Wie sich die neuen Pflegegrade in der Praxis auswirken
Seit Januar 2017 muss sich das Pflegestärkungsgesetz (PSG) 2 in der Praxis bewähren - Zeit, ein erstes Resümee zu ziehen. Welche Auswirkungen sind in der stationären Altenhilfe bemerkbar? Wer profitiert? Was wird kritisch gesehen?
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff bringt tatsächlich einen echten Paradigmenwechsel mit sich. Pflegebedürftigkeit wird anhand von Fähigkeiten und von Selbstständigkeit eingeschätzt: weg von der Defizitorientierung, weg von der ungeliebten Minutenpflege, weg von einem rein somatisch gedachten Menschenbild. Eine wirklich positive Entwicklung. Noch trifft dieser Pflegebedürftigkeitsbegriff allerdings auf Rahmenbedingungen, die es nicht wirklich möglich machen, ihn auch umzusetzen.
Eine erste Problematik ergibt sich aus der Überleitung der Pflegestufensystematik in die Pflegegradsystematik nach PSG 2. Mit dem Jahreswechsel 2016/2017 wurden alle Personen mit einer Pflegestufe in einen Pflegegrad übergeleitet. Diese Überleitung erfolgte schematisch und führte in den meisten Fällen zu dem sogenannten "doppelten Stufensprung". Im Ergebnis erhielten die Einrichtungen eine Pflegegradstruktur, die nicht mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff übereinstimmte. Wäre tatsächlich jeder Pflegebedürftige nach dem Neuen Begutachtungsinstrument (NBI) begutachtet worden, wäre das Ergebnis in vielen Fällen niedriger ausgefallen. Mit anderen Worten: Ein Großteil der Pflegebedürftigen, die einen Pflegegrad im Sinne der Überleitungsregel erhalten haben, wäre gemäß Begutachtungsinstrument niedriger eingestuft worden. Sehr viele Personen mit identischen Pflegebedarfen erhalten nach dem NBI im Schnitt einen niedrigeren Pflegegrad als nach der Überleitungsregel. Es besteht das Risiko, dass dieser Effekt langfristig für die Pflegeeinrichtungen zu einer schleichenden Reduzierung des Personalbudgets führt: Jedes Pflegeheim hat Anfang 2017 eine durch die Überleitungsregel ermittelte Pflegegradstruktur, für welche ein Personalbudget analog zu diesem Pflegegradmix festgelegt ist. Das gleiche Pflegeheim wird voraussichtlich ein Jahr später eine niedrigere Pflegegradstruktur mit entsprechend gesunkenem Personalbudget aufweisen, auch dann, wenn die Bewohner(innen) den gleichen tatsächlichen Pflegebedarf haben wie Anfang 2017. Grundlage dieses Szenarios: Durch Neueinzüge werden innerhalb eines Jahres durchschnittlich 35 Prozent der Pflegegrade gemäß NBI eingestuft. Das Pflegeheim weist folglich ein Jahr später bei gleichem Pflegebedarf rechnerisch einen geringeren Pflegegradmix auf. Das Personalbudget ist gesunken. Personal muss abgebaut werden. Dieser unsichtbare Abbauprozess wird schleichend fortschreiten, bis alle Bewohner(innen) mit dem NBI eingestuft sind. Es ist zu befürchten, dass am Ende des Prozesses stationären Pflegeeinrichtungen weit weniger Personalbudget zur Verfügung stehen wird als vor Einführung des PSG 2.
Dieser Effekt wird auch nicht durch die pauschale Erhöhung der Personalmenge um 6,8 Prozent (NRW) im Funktionsbereich Pflege ab Januar 2017 ausreichend abgemildert, zumal diese Steigerung mit Einführung der einrichtungsindividuellen, zum Teil niedrigeren Schlüssel im März 2017 in vielen Fällen nur ein sofortiges Absinken kompensiert hat. Abhängig vom ermittelten Pflegegradmix wurden nach Einführung der neuen Schlüssel vereinzelt auf Basis der Pflegegrade in 2016 Personalmengen für 2017 ermittelt, die noch deutlich unterhalb der Ergebnisse nach Überleitung lagen. Perspektivisch wird dieser Zuschlag in den folgenden Jahren abgeschmolzen beziehungsweise ganz gestrichen.
Konkurrenz von Ergebnisqualität und Pflegegraden
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist derzeit noch auf ausgesprochen unglückliche Art und Weise mit den alten Personalbemessungsstrukturen des Pflegestufensystems in der stationären Pflege verknüpft. Folge ist, dass im PSG 2 pflegerische Ergebnisqualität und Pflegegrade konkurrierend miteinander korrespondieren. Sehr verkürzt: Je besser die Pflegequalität in einer Pflegeeinrichtung, desto niedriger wird der Pflegegradmix und damit auch das Personalbudget ausfallen.
Vor dem PSG 2 wurden Zeitkorridore für den jeweiligen Hilfebedarf ermittelt. Anhand der Minutenwerte wurde die Pflegestufe und damit die zur Verfügung stehende Leistung bemessen - die allseits kritisch gesehene "Minutenpflege". Der Pflegeprozess wurde also zeitlich bewertet und mit einem Geldbetrag hinterlegt. Kernfrage war: Wie viele Minuten werden für die pflegerische Betreuung der Person zur Verfügung gestellt? Faustregel war: je höher die Pflegestufe, desto höher der Personalschlüssel.
Die neue Rechtslage legt für die Bemessung das Ergebnis der geleisteten Pflege zugrunde. Kernfrage ist dabei: Wie selbstständig ist die pflegebedürftige Person? Wenn diese Frage mit Hilfe des Begutachtungsinstruments beantwortet ist, wird der Pflegegrad ermittelt. Je unselbstständiger die Person, desto höher der Pflegegrad, desto höher der Personalschlüssel. Dessen Bemessung anhand von Pflegegraden birgt ein großes Risiko für die stationäre Pflege. Denn je besser die pflegerischen Ergebnisse sind, desto geringer werden der Pflegegradmix sowie die zur Verfügung stehende Refinanzierung und damit auch der Personalschlüssel.
Anhand von zwei Beispielen soll dies veranschaulicht werden:
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Im Begutachtungsinstrument für die Pflegegrade wird der Grad der Selbstständigkeit zum Beispiel im Bereich der Mobilität (Modul 1) oder im Bereich der Selbstversorgung (Modul 4) ermittelt. Eine professionell erfolgreiche Pflege ist darauf ausgerichtet, für jeden Pflegekunden durch fachlich sinnvolle Interventionen eine größtmögliche Mobilität und größtmöglichen Erhalt der Selbstwirksamkeit bei der Selbstversorgung zu erzielen. Maßgeblich sind dabei die individuelle Beurteilung von Ressourcen und die Vereinbarung von geeigneten individuellen Maßnahmen zur Förderung dieser Ressourcen, kurz eine "aktivierende Pflege". Diese trifft bei personenzentrierter Beratung und Anleitung bei den meisten Menschen mit Pflegebedarf auf eine gute Compliance. Professionelle Herangehensweisen, etwa nach kinästhetischen Grundsätzen, wirken sich positiv aus. Eine solche Pflege ist nicht nur qualitativ anspruchsvoll, sondern auch personal- und zeitintensiv. Sie führt zu geringeren Einschränkungen der Mobilität als eine pflegerische Versorgung, die auf eine schlichte Übernahme von Selbstpflegedefiziten ausgerichtet ist. In der beschriebenen Logik entsteht aber folgender Effekt: Hohe Mobilität beziehungsweise gute Fähigkeiten bei der Selbstversorgung durch aufwendige pflegerische Versorgung führen zu einem niedrigeren Pflegegrad und damit zu geringeren Personalressourcen.
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Im Begutachtungsinstrument werden Häufigkeiten für bestimmte herausfordernde Verhaltensweisen beurteilt. Darunter fallen unter anderem:
- motorisch geprägte Verhaltensweisen,
- nächtliche Unruhe,
- selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten,
- Ängste,
- Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage.
Professionelles pflegerisches Handeln zeichnet sich durch ein gezieltes Deeskalationsmanagement aus. Dieses hat zum Ziel, die beschriebenen Phänomene herausfordernden Verhaltens durch pflegerisches Handeln zu reduzieren. So wird analysiert, ob ein Risiko für die Phänomene besteht, wie diesen zu begegnen ist, und es wird erfasst, wie erfolgreich die getroffenen Maßnahmen sind. Für eine solche pflegerische Praxis braucht es regelmäßige Schulungen, Fallbesprechungen und eine durch gute Führung gepflegte menschliche Haltung, kurzum: personelle Ressourcen - qualitativ wie quantitativ. So entsteht auch hier der schon in Beispiel 1 beschriebene Effekt: Reduzierung der herausfordernden Verhaltensweisen durch hohen personellen Aufwand führt zu niedrigen Pflegegraden und geringer werdenden Personalressourcen.
Das bedeutet im Klartext: Wenn Pflegende professionell und erfolgreich handeln, sorgen sie dafür, dass ihnen finanziell das Wasser abgegraben wird. Dies ist ein Teufelskreis, der nur unterbrochen werden kann, wenn die Personalbemessungsverfahren künftig losgelöst von der Pflegegradstruktur einer Einrichtung berechnet werden.
Teufelskreis erfolgreiche Pflege und Finanzierung
Es besteht Anlass zur Sorge um die Zukunft der Finanzierbarkeit von professioneller und menschenwürdiger Pflege. Damit das NBI und das PSG 2 ein Erfolg werden können, ist rasch ein realistisches Personalbemessungsinstrument nötig, das der pflegerischen Ergebnisqualität entspricht. Die Gefahr besteht, dass durch die Hintertür die Minutenpflege zurück ins Pflegeheim spaziert, nur leider zu deutlich schlechteren Rahmenbedingungen. Ein neues Instrument wird den Pflegenden für frühestens 2020 versprochen.
Mit dem vor über zwei Jahrzehnten in Kanada entwickelten Personalbemessungsinstrument "Plaisir" wurde bereits ein erfolgreicher Versuch unternommen, den Personalbedarf anhand einer am Individuum orientierten Pflege zu ermitteln. Die Erprobung des Verfahrens für Deutschland wurde 2004 eingestellt.
Ein über Jahre erarbeitetes Qualitätsniveau bricht schnell zusammen, wenn die Ressourcen unter ein Mindestniveau sinken. Ein gutes Niveau wieder aufzubauen, wird angesichts des demografischen Wandels und dem damit einhergehenden Fachkräftemangel enorme Energie benötigen. Bis dahin werden professionell Pflegende im stationären Setting unter den viel zu geringen personellen Ressourcen leiden müssen.
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