die als personenbezogene soziale Dienstleistung von einer anspruchsvollen Kombination aus Fachlichkeit und zwischenmenschlicher Interaktionsarbeit geprägt ist, gilt die Menge und Struktur des eingesetzten Personals als wesentlichstes Strukturmerkmal. Mit einer Personalausstattung, die qualitativ und quantitativ unterhalb eines gewissen Niveaus angesiedelt ist, muss nahezu als ausgeschlossen angesehen werden, gute Ergebnisqualität zu erbringen.
Unzureichende Instrumente zur Qualitätsmessung
Für den Bereich der deutschen Langzeitpflege scheint allseitig anerkannt zu sein, dass dieses – bisher nicht näher bestimmte – Niveau insbesondere vor dem Hintergrund eines neuen Pflegeverständnisses dauerhaft bedroht ist. Auch wenn diese Aussage interessanterweise kaum durch empirische Befunde gestützt wird, gibt es hierzu wenig Widerspruch. Dies liegt sicherlich auch daran, dass, aufgrund unzureichender Instrumente zur Messung der Ergebnisqualität, sekundäre Indikatoren zum Beleg der zu geringen Personalmenge herangezogen wurden. Speziell für den stationären Sektor sind die Selbsteinschätzungen der Pflegenden zu ihrer Arbeitsbelastung, zu ihren kompensatorischen Mechanismen und letztlich zu ihrer wahrgenommenen Gesundheitssituation durchweg negativ. Dies ist zumindest für den letztgenannten Indikator auch empirisch zu belegen, da die Zahl der Krankheitstage mit zu den höchsten aller Berufssparten gehört. Fast übereinstimmend wird von Berufsverbänden, Betreibern und politischen Akteuren konstatiert, dass hieraus eine reduzierte Ergebnisqualität entsteht, die durch einen höheren und am Bedarf orientierten Personaleinsatz als Struktur-Determinante verbessert werden kann.
Um hier anzusetzen und gleichzeitig die Chance zu nutzen, die normativ nicht begründbaren deutlichen Unterschiede in den Personalausstattungen auf Länder-Ebene anzugleichen, hat der Gesetzgeber nach einigen gescheiterten Versuchen im Zweiten Pflegestärkungsgesetz einen neuen Anlauf unternommen, ein einheitliches Personalbemessungs-Verfahren einzuführen. Dazu wurde die gemeinsame Selbstverwaltung in der Pflege beauftragt, bis zum 30. Juni 2020 ein wissenschaftlich fundiertes Verfahren zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs zu entwickeln und zu erproben. Ein entsprechender Auftrag, der zuerst nur die Entwicklung, mittlerweile auch die Erprobung umfasst, wurde nach europaweiter Ausschreibung an die Universität Bremen vergeben. In der Konzertierten Aktion Pflege ist inzwischen darüber hinaus beschlossen worden, die Einführung des Personalbemessungsverfahrens nach abgeschlossener Entwicklungs- und Erprobungsphase in geeigneten Schritten gemeinsam zügig anzugehen und bereits nach dem – inzwischen erfolgten – Abschluss der Entwicklungsphase im Sommer 2019 mit den hierfür erforderlichen Vorbereitungen zu beginnen.
Die Konzeption zur Entwicklung des Personalbemessungs-Verfahrens basiert auf einem kombinierten empirischen und analytischen Ansatz, der die heutige Leistungserbringung in stationären Einrichtungen abbildet und gleichzeitig Differenzen zu einer fachgerechten Pflege feststellt. Zentral ist hierbei, dass – zum bisher ersten Mal – konsequent über die reine Erhebung des Ist-Zustandes der Leistungserbringung hinausgegangen und auch das Soll einer fachgerechten und bedarfsorientierten Pflege in den Resultaten ermittelt wurde. Hierzu wurden 1380 stationär versorgte Pflegebedürftige neu begutachtet und auf dieser Basis individuelle Tagesplanungen erstellt. Diese umfassten alle Interventionen, die individuell für eine Pflege entsprechend dem neuen Pflegebedürftigkeits-Begriff erforderlich waren. Dabei wurde jede dieser Interventionen – in Abhängigkeit vom Zustand der/des Pflegebedürftigen – in den Anforderungen an die Leistungserbringung individualisiert. Diese Planung bildete das Erhebungsraster, mit dem dann die Ist-Leistungserbringung erfasst und in den Dimensionen Interventionsmenge, Zeit für jede Interventionsmenge und erforderliches Qualifikationsniveau zu einem Soll korrigiert wurde. Diese extrem aufwendige Kernaufgabe übernahmen 241 Datenerheber(innen), die nach zweitägiger Schulung jeweils als "Schatten" eine Pflegekraft über ihre gesamte Arbeitszeit begleiteten. So konnten insgesamt Ist- und Korrekturwerte zu über 144.000 Interventionen erfasst und ausgewertet werden. Die Datenerhebenden wurden dabei je zur Hälfte von den Prüfdiensten (MDK/Medicproof) und Leistungsanbietern rekrutiert, um eine mögliche Verzerrung zu vermeiden.
Parameter bilden die momentanen Einrichtungsstrukturen ab
Als Ergebnis der Entwicklungsphase des Projekts liegt ein funktionsfähiges Personalbemessungsinstrument vor. Dieses beinhaltet ein mathematisches Verfahren, das die Vielzahl der empirischen Messwerte als Parameter nutzt und geeignet ist, auf Einrichtungsebene zu jeder möglichen Zahl an Pflegebedürftigen und deren individueller Art und Pflegebedürftigkeit eine korrespondierende Personalmenge auszuweisen, die eine bedarfsorientierte Leistungsrealität ermöglicht. Dabei bilden diese Parameter implizit die Strukturen des Jahres 2018 ab. Es ist aber bei sich verändernden Rahmenbedingungen jederzeit möglich, etwa durch fortschreitende Digitalisierung, mittels neuer Empirie diese Parameter zu erneuern.
Musterrechnungen zu den Auswirkungen des Verfahrens zeigen drei grundlegende Effekte: Erstens wird durchschnittlich in erheblichem Maße mehr Pflegepersonal – sowohl Fach- als auch Hilfskräfte – benötigt. Deutlich höher sind diese Zusatzbedarfe allerdings bei den Hilfskräften, was zweitens dazu führt, dass der bedarfsorientierte Fachkraftanteil im Durchschnitt unterhalb von 50 Prozent anzusetzen ist. Dieser Anteilswert ist jedoch drittens für jede Einrichtung unterschiedlich, da er direkt von der Bewohnerstruktur abhängig ist und ein höherer Case-Mix nun sachgerecht nicht nur zu einer höheren Pflegepersonalmenge, sondern auch zu einem höheren Fachkraftanteil führt.
Das Verfahren einzuführen erstreckt sich über mehrere Jahre
Ein Personalbemessungsverfahren vollumfänglich einzuführen kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Weder sind hierfür die Pflegenden gerüstet, die an einen Arbeitsalltag mit geringen Personalmengen gewöhnt sind, noch die Einrichtungen, deren Strukturen eine deutlich höhere Personalmenge gar nicht effizient einsetzen können. Schließlich – und das ist der wahrscheinlich wichtigste Faktor – kann nicht mehr Personal eingesetzt werden, als zur Verfügung steht. Die erforderliche Personalmenge muss erst über Aus- und Weiterbildung bereitgestellt werden. Deshalb ist anzunehmen, dass ein entsprechender Personalaufbau nur in mehreren Schritten und über einige Jahre gestreckt möglich ist. Als erster Schritt einer entsprechenden Roadmap sollte eine modellhafte Pilotierung erfolgen, wobei in einzelnen Einrichtungen geprüft werden kann, welche Maßnahmen der Organisations- und Personalentwicklung erforderlich sind, um Einrichtungen und die gewachsene Menge von Pflegekräften zu einem gemeinsamen effizienten Leistungsalltag zu befähigen. Zentral wird hierbei eine stärkere Orientierung am Leitbild eines kompetenzorientierten Arbeitseinsatzes sein, der gezielt Pflegefachkräfte in Organisations- und Steuerungsaufgaben erfordert, deren einrichtungsindividuelle Ausarbeitung wiederum durch akademisch ausgebildete Pflegekräfte zu übernehmen sein wird. Die Ergebnisse dieser modellhaften Pilotierung müssen so angelegt sein, dass sie in die Fläche transportiert werden können. Gleichzeitig darf die Einführung des Personalbemessungsverfahrens durch die Pilotierung aber nicht auf die lange Bank geschoben werden. Daher sollte eine erste Anhebung der Stellenschlüssel, die nur einen Teil des ermittelten Mehrbedarfs abbildet, sofort und parallel zur Pilotierung erfolgen. Diese Anhebung kann auch so ausgestaltet werden, dass zwar mehr Personal finanziert wird, sein Einsatz aber noch nicht obligatorisch ist, um so bestehende Personalengpässe zu berücksichtigen.
Anmerkung
1. Avedis Donabedian (geboren 1919, gestorben 2000) war ein libanesischer Arzt, der später Professor für Public Health an der Universität von Michigan wurde. Er gilt als Begründer des modernen Qualitätsbegriffs in Medizin und Pflege.
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