Im Demenzdorf: ein Leben in der Illusion
Nicht wenige Angehörige von Menschen mit Demenz schöpfen neue Hoffnung. Nicht weil ein Wundermittel gefunden wurde, das die sogenannte Demenz vom Typ Alzheimer heilen oder gar verhindern könnte. Das liegt in weiter Ferne. Ihre Hoffnung ist vielmehr, dass es einen guten Ort geben könnte, so etwas wie ein Dorf der Vergesslichen. Das klingt nach Idylle, nach überschaubaren Verhältnissen, nach Selbstbestimmung in der Gemeinschaft Gleicher: Die anderen sind schließlich auch vergesslich. Niemand, der seiner alten Mutter oder seinem alten Vater ein Leben in derartiger Umgebung ermöglicht, muss sich vorwerfen lassen, er habe sich eines lästigen Angehörigen entledigt. Das hört bisweilen, wer die aufwendige Betreuung und irgendwann vielleicht auch Pflege nicht mehr leisten kann - oder will, was legitim ist. Denn die verwirrten Alten sind ja gut aufgehoben, in einem Demenzdorf, von dem in letzter Zeit viel zu hören ist.
Weesp, ein Städtchen vor den Toren Amsterdams. Wenn Radfahrer warten, dass sich die Klappbrücke wieder schließt, und verträumt den Segelbooten hinterherblicken, zwischen Grachten und kleinen geduckten Häusern die mit Ziegeln gepflasterte Straße entlangfahren, entspricht das dem Bild, das in Reiseprospekten vom Leben in einer holländischen Kleinstadt gezeichnet wird. Ein paar Ecken weiter, vorbei am Supermarkt, wo die Straßen breiter und asphaltiert sind, gesäumt von Gewerbebauten, liegt zwischen riesigen Wohnblocks der in sich geschlossene Komplex De Hogeweyk. Die Flügel der großen Glastür gleiten zur Seite, man steht in einem Foyer mit Anmeldetresen. Der Blick fällt auf einen Platz - jenseits einer weiteren Glastür. Die öffnet sich nur, wenn die erste, die äußere, wieder geschlossen ist. Wegen der Sicherheit. Das ist also der Eingang zum Demenzdorf, dessen Ruf um die Welt ging.
Ein Ort, wo sich Menschen mit Demenz wohlfühlen
"Nein, wir haben kein Demenzdorf gebaut", stellt die Leiterin Yvonne van Amerongen-Heijer klar. "Wir haben eine Umgebung entwickelt, in der Menschen mit schwerer Demenzkrankheit sich wohl- und sicher fühlen und wo man ein normales Leben haben kann." Der Begriff Demenzdorf stamme von Journalisten, die offensichtlich beeindruckt waren von dem, was sie gesehen hatten.
Ein normales Leben. Das ist es, was dieses Projekt für viele Menschen so faszinierend macht, weil genau das den Bewohner(inne)n vor ihrem Umzug in die Einrichtung nicht mehr möglich schien. Eine Normalität hinter einer Sicherheitsschleuse. Die funktioniert in umgekehrter Richtung genauso: Wer den kleinen Platz überquert und in der Eingangshalle steht, muss warten, bis sich die innere Tür geschlossen hat, damit die äußere aufgeht. "Es scheint so, dass man nicht frei ist, rauszugehen und reinzukommen; das ist aber nicht so", sagt die Leiterin. "Es ist aber so, dass unsere Bewohner draußen nicht sicher sind. Denn die verstehen die Umwelt nicht, nicht den Verkehr, nicht was geschieht."
Also bleiben sie drinnen. Nun gilt es in Zeiten der vielbeschworenen Inklusion dafür zu sorgen, dass auch diese Menschen mit der erforderlichen Unterstützung in ihrer angestammten Umgebung bleiben können - so sie es wollen. Das sei auch das Ziel der Politik in den Niederlanden, führt van Amerongen aus, und es gelinge bei etwa 85 Prozent der Menschen mit Demenz. Bei 15 Prozent aber nicht, und für die sei die Einrichtung ein guter Ort.
Ein Platz, ein Theater und eine Kneipe
150 Menschen - in unterschiedlichen Stadien einer Demenz - leben in De Hogeweyk. Und tatsächlich mutet es an wie ein kleines Dorf: An das Verwaltungsgebäude mit der Eingangshalle grenzt das Theater. Auf dem Platz davor stehen Gartenstühle und laden bei gutem Wetter zum Verweilen ein. Wer dort sitzt, blickt auf die Kneipe an der Ecke gegenüber; es hängt das Schild derselben Brauerei über der Tür wie an der Kneipe ein paar Straßen weiter im Zentrum. Daneben eine Halle mit angrenzendem kleinen Supermarkt und einem Restaurant. Daran vorbei geht es zu den Wohnhäusern, zweistöckig, die Gasse entlang, über einen bepflanzten Innenhof, eine Treppe rauf, über einen breiten Gang unter freiem Himmel - zu einer der zwanzig Wohngruppen. Zu Henks Gruppe.
Es ist zehn Uhr morgens und Henk ist wieder ein bisschen müde. In einem geräumigen Wohnraum - im Zentrum der große Esstisch, dahinter eine offene Küche - liegt er angezogen auf dem Sofa, die Pantoffeln ordentlich davor abgestellt, und wacht gerade auf. Die Kuckucksuhr an der Wand tickt leise, eine der Betreuerinnen stellt ein Tablett mit Bechern auf den Tisch. Zeit für den Vormittagskaffee. Dazu - wir sind in Holland - gibt es Poffertjes, frisches Schmalzgebäck. Mit sechs anderen Frauen und Männern lebt der Achtundsiebzigjährige in dieser Gruppe. Alle haben ihr eigenes Zimmer, individuell gestaltet - bis auf das Bett. Das stellt das Haus, denn irgendwann könnte Pflege nötig sein. Henk hat eine Kommode mit allerlei Krimskrams mitgebracht, eine Menge Fotos und den Sessel in der Ecke.
Von Beruf Handwerker lebt er im sogenannten häuslichen Stil: aufgeräumt, gemütlich, schlicht - wie wahrscheinlich viele Menschen in den Niederlanden. Es ist eine Grundlage des Konzepts, das bisher geführte Leben weiterzuführen - wenn auch unter besonderen Umständen. So gibt es in anderen Wohngruppen den bäuerlichen Stil, den indonesischen wegen der kolonialen Vergangenheit des Landes und den bürgerlichen. Da ist die Polstergarnitur etwas üppiger, überm weiß gedeckten Tisch funkelt der Kronleuchter und in der Vitrine in der Ecke steht guter Wein.
Das besondere an De Hogeweyk ist, dass der Aufenthalt in allen Wohngruppen denselben Preis hat: 5000 Euro. Das weckt die Befürchtung, auch die einfache Ausstattung bei den Handwerkern sei nur etwas für Gutbetuchte. Yvonne van Amerongen widerspricht vehement. Das sei genau die Summe, die auch in anderen Einrichtungen fällig werde - und werde zudem voll aus den Sozialkassen finanziert. Besondere Freizeitangebote werden individuell in Rechnung gestellt.
Henk geht am Vormittag zum gemeinsamen Singen in die Kneipe. Also den breiten Gang unter freiem Himmel im ersten Stock entlang, mit dem Aufzug runter, zum zentralen Platz. Es sind vielleicht fünfzig, sechzig Meter. Johanna, seine Freundin aus der Gruppe, soll mitkommen. Sie sitzt im Rollstuhl, Henk will sie schieben. Aber er steht an der Tür und wartet, wartet, dass eine Betreuerin Zeit hat, beide zu begleiten. Denn Henk findet den kurzen Weg, den er so oft geht, nicht allein. Johanna ist ihm da keine Hilfe.
Ein Dorfleben zu leben bleibt eine Illusion
An diesem Punkt wird klar, dass die Hoffnung, Menschen mit Demenz könnten in einer solchen Umgebung so etwas wie ein Dorfleben fortsetzen oder neu für sich entdecken, eine Illusion ist. An die glauben die gern, die, genervt vom unerträglich gewordenen Alltag, sich nicht aufs Gewissen laden wollen, ihren Angehörigen in ein Heim abgeschoben zu haben - was ihnen mehr oder weniger offen nachgesagt wird. Die Vorstellung vom Dorfleben hat den Charme, dass die Bewohner(innen) nicht nur an einem anderen Ort sicher untergebracht sind, gut ver- und eventuell gepflegt werden, bespielt und unterhalten, sondern dass sie sich ja frei in ihrem Dorf bewegen können. Das hat vielleicht mehr mit den Wünschen der Angehörigen draußen zu tun als mit dem realen Leben drinnen. Natürlich dürfen die Bewohner(innen) allein durch ihr Dorf laufen. Die Frage ist, ob sie es können.
Besucher aus der Nachbarschaft sind selten
Es gibt den Supermarkt, in dem die Betreuer(innen) Lebensmittel und Dinge des Alltags einkaufen und wohin die Bewohner(innen) sie begleiten können. Es gibt das Restaurant, das auch Besucher(inne)n von draußen offensteht, genauso wie das Theater. Diese Möglichkeiten nutzte zur Zeit meines Besuches nur selten jemand, lasse ich mir erklären. Das mag an der Nachbarschaft in den riesigen Wohnblocks liegen und an der Entfernung vom Zentrum.
Verabschiedet man sich von der Idee des Dorfes - die offensichtlich so verlockend war, dass die Betreiber den Begriff mittlerweile auf ihrer Homepage übernommen haben - dann reduziert man De Hogeweyk auf die Tatsache, "Verpleeghuis" zu sein, also ein Pflegeheim, als das Yvonne van Amerongen die Einrichtung schließlich selbst bezeichnet hat. Da gibt es in der Tat erhebliche Unterschiede zu anderen Heimen: Während normalerweise die Bewohner(innen) ihre Station verlassen und lange Gänge entlanggehen, um zur Physiotherapie in ein anderes Stockwerk zu kommen, verlassen sie in De Hogeweyk - eventuell in Begleitung - das Haus ihrer Wohngruppe und gehen durch die Gassen über den Platz zum flachen Praxisgebäude. Das hat schon was. Aber es ändere grundsätzlich am Ausgrenzungscharakter eines Heims, einer Institution nichts, kritisiert der Sozialpsychiater Klaus Dörner. Und der Soziologe Reimer Gronemeyer fordert, wir sollten uns erst mal klar darüber werden, warum uns Menschen mit Demenz so auf die Nerven gehen. Nicht den jeweiligen Angehörigen, die sich in ihrer tagtäglichen Sorge aufreiben. Sondern den anderen. Offensichtlich muss, wer irgendwie neben der Spur ist, aus unserem Alltag verschwinden. Wir sind froh, nicht mit ihm konfrontiert zu werden, machen denen, die sich mit zurückziehen, dann aber Vorwürfe, wenn sie die Enge dieser häuslichen Gemeinschaft nicht mehr aushalten. Denn ein Leben im Heim erscheint vielen schlicht als Horror. Ob zu Recht, ist eine andere Frage.
Die Kontroverse um Einrichtungen wie De Hogeweyk kennen wir schon aus dem Umgang mit Behinderung: keine Sonder-Institutionen, keine Ausgrenzung, sondern Akzeptanz der Menschen, wie sie sind, und Hilfe dort, wo sie die brauchen. Das heißt, die Forderung, Menschen mit Behinderung müssen im Alltagsleben sichtbar sein, auch auf Menschen mit Demenz zu übertragen. Das bedeutet nicht, die Institutionen ersatzlos abzuschaffen. Damit würden viele Probleme verschwinden, aber nicht alle. Doch Menschen, die nicht mehr allein leben können, aber auch nicht im Kreise ihrer Angehörigen, sollen nicht in einer geschlossenen Institution verschwinden. Vereinzelt gibt es Wohngemeinschaften oder Wohnpflegegemeinschaften, Demenz-WGs oder wie sie genannt werden. Das Prinzip ist - wie auch in De Hogeweyk -, mit Hilfe von Begleiter(inne)n den Alltag zu bewältigen, bewahrt vor Gefahren. Aber eben in einem Wohnquartier, in einer Nachbarschaft, präsent beim Einkaufen im Supermarkt und beim Spazierengehen im Park.
Begeisterte Besucher(innen) erzählen nach ihrer Rückkehr aus Holland gern, sie hätten nur zufriedene Gesichter gesehen. Eine solche Aussage über Menschen ohne Demenz würde unser Misstrauen wecken. Zudem ist die persönliche Zufriedenheit zwar ein wichtiger Faktor, aber nicht der einzige: Die gesellschaftliche Herausforderung besteht darin, Menschen mit Demenz in der Nachbarschaft und im Quartier zumindest zu dulden. Nicht verbannt aus unserem Alltag, irgendwo hinter Mauern. Wir sind gefordert, ihnen ein Leben mit Unterstützung in unserer Mitte zu ermöglichen.
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