Das Bild von Menschen mit Demenz überdenken
Das Thema Demenz mit den Stichworten Selbstbestimmung und gesellschaftliche Verantwortung zu verbinden, bedeutet nicht, die Binsenweisheit zu verbreiten, dass die Freiheit des Einzelnen in der Freiheit der anderen eine Grenze findet. Das sollte immer noch Richtschnur einer zivilen Gesellschaft sein. Es geht darum, auszuloten, inwiefern die Gesellschaft für Möglichkeiten zur Selbstbestimmung - auch eines Menschen mit Demenz - verantwortlich ist. Klingt theoretisch, ist aber ganz praktisch.
Eine 69-jährige Frau antwortet mir bei einer Umfrage auf der Straße, warum ihr das Thema Demenz Angst macht: "Weil ich meiner eigenen Sinne nicht mehr Herr bin, weil ich darauf angewiesen bin, dass man es mit mir gut meint?…" Sie fürchtet also - wie viele andere auch -, nicht mehr über sich selbst bestimmen zu können und auf das Wohlwollen der Menschen in ihrem Umfeld angewiesen zu sein, sollte sie die Kontrolle über sich verlieren und mit ihrem Verhalten den Rahmen dessen sprengen, was andere als normal definieren. Es kommt darin die Sorge zum Ausdruck, dass ihre Beziehungen einer solchen Belastung nicht standhalten könnten.
Die Normalität ist ein fragiles Konstrukt, auch wenn manche das, was sie für normal halten, als etwas Natürliches bezeichnen, sich gar auf so etwas wie eine "gottgewollte Ordnung" beziehen. So scheint es etliche Menschen zu überfordern, sich analytisch dem Phänomen Demenz zu nähern. Wir erleben immer wieder die Kontroverse um die Einordnung dessen, was landläufig als Morbus Alzheimer bezeichnet wird. Für die einen ist es eine Form des Alterns, für andere eine Krankheit. Mit den Krankheiten ist das so eine Sache: 1992 - das ist noch keine drei Jahrzehnte her - war etwa Homosexualität im internationalen Klassifikationssystem "ICD 9" unter der Nummer "302.0" als eine Krankheit verzeichnet, die behandelt werden sollte. Das mutet heute grotesk an.
Der Begriff der Normalität wird zunehmend eingeengt - indem Handlungen, die bisher als nicht wünschenswert, aber noch als zum Spektrum menschlichen Verhaltens zugehörig betrachtet wurden, nun als pathologisch gelten sollen. Der amerikanische Psychiater Allan Frances, langjähriger Autor des Manuals für die Erfassung psychischer Krankheiten (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) hat diesen Trend angeprangert.1
Die Grenze der Fürsorglichkeit ist schwer festzulegen
Sozialwissenschaftler wie Reimer Gronemeyer kritisieren die Medikalisierung der Demenz. Offensichtlich besteht ein gesellschaftlicher Konsens darin, dieses Phänomen der Medizin und Pflege zu überantworten. Und damit auch die Menschen, die es betrifft. Das hat Konsequenzen für unseren Blick auf sie und unseren Umgang mit ihnen, hat Konsequenzen für die Frage, welche Selbstbestimmung wir ihnen zugestehen. Der Deutsche Ethikrat hat jüngst professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung untersucht.2 Es ist eine Herausforderung, unter den Bedingungen einer fortschreitenden Demenz die Selbstbestimmung der Betroffenen zu wahren. Mir geht es hier aber um ein frühes Stadium. Selbstbestimmung und Verantwortung sind mögliche Konfliktpunkte für diejenigen, die Sorge tragen für Menschen mit Demenz, gerade in der Anfangsphase. Es geht ihnen darum, die Verwirrten vor Gefahren zu bewahren - bis hin zum Vermeiden kleiner alltäglicher Risiken. Die Grenze der Fürsorglichkeit dabei zu bestimmen, ist schwierig. Ein Beispiel:
Hans-Ulrich Wolters3, zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 61 Jahre alt, Diagnose Demenz vom Typ Alzheimer, fühlt sich von seiner Frau fürsorglich belagert: Sie will nicht, dass er weiterhin allein mit dem Fahrrad unterwegs ist, in der Gegend, die er von Kindesbeinen an kennt: "Das macht mir keinen Stress, das ärgert mich nur, dass man kein Vertrauen hat, wenn ich sage: Ich kann das. Dass man nicht auch dazu steht. Das ist ja schließlich mein Risiko, das nehme ich in Kauf. Wenn irgendwas passiert, dann fall’ ich eben auf die Nase oder wer weiß was auch immer. Und ich nehme auch das in Kauf." Er ist sich des Risikos bewusst, schließlich ist er Jahrzehnte lang Rad gefahren, und geht mit der Tatsache seiner Demenz planvoll um: Er hat immer Bargeld für ein Taxi in der Tasche und einen Zettel mit der Adresse, falls er die vergessen sollte.
Das Etikett "Demenz" schränkt die Freiheit ein
Man mag das Verhalten seiner Frau verständlich finden, vielleicht sogar richtig und angemessen. Schließlich hat er eine medizinische Diagnose. Expert(inn)en, auch medizinische Demenzforscher(innen), weisen auf die Gefahr hin, dass Menschen aufgrund einer solchen Etikettierung in ihren Freiheitsrechten und Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Bei Hans-Ulrich Wolters ist klar: Er will Rad fahren. Er mag diese Art der Bewegung und will sich nicht die Freiheit nehmen lassen, selbstständig unterwegs zu sein. Er ist in der Lage, diesen Wunsch klar zu formulieren und sich mit den Bedenken seiner Frau auseinanderzusetzen. Bisher ist er nicht vom Rad gefallen. Auch nicht, wenn er mit Frau und Freunden auf Tour war. Bei solchen Ausfahrten können sich die anderen vergewissern, dass er die Verkehrsregeln noch kennt und weiß: Wer von rechts kommt, hat Vorfahrt - sofern das nicht anders geregelt ist. Sie können auch sehen, wie schnell und flexibel er reagiert, wenn jemand ihm die Vorfahrt nimmt.
Wie groß ist die Gefahr tatsächlich? Sagt die Angst seiner Frau mehr über seine vorhandenen Fähigkeiten aus oder über ihre Befürchtung mutmaßlicher Defizite? Ist es so etwas wie instinktive Fürsorge, einen Menschen mit Demenz vor möglichst allen Gefahren und Risiken des Lebens bewahren zu wollen? Müsste sich die Ehefrau, wenn er tatsächlich vom Rad fallen sollte, vorwerfen lassen, sie habe verantwortungslos gehandelt? Hört sie vielleicht denselben Vorwurf, weil sie ihm nichts mehr zutraut, ihn einschränkt und ihm die Freude am Leben nimmt? Vielleicht kommt sogar jemand auf die Idee, das sei nun mal die Dynamik in einer langjährigen Beziehung: Sonst hat er immer gesagt, wo’s langgeht und jetzt ist es eben umgekehrt?...
Das Maß an Selbstbestimmung geht auch die Gesellschaft etwas an
Das Aushandeln, welches Maß an Selbstbestimmung ein Mensch mit Demenz wie Hans-Ulrich Wolters gegenüber seinen An- und Zugehörigen durchsetzen kann, ist in erster Linie Sache der Beteiligten. Aber nicht nur. An diesem Punkt ist auch die gesellschaftliche Verantwortung einzufordern - auf mehreren Ebenen: Wieso darf dieser Radfahrer nicht ein Risiko eingehen, das er vor der Demenz-Diagnose auch nicht gescheut hat? Liegt es an unserem Bild von Menschen mit Demenz, dass wir ihnen eine solche Entscheidung nicht zutrauen? Nun ist es - um diesem möglichen Einwand gleich zu begegnen - niemandem zuzumuten, einen Menschen, für den man sich verantwortlich fühlt, sehenden Auges ins Unglück rennen zu lassen. Es sollte aber zumutbar sein, die Grenze des Möglichen zu testen und vielleicht hinauszuschieben.
Zu fragen ist außerdem, ob Menschen mit Demenz verpflichtet sind, den Rest ihrer Tage bei bester Gesundheit zu verbringen, auch wenn ihnen dabei vieles, was sie noch erkennbar für sich in Anspruch nehmen möchten, versagt bleibt. So betont etwa der Pädagoge Erich Schützendorf das Recht der Alten auf Eigensinn. Statt eine Patientenverfügung abzufassen, hat er in einer Lebensverfügung detailliert aufgelistet, was die Menschen in seiner Umgebung mit ihm machen sollen, wenn er seine Wünsche nicht mehr verbalisieren kann.4 Diese Liste enthält durchaus "Unvernünftiges", etwa wenn er auf seine Lieblingsschokolade besteht, unabhängig davon, dass die vielleicht seinen Zuckerspiegel zum Entgleisen bringen könnte. Den erhöhten Pflegeaufwand, den seine Vorlieben nach sich ziehen könnten, wäre er bereit hinzunehmen. Er hält es für eine Zumutung, dass alle Welt sich Sorgen um seine Laborwerte machen könnte. Die interessieren ihn nicht - er will lebendig bleiben, bis zuletzt.
Das ist keine weltfremde Forderung: "Der Staat hat nicht das Recht, den Betroffenen zu erziehen, zu bessern oder zu hindern, sich selbst zu schädigen", wenn er über einen "freien Willen" verfügt, ist im Bundesanzeiger über die Pflichten eines gesetzlichen Betreuers zu lesen.5 Für das Personal in Schützendorfs künftigem Heim wird es eine Gratwanderung sein, beim Erfüllen seiner Wünsche nicht die eigenen professionellen Standards zu verletzen. Das ist schwierig und bedarf einer sorgfältigen Abwägung.
Jeder hat das Recht, sich selbst zu schädigen. Wir sehen täglich Menschen, die dies für sich in Anspruch nehmen, manche recht exzessiv. Verliert jemand dieses Recht, wenn andere der Meinung sind, es stehe ihm nicht mehr zu? Wer entscheidet das auf welcher Grundlage? Zu einer zivilisierten Gesellschaft gehört die Garantie der Freiheit, die nur aufgrund bestimmter Gesetze und in einem formalen Verfahren eingeschränkt werden darf. Das gilt selbstverständlich auch für Menschen mit Demenz. Handelt das Personal in einem Heim nicht dementsprechend, handelt es gesetzwidrig. Nicht immer wird das bekannt, abgestellt und geahndet. Und wir wissen nicht, was in manchem Haushalt geschieht.
Für Kinder und Jugendliche haben wir einen besonderen Schutz vorgesehen. So treffen Erwachsene die Entscheidung, ihnen den Zugang zu Suchtmitteln zu verbieten und zu erschweren. Denn deren mögliche gesundheitliche Folgen können sie nach unserer Einschätzung nicht überblicken und damit auch nicht verantwortungsbewusst entscheiden.
Welche Entscheidungen werden Menschen mit Demenz zugetraut?
Ist es bei Menschen mit Demenz genauso? Gern sagt man über sie, sie seien auf einem ähnlichen intellektuellen Niveau wie Kinder. Welche Entscheidungen trauen wir ihnen zu? Kann ein Vierzigjähriger, im vermuteten Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, verantwortungsbewusster steuern, dass er zu viel in sich reinstopft und -schüttet, sich zu wenig bewegt und - wie der Hausarzt, den er tunlichst meidet, sagen würde - seine Gesundheit zugrunde richtet?
Da kommt die Definition einer Demenz als Krankheit und die Betrachtung der Menschen mit Demenz als Kranke ins Spiel: Sie birgt erhebliche Risiken. Wenn ein Mensch mit diesem Etikett die Einschränkung seiner kognitiven Fähigkeiten nicht wahrhaben will, sagt man über ihn, ihm fehle die Krankheitseinsicht: Die Auflehnung gegen diese Etikettierung wird zum Beweis dafür, dass das Etikett richtig sei. Eine solche Krankheitseinsicht kann man dem beschriebenen Hans-Ulrich Wolters durchaus zubilligen. Durch seine Reaktion aber beweist er, dass er weder die Situation richtig einschätzen noch die Konsequenzen daraus ziehen kann, die andere für richtig halten. Als Kranker gekennzeichnet zu werden bedeutet, eine besondere Fürsorglichkeit ertragen zu müssen. Nun ist gegen Fürsorglichkeit nichts einzuwenden, wohl aber, wenn sie dem Umsorgten die Möglichkeiten nimmt, seine Selbstständigkeit zu leben und zu wahren.
Ein doppelter Schluss ist daraus zu ziehen: Wir müssen unser Bild von Demenz und von Menschen mit Demenz überdenken und wir dürfen diejenigen, die Sorge tragen, damit nicht alleinlassen.
Anmerkungen
1. Frances, A.: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont. 2013.
2. Deutscher Ethikrat (Hrsg.): Hilfe durch Zwang? Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von Wohl und Selbstbestimmung. Stellungnahme vom 1. November 2018.
3. Name von der Redaktion geändert.
4. Schützendorf, E.: Meine Lebensverfügung für ein gepflegtes Alter. München/Basel: Reinhardt, 2017.
5. www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Betreuerpflichten, 10. Oktober 2018.
Literatur
Plemper, B.: ...?und nichts vergessen?! Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 2018.
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