Digitale Teilhabe ist bislang nur eine Vision
Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen sind bislang kaum an der Digitalisierung und am technischen Wandel in Deutschland beteiligt, nicht als Konsument(inn)en und noch weniger als bewusste Zielgruppe. Sie stehen stellvertretend für eine große Gruppe von Menschen, deren Recht auf digitale Teilhabe hohe und komplexe Anstrengungen erfordert.
Bislang gibt es in der Wissenschaft keine klare Abgrenzung zwischen den Zuschreibungen "Behinderung" und "Schwerstmehrfachbehinderung". Auch eine gültige Definition zu "Schwerstmehrfachbehinderung" liegt nicht vor. In § 2 SGB IX wird in Absatz 1 "Behinderung" wie folgt definiert: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist."1 In Absatz 2 an gleicher Stelle des Gesetzes wird "Schwerbehinderung" bestimmt: "Menschen sind im Sinne des Teils 2 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben."
1982 bezeichneten Ursula Haupt und Andreas Fröhlich die "Schwerstbehinderung" als eine komplexe Behinderung in vielen Fähigkeits- und Tätigkeitsbereichen, die den gesamten Menschen in allen seinen Lebensvollzügen beeinträchtigt. Es sind dabei in der Regel alle emotionalen, kognitiven, körperlichen und sozialen Fähigkeiten betroffen. Es handelt sich also nicht um eine einzige Beeinträchtigung. Das heißt auch, dass sich verschiedene individuelle Beeinträchtigungen gegenseitig bedingen, verstärken und/oder verursachen können und in Wechselwirkung mit den Barrieren und Hindernissen der Umgebung zur Schwerst- beziehungsweise Schwerstmehrfachbehinderung führen.2
Die wichtigste und vielfach existenzielle Sozialleistung für Menschen mit schwerstmehrfacher Behinderung ist die sogenannte "Eingliederungshilfe" (seit 1. Januar 2017 als Teil 2 des SGB IX, aber bis 1. Januar 2020 nach SGV XII § 53 ff.). Der derzeit noch gültige § 53 SGB XII (bis 31. Dezember 2022) beschreibt die Aufgaben der Eingliederungshilfe wie folgt:
"(3) Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen."3
Klaus Lachwitz, ehemaliger Geschäftsführer der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.?V., schrieb 2013 über die Eingliederungshilfe: "Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen […] ist von Anfang an als Rechtsanspruch ausgestaltet worden. Dies ist nicht selbstverständlich, denn in zahlreichen anderen, mit der Bundesrepublik Deutschland vergleichbaren Industrienationen ist die sozialstaatliche Hilfe für Menschen mit Behinderungen nur eine Ermessensleistung, die von der jeweiligen Haushaltslage des Staates beziehungsweise der Städte und Gemeinden abhängig ist […]."4 Nach Lachwitz und vielen anderen muss dieser verankerte individuelle Rechtsanspruch - wenn auch aus dem Fürsorge-Paradigma entstanden - der Ausgangspunkt für weitergehende rechtliche und gesellschaftliche Schritte sein, um Menschen mit Behinderung mehr Teilhabe und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Eine Verankerung dafür sehen viele in der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die in Deutschland vorbehaltlos 2009 verabschiedet worden ist und in Artikel 1 festhält:
"Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können."5
Anzahl der Betroffenen ist schwer messbar
Die Hinführungen und rechtlichen Voraussetzungen zeigen, dass die digitale Teilhabe von Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen nicht leicht zu fassen ist und dass deshalb auch der Gesetzgeber als Rahmen- und Sicherungsgeber Klärungen bieten muss. Die Anzahl schwerstmehrfachbehinderter Menschen in Deutschland, die ganz oder teilweise von der digitalen Teilhabe ausgeschlossen ist, lässt sich nicht genau bestimmen. Es wäre beispielsweise nicht legitim, alle rund 900.000 Empfänger(innen) von Eingliederungshilfeleistungen unter diese Gruppe zu subsumieren. Dennoch geben die Hinweise und Begriffsannäherungen eine Orientierung, welche Zielgruppe gemeint ist. Dazu zählen die etwa 200.000 Menschen, die heute noch in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie leben und täglich auf intensive Begleitung, Unterstützung und Pflege angewiesen sind. Auch von den 300.000 Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) arbeiten - und von denen etwa die Hälfte identisch ist mit der Gruppe der Heimbewohner(innen) - sind viele in der gesuchten Zielgruppe. Nicht zu vergessen die etwa 85.000 Menschen, die derzeit vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen sind.
Per Augensteuerung
kommunizieren
Ein Beispiel für gelingende technische und digitale Teilhabe von Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen ist der von Tom Bieling entwickelte Lorm-Handschuh, der es taubblinden Menschen ermöglicht, zu kommunizieren und Informationen zu beschaffen6. Das Unternehmen Humanelektronik in Worms, in dem Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mitarbeiten, entwickelt Hard- und Software, mit der motorische und kognitive Einschränkungen ausgeglichen werden können. Mit dem Produkt SeeTech® kann per Augensteuerung kommuniziert werden.7 Spannend ist auch die "Schatzkiste", eine internetbasierte Partnervermittlung für Menschen mit Behinderung. Auch schwerstmehrfach behinderte Menschen können hier mit Assistenz auf Partnersuche8 gehen. Die wenigsten der guten Technologien und Innovationen sind allerdings über die geltenden Sozialgesetze refinanziert, was den Zugang für viele unmöglich macht. Die Anpassung der Gesetze und entsprechenden Verordnungen hinkt hier extrem hinterher.
In ihrer beachtenswerten Studie "Assistierte Freiheit" warnt Sigrid Graumann mit Blick auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie sie in der BRK verankert sind, vor übertriebenen Inklusions-Erwartungen: "Die Verwirklichung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte […] erfordert die Bereitstellung von erheblichen Ressourcen der Gemeinschaft. Wie weit allerdings die Verpflichtung für den Staat geht, diese Ressourcen bereitzustellen, ist ausgesprochen umstritten. Oft werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte als politische Zielbestimmung mit geringerer rechtlicher Verpflichtungskraft dargestellt als die bürgerlichen Freiheitsrechte und die politischen Rechte."9
Es fehlt an Konzepten und Infrastruktur
Das Zitat bietet den entscheidenden Hinweis auf das, was es gesellschaftlich immer wieder neu zu diskutieren gilt - welche Mittel will, kann, soll eine Gesellschaft bereitstellen, damit alle, eben auch schwerstmehrfachbehinderte Menschen - gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Gütern und Freiheiten teilhaben und diese mitgestalten können. Diese Frage ist sowohl eine rechtlich-politische als auch eine sozialwirtschaftliche und ethische. Sie erfordert Augenmaß und Sensibilität, darf aber nie den menschenrechtlichen Grundsatz preisgeben.
Die digitale oder technische Teilhabe von Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen wurde bislang nicht valide untersucht. Die Wahrnehmung von Expert(inn)en und Selbstvertretungsorganisationen ist jedoch extrem ernüchternd. Aus deren Sicht gibt es diese Teilhabe bislang kaum. Es fehlt an der technischen Infrastruktur, an entsprechenden Konzepten, an Geräten und Programmen, die individuellen Ansprüchen genügen, an Fachkräften, die adäquat unterstützen können, an vereinfachten (aber dennoch datenschutzrechtlich gesicherten) Internetzugängen und vielfach am Willen, etwas auszuprobieren. Das muss sich ändern! Viele Profis der Behindertenhilfe und Psychiatrie stehen bereit, Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen den digitalen und technischen Zugang zu ermöglichen, und sind dankbar für neue Impulse, für Veränderungen, die das Gewohnte und Exklusive durchbrechen.
Anmerkungen
1. SGB IX, Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, Stand 1. Januar 2017, zitiert nach Bundesgesetzblatt Nr. 66 vom 29. Dezember 2016.
2. Fröhlich, A.; Haupt, U.: Entwicklungsförderung schwerstbehinderter Kinder. Mainz, 1982, S. 22 f.
3. SGB XII, Sozialhilfe, Stand 1. Januar 2017, zitiert nach Bundesgesetzblatt Nr. 66 vom 29. Dezember 2016. Siehe auch: www.gesetze-im-internet.de/sgb_12
4. Lachwitz, K.: Die Entwicklung der Eingliederungshilfe. In: Punkt und Kreis, Johanni 2013,
S. 17.
5. UN-Behindertenrechtskonvention: www.behindertenrechtskonvention.info/der-zweck-der-un-behindertenrechtskonvention-3754
6. https://bit.ly/2TLWZoi
7. https://humanelektronik.de/produkte/seetech
8. www.schatzkiste-partnervermittlung.eu/sites/default/files/schatzkiste/artikel_bar_3-2018.pdf
9. Graumann, S.: Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte. Utrecht, 2009, S. 13.
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