Muttersprachler lotsen zu den Hilfen
In den Jahren 2015 und 2016 suchten nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über 1,2 Millionen Menschen Asyl in Deutschland.1 Viele von ihnen haben nicht nur ihre Heimat verlassen, sondern in ihrer Heimat und/oder auf der Flucht auch extreme Erfahrungen machen müssen. Infolgedessen sind sie oftmals traumatisiert und leiden unter psychischen Beeinträchtigungen oder sind davon bedroht.2 Den damit verbundenen sozialpsychiatrischen Bedarfen müssen sich die Angebote der sozialpsychiatrischen Versorgung allein schon aus ihrer ethisch-fachlichen Perspektive heraus stellen. Darüber hinaus gibt auch die EU-Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU den Mitgliedstaaten vor, dieser speziellen Situation mit besonderen Bedürfnissen für die schutzbedürftigen Menschen Rechnung zu tragen. Ganz praktisch stellt sich in diesem Zusammenhang unter anderem auch die Frage, wie die Beratung und die Vermittlung geflüchteter Menschen in psychiatrische beziehungsweise psychosoziale Hilfen gelingen können. Diesbezüglich beobachtete KommRum e.V., ein Träger im Netz der sozialpsychiatrischen Pflichtversorgung in Berlin: Die vorhandenen Angebote, die sich vielfach durch eine Komm-Struktur auszeichnen, waren nicht immer ausreichend, um den Kontakt zu den geflüchteten Menschen herzustellen. Es brauchte also andere Wege, um den geflüchteten Menschen die erforderliche Orientierungshilfe zu geben. Zudem wurde es als oft nicht zielführend bewertet, Mitarbeiter(innen) ohne Sprachkompetenz, ohne Kenntnis der vielfältigen Besonderheiten und ohne eigene Flucht- und Migrationserfahrung zur Beratung in die Aufnahmeeinrichtungen und/oder Unterkünfte zu entsenden.
Um die genannten Barrieren beim Zugang zum bestehenden Versorgungssystem zu überwinden, entwickelte KommRum gemeinsam mit dem Referat Weiterbildung der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB) den Zertifikatskurs "Gesundheitslotsen psychiatrische Versorgung geflüchteter Menschen". Zentrales Ziel der Weiterbildung ist es, in Berlin lebende Flüchtlinge fachlich dafür zu befähigen, in den Einrichtungen der Flüchtlingshilfe muttersprachliche Beratung über und Vermittlung in das hiesige sozialpsychiatrische/psychosoziale Versorgungssystem anbieten zu können. Konkret richtet sich die Weiterbildung an Geflüchtete aus Syrien beziehungsweise benachbarten arabischen Ländern, die einen Asylantrag gestellt haben,
- über langjährige, einschlägige Berufserfahrung verfügen und
- gegebenenfalls einen Abschluss nachweisen können, zum Beispiel als Erzieher(in), Krankenschwester/-pfleger oder Psychologin/Psychologe.
Darüber hinaus sollen die Teilnehmenden über grundlegende Deutschkenntnisse verfügen.
Fit nach vier Monaten Kurs
Zwölf Arabisch-Deutsch gedolmetschte, je zweitägige Module vermitteln umfangreiche Kenntnisse hinsichtlich diagnostischer Basiskompetenz, der Krankheitsbilder Depressionen, Belastungsstörungen und Suchterkrankungen sowie in Methodenlehre zu Gesprächsführung, Interventionstechniken und psychiatrischer Akutbehandlung. Ergänzend dazu geben spezifische Module auch einen Überblick über das hiesige System der psychotherapeutischen und gemeindepsychiatrischen Versorgung sowie das Sozial- und Asylrecht. An diese insgesamt dreimonatige theoretische Kursphase schließt sich eine vierwöchige Praxisphase an, in der die Teilnehmenden in psychosozialen Einrichtungen die Gelegenheit zum Theorie-Praxis-Transfer erhalten. In einem abschließenden Kolloquium schließlich wird eine Bilanz des Wissenserwerbs gezogen.
Bereits in der Entwicklungsphase stieß die Weiterbildung auf großes Interesse. Es gelang, Expert(inn)en aus Theorie und Praxis für die Lehre der einzelnen Module sowie für die Begleitung in den Praxiseinrichtungen zu gewinnen. Nach intensiven konzeptionellen Vorüberlegungen startete im September 2016 der vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin geförderte Pilotkurs mit zwölf Teilnehmer(inne)n; er feierte nach vier intensiven Monaten im Januar 2017 seinen erfolgreichen Abschluss mit der Zertifikatsübergabe an alle zwölf Absolvent(inn)en. Sie sind mit dieser Qualifikation in der Lage, die so dringend benötigte muttersprachliche Lotsenfunktion für Geflüchtete zu übernehmen, über sozialpsychiatrische/psychosoziale Hilfen zu informieren und in weiterführende Beratungs- und Unterstützungsangebote zu vermitteln - ohne selbst psychosoziale Beratung durchzuführen.
Welche Lücke diese Weiterbildung im Versorgungssystem schließt, zeigt die Tatsache, dass unmittelbar nach Beendigung des Pilotkurses mehrere Gesundheitslots(inn)en im Rahmen des Berliner Masterplans Integration und Sicherheit eine aufsuchende Tätigkeit bei einem freien Träger aufnehmen konnten. Zum Erfolg des Kurses trug sicher auch das Auswahlverfahren bei, in dem sehr genau auf die professionellen und persönlichen Erfahrungen der Bewerber(innen) geachtet wurde, um die Gefahr sekundärer Traumatisierung zu minimieren. Die auch persönlich eröffneten neuen Perspektiven brachte eine Absolventin mit der Formulierung auf den Punkt: "Der Kurs ist eine goldene Chance." Somit entfaltet diese Weiterbildung neben der Lotsenfunktion weitere Integrationseffekte und wirkt lähmender Selbststigmatisierung entgegen. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist zu hoffen, dass die gewollte und geplante Finanzierung durch die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung gelingt und ein weiterer Durchgang der Weiterbildung im Herbst 2017 beginnen kann.
Anmerkungen:
1. Vgl. BAMF: Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe 4/2017, ohne Ort.
2. Vgl. zum Beispiel Bundespsychotherapeutenkammer, BPtK-Standpunkt: Psychische Erkrankungen bei Flüchtlingen. Berlin, 2015, S. 4 ff.
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