Die Älteren nicht zurücklassen
Die Bundesregierung und einzelne Ministerien auf Bundes- und auf Länderebene betonen in Programmen und Positionspapieren, dass die wirtschaftlich notwendige Digitalisierung nur gelingen kann, wenn alle Bevölkerungsgruppen daran teilhaben. Der Königsweg dahin wird in der Förderung digitaler Kompetenzen gesehen. Für Schüler(innen), Schulen und die berufliche Bildung sind konkrete Programme geplant, hier sollen Milliarden investiert werden. Der demografische Wandel und die alternde Gesellschaft werden hingegen in den Strategien für die Digitalisierung kaum berücksichtigt. Doch hier besteht besonderer Nachhol- und Handlungsbedarf. Entsprechende Empfehlungen wurden bereits vor 20 Jahren im Forum Informationsgesellschaft der damaligen Bundesregierung formuliert, bisher aber nicht umgesetzt. Nun ist der Handlungsbedarf umso dringender, denn der Abstand der Onliner-Quote über 70-Jähriger zum Anteil in jüngeren Altersgruppen ist seither nicht geringer geworden. Die Brisanz wird angesichts der absoluten Zahlen besonders deutlich.
Eine Reihe von Pilotprojekten versucht, den Unterschieden zwischen älteren und jüngeren Menschen bei der Internetnutzung und beim Erwerb der Kompetenzen Rechnung zu tragen: Technik-Botschafter(innen), Internetpat(inn)en und andere Ansätze mehr. Sie zeigen, dass das Interesse Älterer durchaus geweckt werden kann. Die meisten dieser Projekte sind jedoch nicht skalierbar, und sie lösen ein zentrales Dilemma nicht: Viele ältere Menschen glauben, dass das Internet für sie nichts Nützliches biete und zu kompliziert sei. Das Erlernen sei schwierig und der Aufwand lohne sich nicht, so die weit verbreitete Auffassung.
Medien sind Erfahrungsgüter. Wer keinen Nutzen vom Medium Internet erwartet, wird die erforderliche Investition von Geld, Zeit und eigener Initiative nicht tätigen. Man kann von einem Investitionsdilemma sprechen. Die Stiftung Digitale Chancen entwickelt seit fast zwanzig Jahren in ihren nationalen und europäischen Projekten gemeinsam mit Partnern Maßnahmen, um die Chancen des Internets für bisherige Nichtnutzer(innen) erfahrbar zu machen. Zugangsmöglichkeiten und Schulungsangebote in öffentlichen Internet-Erfahrungsorten standen zunächst im Vordergrund; heute sind die Chancen der mobilen Internetnutzung ein zentrales Thema. Zusammen mit Telefónica Deutschland hat die Stiftung Digitale Chancen einen Ansatz entwickelt, bei dem im Rahmen eines Begleitprogramms Tablet-PCs über Senioreneinrichtungen für einen Zeitraum von mindestens acht Wochen verliehen werden, um die Erfahrung des individuellen konkreten Nutzens und die Überwindung von Hemmnissen zu ermöglichen.1 Die Ergebnisse aus dem Projekt belegen, dass damit eine strategische Möglichkeit eröffnet wird, die Alterslücke bei der Internetnutzung zu verringern.
Responsiver Ansatz tut not
Es ist nichts Neues, dass sich ältere von jüngeren Menschen, aber auch untereinander erheblich unterscheiden. Dieser Außen- und Binnendifferenzierung müssen alle Fördermaßnahmen Rechnung tragen. Eine Digitalisierungspolitik, die Teilhabe für alle erreichen will, muss responsiv sein. Das heißt, sie muss auf die unterschiedlichen Situationen und Bedarfe eingehen.
Bei älteren Menschen können nach unseren Erfahrungen sechs verschiedene Situationen und Einstellungen unterschieden werden.2 Sie benötigen technische Fertigkeiten, ein inhaltliches Verständnis der unterschiedlichen Angebote und eine Stärkung der Selbstwirksamkeit. Denn viele Ältere trauen es sich nicht zu, die technische Bedienung und mögliche Risiken der Nutzung zu beherrschen. Um dem zu begegnen, bedarf es situationsgerechter Mittler dort, wo sich Ältere aufhalten, denen sie vertrauen und die selbst in der Lage sind, als qualifizierte Trainer(innen) zu agieren und die Selbstwirksamkeit ihrer Trainees zu stärken.
Leihgeräte und digitale Assistenz
Das Projekt "Digital mobil im Alter" von Stiftung Digitale Chancen und Telefónica Deutschland hat gezeigt, dass Senioreneinrichtungen optimale Ankerpunkte für die Förderung digitaler Kompetenzen älterer Menschen sind: Dazu gehören Seniorentreffs, Begegnungsstätten, Mehrgenerationenhäuser etc. Nach dem Deutschen Alterssurvey kennen von über 4200 befragten Personen im Alter von 40 bis 85 Jahren 72 Prozent solche Einrichtungen. Davon nutzen neun Prozent diese auch, Frauen mit zwölf Prozent häufiger als Männer (sechs Prozent). Insgesamt sind das geschätzt etwa 963.000 Personen. Die häufigste Nutzergruppe nach Alter sind die 70- bis 85-Jährigen mit 21 Prozent.
Diese Einrichtungen entsprechen in allen Punkten den Empfehlungen der Forschungsstelle für Gerontologie für Weiterbildungsangebote zur Stärkung digitaler Kompetenzen älterer Menschen.3
Ebenso geeignet sind Seniorenwohneinrichtungen wie Betreutes Wohnen oder Wohnen mit Service, Seniorenresidenzen, selbstorganisierte generationenübergreifende Wohnformen und Wohn- beziehungsweise Altenheime. Dort leben laut Alterssurvey 3,2 Prozent der 17 Millionen über 65-Jährigen in Deutschland, rund 544.000 Personen. Der Anteil der Offliner unter diesen dürfte über dem Durchschnitt von rund einem Drittel in dieser Altersgruppe liegen, also bei etwa 200.000. Dazu gehören vorwiegend ältere Menschen mit eingeschränkter Mobilität, bei denen der Zugewinn an Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe durch das Internet besonders groß ausfiele. Seniorenwohneinrichtungen machen ihren Bewohner(inne)n vielfach Bildungs-, Unterhaltungs- und Freizeitangebote. Das Personal kennt alle persönlich und weiß gut, wer Interesse an einem Leihgerät haben könnte oder bei wem Interesse geweckt werden kann. Gegenüber der direkten Ausstattung solcher Einrichtungen mit Geräten, die dann im Rahmen von Kursen in deren Räumen genutzt werden können, hat das im Projekt "Digital mobil im Alter - Tablet PCs für Senioren" erprobte Leihmodell vor allem zwei Vorteile:
- Zeit zum Üben zwischen den Betreuungsangeboten: Ältere Menschen brauchen mehr Zeit zum Üben. Wenn man mit dem Leihgerät in der eigenen Wohnung nachvollziehen und wiederholen kann, was man im Training erfahren hat, und wenn es dazu geeignetes Begleitmaterial gibt, trägt dies wesentlich zur erfolgreichen Medien-Aneignung bei.
- Anknüpfen am konkreten Bedarf: Die Vorinstallation einer größeren Anzahl seniorengerechter Apps hat sich als hilfreich erwiesen, um bei Neulingen Interesse zu wecken und zugleich die Hemmschwelle vor der Installation eigener Apps zu überwinden. Dabei knüpfen die ausgewählten Anwendungen auf der Grundlage der Projekterkenntnisse an Lebenslagen und konkreten Alltagsbedürfnissen an.
In das Projekt "Digital mobil im Alter" sind neben Seniorenwohnheimen und Residenzen auch Pflegeheime und -stationen einbezogen. Laut Pflegestatistik gab es 2015 in Deutschland etwas mehr als 13.000 Pflegeheime. Für die dort betreuten Personen kann der soziale Gewinn aus digitalen Anwendungen besonders hoch sein, allerdings ist auch der Aufwand erheblich größer. Ende des Jahres 2015 haben 2,9 Millionen Personen Leistungen aus der Pflegeversicherung bezogen. Davon wurden 783.000 stationär versorgt. Bei ihnen handelt es sich in den unteren Pflegegraden um Menschen mit eingeschränkter Mobilität, psychischen oder kognitiven Einschränkungen, die durchaus noch in der Lage sind, die Nutzung speziell für sie relevanter Anwendungen zu lernen.
Der Zugewinn an Lebensqualität durch das Internet lässt sich bei dieser Gruppe noch steigern, wenn gesellschaftliche Teilhabe durch neue Formate wie virtuelle oder digital erweiterte Realität ermöglicht wird. Die technischen Voraussetzungen dafür sind heute vergleichsweise einfach und ohne allzu großen finanziellen Aufwand zu realisieren, und unter günstigen Bedingungen sind auch therapeutische Wirkungen zu erwarten. Dazu ist allerdings qualifiziertes Personal erforderlich, entweder durch Erweiterung der Aufgaben von Logopäd(inn)en, Physio- und Ergotherapeut(inn)en und anderen oder durch die Schaffung eines neuen spezifischen Betreuungsprofils.
Der überwiegende Teil pflegebedürftiger Menschen wird nicht in Pflegeheimen, sondern zu Hause gepflegt. Für sie gilt es, aufsuchende Formate der Unterstützung zu entwickeln und in Pilotprojekten zu erproben. Dabei sollte auch bedacht werden, dass hochaltrige Menschen die Internetnutzung vielleicht nicht mehr erlernen können oder wollen. Ihnen sollte eine digitale Assistenz angeboten werden, die für sie das Internet nutzt: Arzneimittel bestellt, Unterhaltungsangebote auf den Bildschirm bringt oder eine Skype-Verbindung mit den Enkel(inne)n oder behandelnden Ärzt(inn)en herstellt. Angesichts des demografischen Wandels und der wachsenden Zahl hochaltriger Menschen sowie des Ziels, diesen Menschen möglichst lange einen Aufenthalt in der eigenen Wohnung zu ermöglichen, liegt hier eine riesige Herausforderung, die bisher in keinem Digitalisierungsprogramm angesprochen wird. Auch hier stellt sich die Frage, ob Pflegekräfte diese digitale Assistenz übernehmen können oder ob dafür ein spezifisches Berufsbild geeigneter wäre.
Masterplan für Ältere
In Kooperation von Bund und Ländern werden zurzeit umfangreiche Förderprogramme für die Digitalisierung des Bildungswesens aufgesetzt, in denen es um die Ausstattung mit Geräten, die Internetanbindung, Qualifizierung der Lehrkräfte und geeignete Inhalte geht. Parallel dazu sollte vor dem hier geschilderten Hintergrund ein Programm "Senioreneinrichtungen ans Netz" aufgelegt werden. Die Stiftung Digitale Chancen hat dazu einen Masterplan entwickelt, mit dem 30.000 Seniorentreffs und 3000 Wohneinrichtungen mit Leihgeräten ausgestattet und Unterstützerpersonen in einem Train-the-Trainer-Programm zur Förderung digitaler Kompetenzen sowie der Selbstwirksamkeit speziell bei älteren Menschen qualifiziert werden können. Über einen Zeitraum von drei Jahren würde dies rund 37,5 Millionen Euro kosten. Weitere acht Millionen würden die Durchführung von Pilotangeboten für Menschen in Pflegeeinrichtungen und die Qualifizierung des dortigen Personals ermöglichen. Aufsuchende Formate der digitalen Assistenz könnten im Rahmen der Leistungen aus der Pflegeversicherung zumindest erprobt werden. Angesichts des demografischen Wandels und der weitreichenden Konsequenzen der Digitalisierung für alle Bevölkerungsgruppen erscheint es mehr als sinnvoll, diese Investitionen für die alternde Gesellschaft zu tätigen.
Anmerkungen
1. Zusammenfassung der wichtigsten Befunde unter: www.digitale-chancen.de/tabletpcs
2. Ausführlicher und mit Quellenangaben in: Kubicek, H.; Lippa, B.: Nutzung und Nutzen des Internet im Alter. Empirische Befunde und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik. Dresden: Vistas Verlag, 2017.
3. Ehlers, A.; Bauknecht, J.; Naegele, G.: Abschlussbericht zur Vorstudie "Weiterbildung zur Stärkung digitaler Kompetenz älterer Menschen". Forschungsgesellschaft für Gerontologie e.V./Institut für Gerontologie an der TU Dortmund, 2016.
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