Sozialwirtschaft 4.0 – die Branche tut sich schwer damit
Auch wenn es schwer zu fassen ist, was Digitalisierung tatsächlich ist, so waren die Entwicklungen der letzten Jahre rund um das Internet rasant und haben mittlerweile alle Lebensbereiche durchdrungen: die Arbeitswelt, die Bildung, das Gesundheitswesen, unser Privatleben und sogar unsere Beziehungen.
Alle Bereiche? Die Gesundheitswirtschaft liegt beim Thema Digitalisierung hinter allen anderen Branchen zurück. Erklärt wird dies damit, dass einerseits die Branche nicht primär den Gesetzen des Marktes gehorche und dass andererseits die Mitarbeitenden sich ja für eine Arbeit am Menschen und nicht am Computer entschieden hätten.
Doch das Ignorieren der Digitalisierung könnte fatale Folgen haben, denn die Digitalisierung
- wird auch die Sozialwirtschaft erreichen,
- wird auch die Sozialwirtschaft in einen Transformationsprozess von einem heute noch nicht einschätzbaren Ausmaß führen und
- kann ein wesentlicher Faktor zur Lösung der Personalprobleme in der Sozialwirtschaft sein.
Doch - was ist "Digitalisierung"?
Digitalisierung ist mehr als ein technologischer Hype
Zunächst ist "Digitalisierung" die Allzeitverfügbarkeit von Daten, die über das Internet ohne Beschränkungen an jedem Ort und zu jeder Zeit abgerufen, weiterverarbeitet und gespeichert werden können. Wesentliche Begriffe der Digitalisierung wie "Industrie 4.0", "Internet der Dinge", "Big Data", "Cloud, Mobile oder Smart Computing" zeichnen ein sehr technisches Bild von der Digitalisierung und sind zu kurz gegriffen, um zu beschreiben, was bei der "digitalen Revolution" tatsächlich passiert.
Mit dem Internet untereinander verbundene Alltagsgegenstände greifen durch eigenständige Entscheidungen in unser Leben ein. Mit Smart Health überholt eine komplett neu entstandene Branche unser klassisches Gesundheitssystem. Roboter arbeiten mit Menschen zusammen (zum
Beispiel Kuka LBR iiwa, die weltweit ersten in Serie gefertigten sensitiven Leichtbau-
roboter).
Aber die derzeit gravierendsten Veränderungen werden durch die Plattform-Revolution hervorgerufen. Plattformen wie Airbnb, Alibaba, Facebook, Flixbus, Uber, Wikipedia, Youtube usw. sind den bisherigen linearen Wertschöpfungsketten überlegen, weil sie die Märkte für Waren, Dienstleistungen und Informationen in ein Netzwerk transformieren, in dem
- alle Teilnehmer von der Wertschöpfung profitieren beziehungsweise diese sogar von der Benutzer-Gemeinschaft der Plattform erbracht wird (Youtube bietet von den Benutzern produzierte Inhalte),
- Plattformunternehmen sehr viel schneller wachsen können, weil sie die Ressourcen zur Wertschöpfung gar nicht besitzen (Airbnb besitzt kein einziges Hotel), und
- Plattformunternehmen ihren Fokus stärker nach außen auf den Kunden als nach innen auf sich selbst richten. Customer-Relationship-Management-Systeme, werden wichtiger als das Enterprise Resource Planning System (ERP) zur Geschäftsressourcenplanung.
Anhand der Umwälzungen durch Plattformen lässt sich sehr gut erkennen, dass die Digitalisierung weitaus mehr als nur ein technischer Wandel ist. Sie durchdringt unser gesamtes Wirtschaftssystem und unsere Arbeitswelt, und das bedeutet:
- Der Informationsraum als Raum der Wertschöpfung - die Welt der Informationen - ist von herausragender Bedeutung und ebenso die Frage, ob diese von Maschinen zur vollständigen Automatisierung, von den "Googles" dieser Welt zur Manipulation der Benutzer genutzt werden können oder von allen Benutzern für eine gemeinsame Wertschöpfung.
- Disruptive Innovation - neue Methoden wie Design Thinking und neue Finanzierungswege wie Crowd Sourcing werden heute eingesetzte Arbeitsweisen und heute übliche Finanzierungsmodelle verdrängen.
- Neue Arbeitsmodelle setzen sich durch - wie Cloud Working, Shared Services, interdisziplinäre Teams.
Die Zukunft der Digitalisierung, auch in der Sozialwirtschaft, wird sich daran entscheiden, ob wir den Wandel erkennen, Ressourcen für den Wandel bereitstellen, das Umkrempeln unserer Unternehmen zulassen und damit dem Paradigma des "Informationsraums als sozialem Handlungsraum" zum Erfolg verhelfen. Denn die Kernfrage am Ende wird sein: Sind wir User oder nur noch "Geusedte" (also Nutzer oder Genutzte)?
Ansätze der Digitalisierung in der Sozialwirtschaft
Dem schlechten Ranking im BMWi-Index (Monitoring-Report Wirtschaft digital) zum Trotz gibt es auch in der Sozialwirtschaft vielfältige Ansätze, die digitale Transformation zum Wohle der Kunden und Mitarbeitenden voranzutreiben. Die Digitalisierung findet dabei in drei wesentlichen Bereichen statt:
Markt-Kommunikation
Die Internetauftritte vieler Anbieter sind noch aus der Zeit des Web 1.0, unübersichtlich, textlastig, schwer lesbar, nicht mobilfähig und meist auch schwer aufzufinden. Neue Websites wie zum Beispiel "charitywater.org" oder "eva-stuttgart.de" setzen auf interaktive Infografiken oder verwenden Techniken wie Storytelling und Personas. (Die Persona stellt einen Prototyp für eine Gruppe von Nutzern dar, mit konkret ausgeprägten Eigenschaften und einem konkreten Nutzungsverhalten. Personas werden im Anforderungsmanagement von Computeranwendungen genutzt.) Auch binden die neuen Websites den Benutzer durch interaktive Quiz und Tests an sich, führen ihn durch die Einrichtung mit interaktiven Videos und Bildern und erlauben eine Kostenkalkulation und Vertragsgestaltung mit einem interaktiven Rechner und E-Book. Und die Anbieter sind erreichbar - dann, wenn der Interessent dies wünscht.
Die Präsenz der sozialen Einrichtungen in den sozialen Medien nimmt zu, auch wenn das Problem der zielgruppenspezifischen Ansprache (Pflegeschülerinnen erreicht man nicht bei Facebook, sondern über Instagram, Snapchat oder Youtube) noch nicht erkannt oder noch nicht gelöst ist.
Und die Sozialwirtschaft hat die Macht der Plattformen erkannt. In dem Verband der Digitalisierung der Sozialwirtschaft haben sich mehrere Einrichtungen auf den Weg gemacht, eine Plattform "mitunsleben" zu schaffen, die nicht nur das Angebot der Einrichtungen präsentiert, einen Platz vermittelt, sondern dabei auch beraten soll und später um Feedbackmöglichkeiten erweitert wird. Die Einrichtungen wollen damit den aufkommenden privaten Wettbewerbern wie zum Beispiel "betreut.de" oder "pflege.de" ein gemeinnütziges Angebot entgegensetzen.
Binnenorganisation: Oft fehlt das nötige Know-how
Zur Binnenorganisation gehört in erster Linie die durchgängige elektronische Bearbeitung von Prozessen mit geeigneter Software sowie Smartphones oder Tablets. Im Bereich der Verwaltungsprozesse sind nahezu alle Einrichtungen auch aufgrund der in der Regel stationären Arbeitsplätze gut aufgestellt. Im Bereich der Branchensoftware finden sich vor allem in der ambulanten Pflege ausgereifte Prozessabbildungen mit Mobilgeräten, in der stationären Pflege und anderen Hilfebereichen besteht jedoch noch Entwicklungsbedarf.
Gleichzeitig ist die Nutzungstiefe und das Nutzungs-Know-how in den Einrichtungen oft noch unterentwickelt, was zu Medienbrüchen und Bypässen führt. Und für eine ganze Reihe von Prozessabläufen (zum Beispiel Rechnungseingang, Personalmanagement) sowie für das Zusammenarbeiten interdisziplinärer Teams sind in vielen Einrichtungen noch keine Lösungen eingeführt. Hier entsteht gerade in der Branche eine große Nachfrage nach Workflow-Lösungen, Projektmanagement-Systemen, sozialen Intranets und Wissensdatenbanken.
Große Potenziale bietet auch das E-Learning für die Sozialwirtschaft. Neue Ansätze wie das Blended Learning (Online-Wissensvermittlung, zum Beispiel mit Videos oder Apps, wie bei "smartnurse.de", und Übung/Vertiefung des Wissens in Präsenzveranstaltungen) in Verbindung mit neuen Technologien wie Virtual oder Augmented Reality erlauben eine Entkopplung von Lehrenden und Lernenden und damit eine bessere Steuerung des Lernprozesses und ein nachhaltigeres Lernen.
Klienten- und Angehörigenarbeit
Erste Anbieter, zum Beispiel "Easy2book.de", versprechen, Terminbuchungen in die eigene Website einbinden zu können. Was bei Paketdiensten heute Standard ist, findet sich auch in ersten Lösungen in der Sozialwirtschaft wieder - jederzeit zu wissen, wie es dem Angehörigen beziehungsweise Patienten geht -, zum Beispiel in der Funktion "family connect" von "carenavigator.de" oder der App "Mein Pflegedienst".
Ein datenschutzrechtlich großes Problem stellt die weit verbreitete Nutzung von Whatsapp für den direkten Kontakt zwischen Kunden und Betreuern dar. Vorhandene Angebote in der Branchensoftware gelten als zu umständlich, Alternativen auf dem Messenger-Markt (zum Beispiel "Threema") sind nicht so verbreitet und daher für die Benutzer ungewohnt. Hier bedarf es in den Einrichtungen klarer Konzepte und verbindlicher Vorgaben.
Vermehrt finden sich Ansätze in den Branchensoftware-Lösungen, den Klienten in den Therapieprozess mit einzubeziehen. Die Einbindung reicht dabei von der Abfrage des Befindens über die Mitwirkung im Hilfeplanungsprozess (zum Beispiel "Factoris|sozial") bis hin zur Dokumentation der Medikation.
Lange Jahre ist in Deutschland viel Fördergeld in die Entwicklung technischer Assistenzsysteme geflossen. Doch zeigen Untersuchungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), dass diese Entwicklungen zu stark ingenieurwissenschaftlich getrieben waren, zu wenig den Kunden einbezogen haben und auf wenig tragfähigen Geschäftsmodellen basierten. Es mangelte außerdem am Aufbau von Kompetenzen bei den Pflege- und Betreuungskräften hinsichtlich des Nutzens und der Nutzung solcher Systeme. Mittlerweile führen die Entwicklungen aus dem Consumer-Bereich (Smart Home) jedoch dazu, dass die Technologien preiswert, ausgereift und einfacher zu nutzen sind. Eine Vielzahl von Showrooms, zum Beispiel das "AAL Living Lab" der Hochschule Kempten oder der Techniklotsen in Bielefeld, zeigen die Potenziale dieser Technologien und regen die Verantwortlichen zum Einsatz an. Ergänzt um intelligente Apps, wie zum Beispiel bei "ambioassist.com", entstehen Komplettlösungen, die alten und beeinträchtigten Menschen ein sicheres und betreutes Leben möglichst in den eigenen vier Wänden ermöglichen. Was in vielen Haushalten bereits geübte Praxis ist, die Steuerung der Geräte per Sprachbefehl (an Alexa, Siri, Cortana usw.), wird in der Sozialwirtschaft noch erforscht.
Therapie-Roboter werden kommen
Vermehrt hält die Robotik Einzug in die Sozialwirtschaft. Industrienahe Serviceroboter zum Wäschetransport, zur Essensverteilung oder als Trinkroboter sind bereits heute in der Praxiserprobung. Das Montageassistenzsystem "MotionEAP" leitet die Arbeit von leistungsgeminderten und auch normal leistungsfähigen Mitarbeitenden an, indem es die reale Produktionssituation erkennt und mit virtuellen Informationen (Augmented Reality, darunter versteht man die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung) die Effizienz und Qualität der Arbeitsabläufe steigert.
Ebenso gibt es bei Therapie-Tablets und Therapie-Robotern marktreife Lösungen, zum Beispiel die Tablets von "Media4care" oder die Roboter-Robbe "Paro", insbesondere in der Arbeit mit demenzkranken Menschen. Erfolgt der Einsatz nicht solitär, sondern als Medium in einer kommunikativen Situation, so können auch die oft bestehenden Widerstände bei den sozialen Fachkräften abgebaut werden.
Wird der Roboter zukünftig die menschliche Arbeitskraft vollständig ersetzen beziehungsweise den drohenden Fachkräftemangel lösen? Auch wenn Medienberichte über den japanischen Roboter "Robear", der Patienten aus dem Bett hievt, oder über den humanoiden Roboter "Pepper" (s. auch S. 14), der mit dementen Patienten interagiert oder Bewegungsübungen "vorturnt", etwas anderes "vorgaukeln": Aktuell kommt keines dieser Projekte über den Laborversuchsstatus hinaus. "Noch ist kein System auf dem Markt, das Pflegekräfte bei der Arbeit mit den Patienten wesentlich entlasten kann", so Frank Kirchner, Leiter des Robotics Innovation Center des deutschen Forschungszentrums für künstliche Intelligenz in Bremen. Ein vollständiger Ersatz ist nach unserer Einschätzung auch der falsche Ansatz. Es wird vielmehr darum gehen, dass die Roboter die menschliche Dienstleistung sinnvoll unterstützen beziehungsweise ergänzen (zum Beispiel Exo-Skelette, die beim Heben unterstützen) oder auch partiell in einem Gesamt-Dienstleistungsszenario übernehmen können (zum Beispiel der Assistenz-Roboter "Garmi" des Start-ups Franka Emika, der beeinträchtigte Gliedmaßen bei physiotherapeutischen Übungen beugt, die Spülmaschine ausräumt oder einen beeinträchtigten Menschen rasiert).
Derzeit - auch ein Wesen der Digitalisierung - ist schwer vorauszusagen, welche Entwicklungen sich tatsächlich durchsetzen werden. Viele dieser Entwicklungen wirken auf den einen oder anderen als "Horrorszenarien" oder "menschenverachtend". Aber die Entwicklung wird auch vor der Sozialwirtschaft nicht haltmachen. Daher sollte die Sozialwirtschaft die Chance nutzen und die Veränderungen aktiv gestalten.
Literatur
Roland Berger GmbH; Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung; Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar: ePflege - Informations- und Kommunikationstechnologie für die Pflege. Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. Berlin/Vallendar/Köln, 2017.
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie: Monitoring-Report Wirtschaft DIGITAL 2018, www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/monitoring-report-wirtschaft-digital-2018-kurzfassung.pdf, zugegriffen: 1. September 2018.
Boes, A.: Digitalisierung der Gesellschaft - Wirtschaft neu denken. Vortrag ITCO IT-Unternehmer-Event, Kloster Banz, 2015.
FINSOZ e. V. (Hrsg.): Positionspapier Digitalisierung der Sozialwirtschaft. 2017. FINSOZ e.V., www.finsoz.de/sites/default/files/finsozev_positionspapier-digitalisierung-2.auflage.pdf, zugegriffen: 1. September 2018.
Fuest, B.: Roboter in der Pflege? Bisher nur eine gefährliche Illusion. In: welt.de vom 7. Juli 2018, www.welt.de/wirtschaft/article178935030/Pflegenotstand-Warum-Roboter-das-Problem-vorerst-nicht-loesen-werden.html, zugegriffen: 1. September 2018.
Parker, G.G.; Van Alstyne, M.W.; Choudary, S. P.: Die Plattform-Revolution - Von Airbnb, Uber, PayPal und Co. lernen: Wie neue Plattform-Geschäftsmodelle die Wirtschaft verändern - Methoden und Strategien für Start-ups und Unternehmen. Frechen: Mitp Verlags GmbH, 2017.
Wolff, D.; Göbel, R. (Hrsg.): (2018) Digitalisierung: Segen oder Fluch? Wie die Digitalisierung unsere Lebens- und Arbeitswelt verändert, Berlin: Springer Verlag, 2018.
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