Geschlechterreflektierte Arbeit macht Mädchen stark
Das betreute Mädchenwohnen des Paul-Gerhardt-Werks - Diakonische Dienste gGmbH1 entstand zu Beginn des Jahres 2015 im Regionalverbund Berlin. Es ist ein Angebot, das auf junge Frauen und Mädchen zugeschnitten ist und für zwölf Jugendliche Schutzräume schafft.
Das Ziel der Arbeit mit jungen Frauen und Mädchen lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: eine geschlechterreflektierte soziale Arbeit, die polarisierende Denkschablonen überwindet und aufmerksam ist für die Vielfalt und die Potenziale von Klientinnen. Geschlechterstereotype werden kritisch hinterfragt und Klientinnen nicht essenzialistisch als "typische Mädchen und typische Frauen" klassifiziert. Zugleich werden die Auswirkungen der Geschlechterhierarchie wahrgenommen. Die Mitarbeiterinnen treten parteilich für die Klientinnen ein. Im betreuten Mädchenwohnen des Paul-Gerhardt-Werkes ist die soziale Arbeit zudem mit einer weiteren Querschnittsaufgabe - der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen - gekoppelt.
Das Angebot des betreuten Mädchenwohnens richtet sich an:
- junge Frauen ab 15 Jahren, unabhängig von Herkunft, Sozialisation, Ethnie/Kultur und Religion,
- junge Frauen mit geschlechtsspezifischen Gewalterfahrungen und den sich daraus ergebenden Folgen beziehungsweise junge Frauen, die davon bedroht sind,
- junge Frauen mit Flucht- und/oder Migrationshintergrund.
Rechtsgrundlage für die Aufnahme sind SGB VIII §§ 27, 30, 34, 35 und 41 SGB VIII.
Die Wohnungen des betreuten Einzelwohnens oder betreuten Gruppenwohnens befinden sich im gewöhnlichen Wohnumfeld mit gemischter Berliner Mieter(innen)struktur, zum Teil in unmittelbarer Nähe zum Büro des betreuten Mädchenwohnens. Die jungen Frauen beziehen je nach Bedarf Vierer-, Dreier- und Zweierwohngemeinschaften sowie Einzelwohnungen. Jeder Frau stehen ein eigenes möbliertes Zimmer zur Verfügung sowie ein Bad und eine Küche zur gemeinsamen Nutzung. Finanziert wird das Angebot über das Leistungsentgelt, das heißt über die laut Trägervertrag und Entgeltvereinbarung verabredeten Kostensätze mit der Senatsverwaltung. Das geschlechtsspezifische pädagogische Team besteht aus fünf Sozialarbeiterinnen und -pädagoginnen. Der Betreuungsumfang richtet sich nach dem mit dem Jugendamt vereinbarten Jugendhilfebedarf. Eine halbjährige Überprüfung im Rahmen der Hilfeplangespräche entscheidet über die weitere Ausgestaltung.
Geschlechterreflektierte soziale Arbeit macht selbstbewusst
Zwei zentrale Arbeitsansätze werden angewandt. Die geschlechterreflektierte soziale Arbeit trägt dazu bei, dass Mädchen und junge Frauen jenseits von Geschlechterstereotypen zu selbstbewussten, starken und zur Selbstreflexion fähigen Menschen heranwachsen können. Im betreuten Mädchenwohnen werden besonders auf die Bedürfnisse von jungen Frauen und Mädchen zugeschnittene Freiräume geschaffen, um ihnen Geschlechtssensibilität zu vermitteln. Die Pädagoginnen hinterfragen geschlechtsspezifische Rollenzuweisungen und zeigen alternative Lebensweisen auf. Sie bieten Auseinandersetzungsmöglichkeiten an, damit junge Frauen eine bewusste Wahl in Kenntnis der Vielfalt möglicher Lebensentwürfe treffen können. Ferner bieten sie einen Schutzraum, da eine Vielzahl der jungen Frauen selbst bereits in den unterschiedlichsten Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen war.
Das Ziel der zweiten Methode, des Anti-Bias-Ansatzes, besteht darin, von Ungleichheiten zu lernen, Unterschiede anzuerkennen und Ungerechtigkeiten abzubauen. Es geht darum, die eigene Wahrnehmung für Gleichheit und die verschiedensten Formen der Benachteiligung (benachteiligen und benachteiligt werden) zu schärfen, möglichst adäquat zu intervenieren, den Umgang mit Vielfalt zu fördern sowie ein wertschätzendes Miteinander zu stärken.
Im Jahr 2016 wurde das Projekt "Kein Platz für dumme Sprüche - Jugendsozialarbeit gegen Fremdenfeindlichkeit und Gewalt" mit den Klientinnen umgesetzt. Finanziert wurde es im Rahmen des Bundesprogrammes "Demokratie leben". Das Projekt umfasste mehrere aufeinander aufbauende Anti-Bias-/Diversity-Trainings, thematische Gruppenabende zur Vertiefung und ein Magazin "The Power of our Voices", in dem die jungen Frauen zu ihren eigenen Erfahrungen von Flucht, Diskriminierung, Vorurteilen und Ungleichheiten zu Wort kommen.
Viele Frauen sind Opfer geschlechtsspezifischer Gewalt
Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sind nicht erst durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit traumatisierten und psychisch belasteten jungen Menschen konfrontiert. Die Thematik findet im Kontext von Flucht jedoch eine verstärkte Aufmerksamkeit. Im betreuten Mädchenwohnen arbeiten die Sozialarbeiterinnen zum großen Teil mit Klientinnen, für die sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalterfahrungen ebenfalls zu den Fluchtursachen zählen, aber auch fluchtspezifische sowie postmigrantische Erfahrungen darstellen, wie die folgende Aufstellung aus den Betreuungssettings verdeutlicht:
- prämigratorische Ereignisse, zum Beispiel Benachteiligung bei der Versorgung mit Nahrung, medizinischer Versorgung und beim Zugang zu Bildung; emotionale und körperliche Misshandlung; Kinderehe; sexueller Missbrauch; arrangierte Ehe oder Androhung derselben; Genitalverstümmelung oder Androhung derselben; Kriegserlebnisse; Entführung durch Mitglieder der Konfliktparteien; Massenvergewaltigungen und erzwungene Schwangerschaften; Menschenhandel; Verfolgung;
- fluchtspezifische Erfahrungen, zum Beispiel sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung; Nötigung, Erpressung durch Autoritätspersonen oder Personen in Machtpositionen; Dauer und Kosten der Flucht in Verbindung mit Zwangsprostitution; Misshandlungen;
- postmigratorische Erfahrungen, zum Beispiel sexuelle Ausbeutung von unbegleiteten Mädchen oder jungen Frauen, die sich um einen Rechtsstatus im Aufnahmeland oder um Zugang zu Unterstützung und Ressourcen bemühen; Missbrauch in Aufnahmeeinrichtungen durch Familienangehörige, Ehrenamtliche, Vormünder, Fachkräfte; prekäre Situation in Inobhutnahmestellen oder Hostels.
Alle Formen von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt können massive gesundheitliche Erkrankungen verursachen. Ein singuläres traumatisierendes Ereignis lässt sich in der Regel leichter bewältigen als eine Aufeinanderfolge traumatisierender Vorkommnisse, wie sie viele Flüchtlinge erleben müssen. Andererseits ist nicht jede Klientin traumatisiert, nicht jedes auffällige Verhalten ist mit traumatischen Erlebnissen zu erklären und nicht jede problematische Erfahrung hat schwerwiegende Folgen beziehungsweise ist behandlungsbedürftig. Die Resilienzfaktoren und Ressourcen der jungen Frauen werden im Betreuungssetting immer wieder in den Mittelpunkt gerückt. Darüber hinaus sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit und der Aufbau tragfähiger Kooperationen mit spezialisierten Fachstellen unabdingbarer Bestandteile der professionellen Arbeit.
Gruppenarbeit als sexualpädagogisches Konzept
Die Gruppe ist, neben dem individuellen Betreuungssetting, Mittel sozialarbeiterischer Arbeit. An den wöchentlichen Gruppenabenden lernen die jungen Frauen, Meinungen zu diskutieren und die anderer zu akzeptieren, Konflikte zu lösen, Verantwortung für andere zu übernehmen und Rücksicht zu üben. Besondere pädagogische Unterstützung benötigen die jungen Frauen dabei, eigene Grenzen zu erkennen und sich auf angemessene Weise zu behaupten.
Sexualpädagogik umfasst mehr als die bloße Aufklärung. Ziel ist der Schutz vor sexueller Ausbeutung und Grenzüberschreitung. Das pädagogische Team hat Themenbausteine für die wöchentlichen Gruppenabende didaktisch ausgearbeitet. Sie umfassen sexuelle Aufklärung (weibliche Anatomie, Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten, Verhütung), Gefühle und Beziehungen (Liebe, Wut, Stress, Depression), Geschlecht/Geschlechterrollen (Frauenrechte, Vorbilder - starke Frauen, sexuelle Identität, Geschlechterklischees, Konsens und Grenzziehung, Nähe und Distanz, Nein sagen), Medien (sexuelle Gewalt im Internet, Sexting, Cyberstalking), Gesellschaft (Anti-Bias/vorurteilsbewusste Bildung, Sexismus, Schönheitsideale, Essen und Ernährung, Gruppendynamiken/Gruppenrollen), Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt und Schutzsysteme und vieles mehr.
Besonders Empowerment-Prozesse finden in einem sozialen Kontext statt und die Aufgabe sozialer Arbeit ist, diese anzustoßen und am Laufen zu halten. Dabei tragen die Klientinnen eine große Verantwortung am Gelingen. Die Erfahrung von eigener Stärke, Autonomie und Gestaltungskraft stärkt ihre personalen Ressourcen, und die jungen Frauen nehmen die Einladung zur Beteiligung gut an.
Anmerkung
1. Als Tochtergesellschaft des Neukirchener Erziehungsvereins wurde das Paul-Gerhardt-Werk im Jahr 1991 gegründet. In seinen Einrichtungen in Berlin und Brandenburg sowie in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden mehr als 250 Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien betreut.
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