Ein Aachener Stadtteil hält zusammen
Menschen mit Demenz brauchen das Gefühl, in ihrem Stadtteil oder ihrem Dorf weiterhin gut und sicher leben zu können. Dabei ist es wichtig, dass sie die Hilfestellung bekommen, die sie brauchen.
Demenz ist immer noch ein Thema, das bei den Menschen Angst und Verunsicherung auslöst. Angehörige von Menschen mit Demenz sind zu einem großen Teil überfordert, weil sie von der Erkrankung überrascht werden. Viele von ihnen brauchen dann schnellstmöglich Beratung und Hilfe.
Das direkte Umfeld - Nachbarn, Freunde, Geschäftsleute - kann hier einen sinnvollen Beitrag leisten, dass demenziell erkrankte Menschen und deren Angehörige Akzeptanz und Unterstützung in alltäglichen Situationen finden. Vor diesem Hintergrund hat das Seniorenzentrum am Haarbach das Projekt "demenzfreundlicher Stadtteil" ins Leben gerufen.
Das Seniorenzentrum ist eine offene Einrichtung mit neun Doppelzimmern, 51 Einzelzimmern, sechs Wohnungen des Betreuten Wohnens und Begegnungszentrum. Darüber hinaus ist das Haus internationales "Marte Meo"-Informations- und Ausbildungszentrum: Seit einigen Jahren arbeitet das Seniorenzentrum mit der "Marte Meo"-Methode, einer videogestützten Interaktionsanalyse. Angehörige und Interessierte erhalten mit diesem Instrument die Möglichkeit, eigene Sequenzen aus dem Alltag mit ihrem demenziell veränderten Angehörigen oder Bekannten fachlich begleitet zu reflektieren. "Marte Meo" ist für das Seniorenzentrum am Haarbach ein besonders wichtiges Element der Wissensvermittlung zum Thema Demenz, weil es von Laien und Fachleuten gleichermaßen angewendet werden kann. Mit dieser Methode möchte das Zentrum zur Enttabuisierung des Themas Demenz beitragen. Motivation ist, dass der Umgang mit den Betroffenen zur Normalität wird, und das über den Kreis der Angehörigen hinaus.
Demenzfreundlicher Stadtteil mit "Marte Meo"
Bereits im Januar 2015 wurde die Idee, aus Haaren einen demenzfreundlichen Stadtteil zu machen, öffentlich beim Neujahrsempfang des Stadtbezirks vorgestellt. Die teilnehmenden Vertreter(innen) aus Politik, Geschäftsleben, Kirchen, Vereinen und Behörden sagten ihre Unterstützung zu. Ein Fachtag zum Thema Demenz Ende 2015 fand breite regionale Unterstützung. Die Menschen im Stadtteil bekamen richtig Lust auf das Projekt. Dies wurde auch durch die enorme Beteiligung am Fachtag mit 300 Teilnehmer(inne)n vorwiegend aus dem Stadtteil deutlich. Referentin der Tagung war neben anderen Demenzfachleuten Maria Aarts, die Begründerin der "Marte Meo"-Methode.
Im November 2015 gewann das Projekt den Rudi-Assauer-Preis, die Laudatio hielt Franz Müntefering auf Schalke. Diverse positive Fernseh- und Rundfunkbeiträge trugen zur Identifizierung mit dem Projekt bei: "Man" spricht darüber, und das Thema Demenz bleibt im Bewusstsein.1
Inzwischen ist das Seniorenzentrum am Haarbach eine zentrale Anlaufstelle für Interessierte und Betroffene, wo sie sich allgemeinen Rat rund um das Thema Pflegebedürftigkeit und Demenz einholen können. Dabei arbeitet die Einrichtung mit vielen Netzwerkpartner(inne)n innerhalb und auch außerhalb Haarens zusammen.
Von September 2016 bis Oktober 2018 hat das Senioren- und Begegnungszentrum am Bundesförderprogramm "Lokale Allianzen für Menschen mit Demenz" teilgenommen, gefördert vom Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend. Dadurch war es möglich, ganz gezielt Aktionen zu fördern, die die an Demenz erkrankten Menschen unterstützen und zugleich nicht erkrankten Menschen den Umgang mit den Kranken erleichtern. So wurde zum Beispiel ein Chor für alle gegründet oder andere Möglichkeiten der Begegnung geschaffen wie Tanzabende, Adventnachmittage oder kulinarische Themenabende, ein Reparaturkreis, ein Handarbeitskreis, Literaturangebote oder Konzerte für Menschen mit und ohne Demenz. Unterstützt wurden diese Veranstaltungen durch ehrenamtliche, in der "Marte Meo"-Methode geschulte Multiplikator(inn)en (zum Beispiel der Vorsitzende der IG Haarener Vereine, Geschäftsinhaber(innen) oder Mitglieder des Heimatvereins). Zielgruppe der Veranstaltungen waren vorwiegend Senior(inn)en im Alter von 50 bis 85 Jahren aus der Nachbarschaft. Hinzu kamen "Marte Meo"-Schulungen für Angehörige, Ehrenamtliche und interessierte Nachbarn oder Infoveranstaltungen rund um das Thema Pflege und Demenz, weil das Informationsbedürfnis im Stadtteil sehr hoch war. Auch die freiwillige Feuerwehr Haaren wurde zum Thema "Umgang mit demenziell veränderten Menschen in Einsatzsituationen" geschult. Gerade bei Einsätzen der Feuerwehr gilt es, sensibel mit demenzerkrankten Menschen umzugehen.
Jeder darf so sein, wie er ist
Die Toleranz gegenüber den demenziell veränderten Menschen war zunehmend spürbar. Der Tenor: "Es könnte uns ja später auch betreffen, dann wollen wir auch, dass man gut mit uns umgeht." Was für den einen oder anderen im Kontakt vielleicht am Anfang ungewohnt erschien, ist jetzt Normalität. Jeder darf und soll so sein, wie er ist, und wird so von der Gemeinschaft getragen. Dies ist ein sozialer Grundgedanke, den viele aus den dörflichen beziehungsweise alt gewachsenen Stadtteilen kennen und leben wollen.
Das Thema Demenz ist stärker in das Bewusstsein der Bewohner(innen) der Stadtteile Haaren und Verlautenheide gerückt. Die Menschen sind aufmerksamer für Senior(inn)en und ihre Bedürfnisse geworden. Sie nehmen immer mehr wahr, wo Betroffene Hilfe benötigen, und sie geben diese Informationen an die entsprechenden Stellen, wie zum Beispiel an das Seniorenzentrum, weiter. Es ist schön zu sehen, dass sich demenziell veränderte Menschen selbstverständlicher im Stadtteil bewegen können und als Teil der Gesellschaft anerkannt sind, dass den Menschen mehr zugetraut wird wie zum Beispiel das selbstständige Einkaufen oder der Besuch beim Friseur.
Auch nach Abschluss des Projekts legt das Seniorenzentrum Wert auf Nachhaltigkeit und wird weiterhin Veranstaltungen und Schulungen zum Thema Demenz anbieten. Ziel ist, dass die Begegnung für beide Seiten gut gelingt und positiv erlebt wird: Wenn die Grundhaltung eines sorgenden Stadtteils von vielen Menschen gelebt wird, dann vermitteln diese den an Demenz Erkrankten das Gefühl, noch als Person wahrgenommen zu werden, nicht vergessen zu sein und aktiv sein zu können.
Anmerkung
1. RTL-Beitrag "Leben mit Demenz - ein ganzer Stadtteil hält zusammen": http://rtlnext.rtl.de/videos/leben-mit-demenz-ein-ganzer-stadtteil-haelt-zusammen-461881.html?c=d0ba
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