Das Wichtigste war, über erfahrenes Unrecht zu sprechen
Seit rund 30 Jahren feiern die Bewohner(innen) in Haus Hall ihr "Heimjubiläum" - angelehnt an die Jubiläen der Mitarbeiter(innen). Das heißt also nach 25, 40 und 50 Jahren. Inzwischen gibt es sogar schon 70- und 80-jährige "Zugehörigkeit".
Die Idee kam von den Bewohner(inne)n der Einrichtung für Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen in Gescher bei Coesfeld selbst: Als Anfang der 1990er-Jahre die ersten Mitarbeitenden ihr 25-Jähriges hatten, meldeten sich die Bewohner(innen) zu Wort, dass sie auch ihre Jubiläen feiern wollten. Seitdem begehen die Bewohner(innen) mit großer Freude ihr Heim- oder Haus-Hall-Jubiläum.
Bei diesen Festen werden die Jubilarinnen und Jubilare durch die Heimleitung geehrt. In den Ansprachen wird der Lebensweg nachgezeichnet - vor der Aufnahme in Haus Hall und wichtigste Stationen in der Einrichtung. Häufig führen die Reden dazu, dass sich die Geehrten, ihre Angehörigen oder die von den Bewohner(inne)n eingeladenen früheren Mitarbeitenden und die Mitbewohner(innen) an weitere Einzelheiten erinnerten, an Mitarbeiternamen, an ehemalige Mitbewohner(innen), an die früher enge Personalbesetzung oder an besondere Urlaubsaktionen.
Häufig berichteten gerade ältere Bewohner(innen) von weniger schönen Erlebnissen, von der Enge in den Gruppen, dass es nur große Schlafsäle gab, keine Bäder in den Gruppen, sondern nur Duschen im Keller. Sie sprachen von den strengen Regeln, dass Jungen und Mädchen nicht miteinander sprechen durften, jeden Morgen Messe war, bei Tisch nicht gesprochen werden durfte, von der schweren Arbeit der Männer in der Landwirtschaft oder der Frauen in der Küche, im Nähzimmer und in den Wohngruppen der Kinder. Und sie erzählten dabei spontan oder auf Nachfrage von den vielen Strafen, denen sie oder Mitbewohner(innen) zum Teil ausgesetzt waren. Sie konnten sehr wohl die Menschen unterscheiden, die es gut mit ihnen meinten, und diejenigen, die hartherzig waren - egal ob Ordensschwestern oder
-brüder oder weltliche Mitarbeitende. Meist waren die Erinnerungen begleitet von Aussagen wie "Früher war alles viel strenger", "Gut, dass es heute anders ist" oder "Lass uns nicht mehr davon sprechen - das ist vorbei".
Von "pädagogischer" Gewalt sprachen viele
Im Zusammenhang mit den ersten Erfahrungsberichten der "ehemaligen Heimkinder" und der Einrichtung des sogenannten "Heimkinderfonds" wurde in Haus Hall 2010 erstmals versucht, Informationen über die früheren Jahre in der Einrichtung zu bekommen. Bewohner(innen), von denen angenommen wurde, dass sie sich erinnern und darüber verständlich berichten können, wurden zu einem offenen Austauschgespräch eingeladen. Allen wurde zugesichert, dass sie sich jederzeit auch noch an Personen ihres Vertrauens wenden können, wenn sie weiteren Gesprächsbedarf oder den Wunsch nach Unterstützung haben. Nur Einzelne der Eingeladenen wollten nicht an dem Gespräch teilnehmen.
Ergebnis dieses Austauschgesprächs war: Keiner der Eingeladenen konnte oder wollte von Erfahrungen oder Ereignissen zum Thema sexueller Missbrauch durch Mitarbeitende an Betreuten berichten. Aber alle schilderten viele Vorfälle von "pädagogischen" Gewaltmaßnahmen und unwürdiger Behandlung. Es wurde deutlich, dass es den Bewohner(inne)n sehr wichtig war, angstfrei über ihre Erfahrungen sprechen zu können, dass ihnen geglaubt wurde und dass das Unrecht solcher Handlungen von der anwesenden Heimleitung bestätigt wurde. Ihr Erleben und ihre Gefühle und damit ihre Person wurden dadurch rückwirkend wertgeschätzt und auch "rehabilitiert". Für manche war dies schon ein oder auch der wichtige Schritt zu einer "Heilung" oder Versöhnung mit ihrer Lebensgeschichte.
Mit diesem offenen Austausch einiger Betreuter mit der Heimleitung war das Thema auf jeden Fall in der Einrichtung enttabuisiert und offen - und es gab immer wieder neue, auch Einzelgespräche mit weiteren Bewohnern darüber. Auf eine eigene wissenschaftliche Aufarbeitung wurde damals bewusst verzichtet. Haus Hall hat sich aber an der umfassenden Aufarbeitung der Heimkinderzeit in der katholischen Behindertenhilfe durch Annerose Siebert im Auftrag der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) beteiligt.1
Erst eine Infoveranstaltung brachte den Durchbruch
Als die Stiftung Anerkennung und Hilfe endlich startete, war es für Haus Hall selbstverständlich, vielen Bewohner(inne)n zu ermöglichen, Entschädigungsleistungen für erlittenes Unrecht zu erhalten. Die Informationen dazu wurden breit gestreut - im Infobrief für Angehörige und Betreuende. Da dies nicht ausreichte, fand im Oktober 2017 eine große Informationsveranstaltung statt.
Dazu wurden alle jetzigen Bewohner(innen) eingeladen und diejenigen, die zwischen 1949 und 1975 bereits in Haus Hall lebten, außerdem alle ehemaligen Bewohner(innen), die zurzeit noch ambulant betreut werden und Ehemalige, deren Adressen der Einrichtung bekannt sind. Zudem waren Angehörige, gesetzliche Betreuer(innen) sowie die betreuenden Mitarbeitenden der Bewohnerinnen und Bewohner eingeladen. Die Veranstaltung, bei der ein Mitarbeiter der Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe in einfacher und verständlicher Form über die Stiftung informierte, hatte großen Zulauf.
Für viele der anwesenden Betroffenen war das Wichtigste, über ihre Erfahrungen zu berichten - ohne Scheu, auch in der großen Öffentlichkeit. Für Angehörige, Betreuer(innen) und Mitarbeitende waren die Berichte in dieser Dramatik oft neu, zum Teil schockierend und unbegreiflich. Vieles war noch nie angesprochen worden, lag aber bei den Betroffenen präsent unter der Oberfläche.
Diese Veranstaltung setzte eine neue Dynamik in Gang: Die Betroffenen - sofern sie sich entsprechend artikulieren konnten - strebten schnellstmöglich einen Antrag auf Entschädigung an. Die Einrichtung hat begonnen, nicht nur auf Anfrage, sondern offensiv erforderliche Bescheinigungen für die Stiftung Anerkennung und Hilfe auszustellen und an die entsprechenden Stellen zu schicken. Inzwischen wurden über 90 Anträge ausgefüllt, die Mitarbeiter(innen) des LWL haben viele Gespräche geführt, etliche positive Bescheide sind bereits erfolgt und bei den Betroffenen ist schon Geld angekommen.
Oft bedarf es noch engerer Begleitung
Folgende Erfahrungen wurden gemacht:
- Betroffene, die sich verbal ausdrücken und über ihre Erfahrungen berichten können, sind hoch motiviert und drängen selbst auf eine Antragstellung.
- Sie entwickeln quasi rückwirkend eine ganz neue Selbst- und Fremdwahrnehmung früherer Situationen und daraus ein neues Selbstwertgefühl. Wichtig ist für sie immer auch die Bestätigung des Unrechts.
- (Berufs-)Betreuer(inne)n fällt es offensichtlich leichter, Entschädigung zu beantragen als Angehörigen. Die Betroffenheit Letzterer ist eine andere. Vielleicht stellen sie sich indirekt eine Art Schuldfrage: "Warum haben wir es nicht gesehen?"
- Bei Menschen mit schwerer Behinderung tun sich Betreuer(innen) aus unterschiedlichen Gründen schwer: "Hat er/sie das wirklich so erlebt? Wie kann die Befragung überhaupt erfolgen? Wie kommt man an die Infos? Wie soll man diese bewerten?"
- Manche ehrenamtliche Betreuer(innen), aber auch weiter entfernt lebende oder ältere Angehörige scheuen sich vor der zusätzlichen Verantwortung und Arbeit. Es geht nicht nur um den Antrag, sondern auch um die Vermögensverwaltung. Während die Verwaltung von Barbetrag und Arbeitsentgelt in Absprache mit den Bewohner(inne)n und den Betreuer(inne)n durch die betreuenden Mitarbeiter(innen) in den Wohngruppen erfolgt, muss das Geld der Stiftung Anerkennung und Hilfe nun durch die gesetzlichen Betreuer(innen) selbst verwaltet werden.
Nach einem halben Jahr der geschilderten Praxis zeigt sich klar:
- Der eingeschlagene Weg ist richtig, aber alle Beteiligten müssen eng begleitet werden.
- Die Bescheinigungen mit einem entsprechenden Anschreiben an die Betreuenden haben einen hohen Aufforderungscharakter, den Antrag für den betroffenen Bewohner auch tatsächlich zu stellen.
- Menschen mit schwerer Behinderung brauchen noch eine intensivere Befassung und anwaltschaftliche Vertretung durch die Einrichtung und die Mitarbeitenden selbst, um ihnen zustehende Entschädigungsleistungen zu bekommen.
Anmerkung
1. Siebert, A. u. a.: Heimkinderzeit. Freiburg, 2016.
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