Die digitalisierte Welt gestalten
Eine Skepsis technologischen Entwicklungen gegenüber gibt es seit dem 19. Jahrhundert, als diese sich rasant zu entwickeln begannen. Es war nicht nur eine ohnehin seltsame Fantasie von einer Eigentlichkeit des Menschen, die warnen ließ, der Mensch würde sich über die technologischen Fortschritte verlieren, sondern auch die Erfahrung ihrer Ambivalenz. Technikfolgenabschätzung wurde notwendig, nachdem diese Ambivalenz sichtbar wurde. Man versucht Risiken zu kalkulieren, was aber signalisiert: Man ist sich zwar der Gefahr neuer Technologien bewusst, mehr aber auch nicht. Und dies auch zu Recht. Technik erleichtert dem Menschen sein Leben nicht nur, sondern ermöglicht ihm Entfaltungsmöglichkeiten, die es so zuvor nicht gab.
Gesellschaften haben sich immer verändert, und technologische Innovation war immer ein maßgeblicher Faktor in diesen Veränderungsprozessen. Gleichwohl könnte das, was der Begriff der Digitalisierung umschreibt, Gesellschaften so grundlegend verändern, dass nicht nur deren politische Steuerung immer schwieriger wird. Digital zu leben, heißt nicht nur medial sozial vernetzt zu sein, sondern in einem Netz permanent auf das Individuum zugreifender Algorithmen zu leben. Selbst wer sich dies reflexiv bewusst macht, kann dies nur begrenzt steuern, und das bedeutet zugleich, zum Spielball der Interessen zu werden, die durch Algorithmen auf den Menschen zugreifen. Es sind nicht nur ökonomische Interessen, die hier wirksam sind. Wer Spuren im Netz hinterlässt, macht sich sichtbar, wird durch virtuelle Kaufberater in seinem Kaufverhalten trainiert, ist aber auch politisch lenkbar. Die Suche nach Informationen formatiert das "Individuum". Gleichzeitig muss das "Individuum" massiv in seinem Informations- und Konsumdrang selektieren, sich von vornherein konzentrieren, weil es andernfalls angesichts des Datenmaterials überhaupt orientierungslos würde.
Digitale Kommunikation greift aber noch ganz anders in die Lebenswelten ein. Das Stichwort Arbeit 4.0 umschreibt nur vorsichtig, wie drastisch sich nicht nur industrielle Produktionsprozesse, sondern die allermeisten Arbeitsprozesse durch Digitalisierung umbauen und damit auch die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse verändern werden. Auf der Ebene der Produktion und Warenverteilung hat Digitalisierung Automatisierung zur Konsequenz. Was bereits in vielen Industriezweigen zu beobachten war, wird sich als Umgestaltungsprozess in der Fertigung fortsetzen, sofern Maschinen kosteneffizienter produzieren. Das hat zwangsläufig zur Folge, dass geringer qualifiziertes Personal freigesetzt werden wird. Die gleichen Effekte werden auf dem arbeitsintensiven Sektor des Transportwesens zu beobachten sein. Aber auch der gesamte Bereich der medizinischen und sozialen Versorgung von Menschen wird sich durch diesen Prozess verändern. Digitalisierung ereignet sich unter den Bedingungen einer sich global ausagierenden, kapitalistisch entfesselten und durch politische Interventionen immer schwerer steuerbaren Ökonomie. Nationalpolitische Abschottungsstrategien werden deshalb auch zwangsläufig scheitern. Global vernetzt wirksame Systeme können politisch nur global gesteuert werden. Wie schwierig dies ist, muss nicht erörtert werden. Staatliche Regulierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen sozialen Systeme werden deshalb immer auch an Grenzen geführt werden.
Die positiven Effekte nicht unterschlagen
Auch wenn die Digitalisierung sämtliche Lebens- und Arbeitswelten vor erhebliche Probleme sowie das soziale und gesellschaftliche Zusammenleben national und global vor neuartige politische Herausforderungen stellt, sind die positiven Effekte nicht zu unterschlagen. Technikfolgeprobleme sind nur durch Technik zu lösen. Aber ist deshalb Technik schon schlecht? Zumindest in ökonomisch reichen Gesellschaften ermöglichen es die modernen Medizinsysteme Menschen, ein viel höheres Lebensalter zu erreichen, als dies den allermeisten Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten vergönnt war. Im Medizinsystem sind die Digitalisierungsprozesse längst weit vorangeschritten. Menschen werden ausgelesen und so behandelbar. Mensch und Maschinen wachsen nicht nur im Bereich der sozialen Kommunikation zusammen, sondern längst auch "biologisch". Der Defibrillator ist nur ein Beispiel hierfür.
Digitale Prozesse lösen Ängste aus
Sich Digitalisierungsprozessen zu verweigern wird nicht gehen. Weder auf der Mikroebene, also individuell, noch politisch. Dass diese Prozesse auch Ängste auslösen, weil sie ganz neue Undurchsichtigkeiten erzeugen, ist nachvollziehbar. Moderne Gesellschaftssysteme sind, ohne darüber zynisch denen gegenüber werden zu wollen, die an deren Rand gedrängt werden, enorm effizient. Sie können dies auch in sozialer Hinsicht sein. Aber: Ihre Komplexität führt auch dazu, dass die in ihnen wirksamen Systeme und Mechanismen nur noch sehr partiell durchschaut werden können. Dies gilt selbst für Menschen, die gehobenen Bildungsschichten angehören. Niemand verfügt über das Wissen, das diese Gesellschaften in ihrer Funktionalität begründet.
Dies wird sich durch die voranschreitende Digitalisierung ihrer systemischen Abläufe und der Technik, die diese erst ermöglicht, nochmals verstärken. Wie eine Schaufel funktioniert und herzustellen ist, konnte sich der Einzelne noch erarbeiten, und vielleicht war es einem einzelnen Menschen auch noch möglich, sich die Technik eines gesamten Schaufelbaggers theoretisch zu erarbeiten. Wie aber ein Smartphone funktioniert, und vor allem: wie die den Gebrauch eines Smartphones ermöglichende "Umwelt" funktioniert, ist ein Wissen, das keinem einzelnen Menschen mehr theoretisch zur Verfügung steht. Und selbst wenn ein Mensch sehr tief in die theoretischen Grundlagen dieser Funktionssysteme eindringen sollte, so wird er nicht mehr die Funktionsweisen eines digitalisierten globalen Finanzsystems kennen.
Der Soziologe Niklas Luhmann hat bezogen auf moderne Gesellschaften betont, dass diese nicht zuletzt auf Vertrauen basieren. Die Erfahrung von sich intensivierender Komplexität von Problemen und Anforderungen verlangt danach, diese Komplexität zu reduzieren, um handlungsfähig zu bleiben. Das gilt für soziale Systeme, aber auch für Menschen, die in diesen Systemen leben. Patient(inn)en können sich aufklären lassen über ihre Erkrankung und Therapiemöglichkeiten, aber dies funktioniert nur unter der Voraussetzung einer Problemreduktion durch die behandelnde ärztliche Person. Vertrauen ist damit notgedrungen die Münze, die der Patient zahlen muss. Vernetzt mit digitaler Technik zu leben, löst die gleiche Logik aus. Will ich dies nicht unbedarft tun, so kann ich mich aufklären, aber: Am Ende muss ich vertrauen, dass die Systeme funktionieren und möglichst großen Schutz vor Übergriffen bieten. Gewährt werden wird dieser nur durch politische Steuerung; andernfalls regiert die Ökonomie. Politische Steuerung aber setzt Menschen voraus, die sich aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligen und ein gemeinsinnbezogenes ethisches Bewusstsein ausprägen.
Es braucht Menschen mit ethischem Bewusstsein
Digitalisierung ist deshalb aus sich heraus weder gut noch schlecht. Dass die Arbeit immer stärker digital wird, das heißt durch programmierte Intelligenz gesteuert und automatisiert erledigt wird, ist als Prozess nicht zu stoppen. Deshalb wird es in Zukunft ganze Arbeitsfelder für soziale Bildungsschichten nicht mehr geben, dafür andere für besser ausgebildete Schichten. Der entscheidende Punkt ist, ob und wie die damit verbundenen Fragen für das gesellschaftliche Zusammenleben politisch gesteuert werden. Hier werden nicht nur neue Fragen der Verteilungsgerechtigkeit und die nach neuen Arbeitsfeldern aufbrechen. Nicht minder wichtig wird die Frage sein, wie Menschen in der Zukunft ihr Leben als in sich sinnvoll erfahren, wenn der Faktor Arbeit möglicherweise für viele nicht mehr so dominant den Lebensalltag bestimmt. Und dies bei prognostizierbarer sich verlängernder Lebenszeit.
Vielleicht noch weniger zu kalkulieren ist die Frage, welche Auswirkung der von niemandem mehr zu kontrollierende Datenfluss im World Wide Web auf das hat, was das Bewusstsein von sozialen Milieus bestimmt. Als vergesellschaftete Wesen werden Menschen von dem bestimmt, was gesellschaftlich wirkt, und der Freiheitsraum besteht darin, zumindest partiell Distanz zu dem zu gewinnen, was gesellschaftlich wirkt, um nun eigenständig zu gestalten. Wie sich diese anthropologische Logik neu formatiert unter den Bedingungen moderner Informationstechnologien, ob und wie sich in den unterschiedlichen Milieus das Bewusstsein um eine mögliche Differenz zwischen wirklichkeitsbasierter Information und Fake News durchhält, weiß derzeit niemand zu sagen. Global und längst auch auf die deutsche Gesellschaft bezogen lassen sich hier beunruhigende Indizien für eine wenig ausgeprägte Differenzierungsfähigkeit ausmachen. Was sich aber beobachten lässt, ist eine enorme Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion: Der Text "Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus" von Peter Strohschneider1, wird er nun von "rechts" oder auch von "links" vorgetragen, lebt davon, einfache Antworten zu liefern. Nur so funktioniert er, stabilisiert er unsichere "Identitäten". Ängste vor der Digitalisierung werden dennoch bleiben. Angst war immer schon ein schlechter Ratgeber. Die Welt ist digitalisiert. Wer es nicht glaubt, frage sich, wann er oder sie zuletzt das Smartphone und welche App genutzt hat. Die Welt will aber gestaltet werden. Und muss es auch.
Anmerkung
1. Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), hielt auf deren Jahresversammlung am
4. Juli 2017 in Halle (Saale) mit seiner Rede "Über Wissenschaft in Zeiten des Populismus" ein engagiertes Plädoyer gegen populistische Vereinfachungen und alternative Fakten.
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