Die Notfallversorgung muss neu geregelt werden
Laut Deutscher Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) suchten im Jahr 2016 rund 25 Millionen Patient(inn)en die Notaufnahmen deutscher Krankenhäuser auf, mehr als zehn Millionen davon ambulant. Pro Jahr werden es fünf Prozent mehr. Wie ein Gutachten der Management Consult Kestermann (MCK) aus dem Jahr 2015 zeigt, könnte etwa ein Drittel dieser Patient(inn)en auch von einem niedergelassenen Arzt in seiner Praxis behandelt werden. Doch die Patient(inn)en drängen ins Krankenhaus und suchen nicht den kassenärztlichen Bereitschaftsdienst auf - geleitet von dem Wunsch, eine medizinische Abklärung aus einer Hand zu erhalten, statt im Extremfall über Tage oder Wochen von einem Facharzt zum nächsten zu wandern. Dafür nehmen sie mitunter stundenlange Wartezeiten in Kauf. Den Krankenhäusern entsteht dadurch bundesweit ein jährliches Grundsatzdefizit von rund einer Milliarde Euro. Denn die durchschnittlichen Fallkosten von mehr als 120 Euro wurden bis dato lediglich mit einem Betrag von rund 32 Euro pro ambulantem Notfallpatienten vergütet. Von der Überlastung der Mitarbeiter(innen) in den Notaufnahmen ganz zu schweigen, die nicht selten auch noch den Unmut lange wartender Patient(inn)en zu spüren bekommen.
Die Bevölkerung hat offenbar wachsende Ansprüche an das Gesundheitssystem. Es stellt sich die Frage, ob es diese Erwartungen erfüllen kann. Ob Rettungsdienst oder Krankenhausnotaufnahme - die Zahl der Patient(inn)en wächst. Mitunter auch deshalb, weil die Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) mancherorts ihren Sicherstellungsauftrag nur unzureichend ausfüllen. Die Kliniken fungieren an dieser Stelle als "Lückenbüßer". Sie übernehmen die Aufgabe der eigentlich zuständigen Bereitschaftsdienste der KV und stellen damit an vielen Orten die Gesundheitsversorgung der Region sicher. Krankenhäuser berichten, dass niedergelassene Ärzt(inn)e(n) ihren Patient(inn)en empfehlen, außerhalb der Praxissprechzeiten (üblicherweise mittwochnachmittags, abends und am Wochenende) gleich ins nächste Krankenhaus zu gehen. Die Bereitschaftsdienste der KVen werden so erst gar nicht in Anspruch genommen.
Die Politik hat das Problem im Blick
Die Problematik der Notfallversorgung in den Krankenhäusern steht somit im politischen Fokus. Bereits im Koalitionsvertrag wurde dies an zwei unterschiedlichen Stellen aufgegriffen. Zum einen sollten die Vorhaltekosten für die stationäre Notfallversorgung im Rahmen des DRG-Fallpauschalensystems in den Blick genommen und zum anderen sollte im Zusammenhang mit der vertragsärztlichen Versorgung die ambulante Notfallversorgung durch die Krankenhäuser neu geregelt werden. Sowohl im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) und im darauffolgenden Krankenhausstrukturgesetz (KHSG), das am 1. Januar 2016 in Kraft getreten ist, wurden neue Regelungen dazu aufgenommen.
Für die ambulante Notfallversorgung schreibt das KHSG eine verpflichtende Zusammenarbeit von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern vor, etwa durch Ansiedlung von sogenannten Portalpraxen. Die KVen müssen demnach zur Sicherstellung der Notdienste außerhalb der Sprechstundenzeiten entweder vertragsärztliche Notdienstpraxen in oder an den Krankenhäusern als erste Anlaufstelle für die ambulanten Patient(inn)en errichten oder die Notfallambulanzen der Krankenhäuser unmittelbar in den Notdienst einbinden.
Die Finanzierungslücke der Krankenhäuser für ambulante Notfallleistungen wird so allerdings nicht geschlossen. Diese Aufgabe wurde an den Erweiterten Bewertungsausschuss, der üblicherweise die Honorierung der KV-Leistungen festlegt, delegiert. Dieser hat mit den Gebührenordnungspositionen 01205 und 01207 im Vergütungssystem der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung eine Abklärungspauschale von 4,74 Euro neu eingeführt. Diesen Betrag erhalten die Kliniken nun seit April 2017, wenn ein(e) Kranke(r) tagsüber untersucht und dann zur Behandlung an den niedergelassenen Arzt oder nach Hause verwiesen wird. Dafür werden zwei Minuten ärztliche Tätigkeit einkalkuliert, der administrative Aufwand durch die Aufnahme des Patienten bleibt unberücksichtigt. Für diesen Betrag und in der vorgegebenen Zeit muss diagnostiziert werden, was der/die Patient(in) hat und welche Behandlung er oder sie im Idealfall erhalten sollte. In der Zeit von 19 bis 7 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen erhält die Klinik insgesamt 8,42 Euro pro Patient(in). Hier stellt sich die berechtigte Frage: Lässt sich jemand binnen zwei Minuten wirklich begutachten? - Nein.
Hintergrund für die Neuerungen ist eine Vorgabe des Gesetzgebers, die Regelungen für ambulante ärztliche Notfallleistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) nach dem Schweregrad der Fälle zu differenzieren. Die genannten Beträge hat eine Mehrheit aus Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Krankenkassen gegen die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) durchgesetzt. Seitens der DKG wurde diese Festlegung für einen "Schnell-Check" von Notfallpatient(inn)en verständlicherweise scharf kritisiert und der Vorschlag eingebracht, kurzfristig die Tages-, Nacht- und Wochenendpauschalen um jeweils zehn Euro zu erhöhen und mittelfristig eine grundsätzliche Neukonzeption zur Finanzierung der ambulanten Notfallleistungen herbeizuführen.
Behandelt wird nach Ampelsystem
Die Krankenhäuser versuchen in der Zwischenzeit, den Andrang auf die Notaufnahmen einzudämmen, indem viele von ihnen einen sogenannten Triage-Prozess einleiten, bei dem die Behandlungsdringlichkeit der Ambulanzpatient(inn)en vorab durch dafür qualifiziertes Klinikpersonal festgelegt wird. Für die Wartenden wird er über die Farben des Ampelsystems gekennzeichnet und verständlich gemacht. Triage-Stufe rot: Diese Patient(inn)en werden in der Notaufnahme sofort behandelt, da wenige Minuten über Leben oder Tod entscheiden können (zum Beispiel Herzinfarkt, Schlaganfall, schwere Unfälle). Triage-Stufe gelb: Diese Kranken müssen dringend einen Arzt sehen, schweben aber nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Die maximale Wartezeit darf bis zu 30 Minuten betragen. Triage-Stufe grün: Diese Patient(inn)en müssen nicht unbedingt in der Notaufnahme versorgt, sondern könnten auch in einer Arztpraxis behandelt werden. Lange Wartezeiten müssen in Kauf genommen werden. In manchen Krankenhäusern werden diese Patient(inn)en in die nahegelegene Portalpraxis der KV weitergeschickt. Die Mehrzahl der in der Notfallversorgung tätigen rund 1700 Krankenhäuser verfügt jedoch über keine Notfallpraxis.
Unsere katholischen Krankenhauseinrichtungen kooperieren zur Sicherstellung der Notfallversorgung vor Ort in vielerlei Weise mit den niedergelassenen Ärzt(inn)en. So finden sich an 106 unserer 410 katholischen Klinikstandorte bereits KV-Bereitschaftspraxen, in denen das ärztliche Personal aus den Krankenhäusern teils schon einbezogen wird. Gegenseitig wird von der Infrastruktur in Bereichen wie Röntgenmedizin oder Dialyse profitiert. Langfristig ist eine qualitative Notfallversorgung ohne das abgestimmte Zusammenwirken der niedergelassenen Ärzt(inn)e(n) mit den Notfallaufnahmen in den Kliniken und den Rettungsleitstellen beziehungsweise -diensten vor allem auf dem Land nicht möglich. Diese kann aber nicht durch eine zwangsweise Implementierung von Portalpraxen verordnet, sondern nur im kollegialen Miteinander und mittels individueller Lösungen erreicht werden.
Vernetzung heißt das Zauberwort
Aus Patientensicht ist es das Gebot der Stunde, dass Niedergelassene und Kliniken sich vernetzen, um den Sicherstellungsauftrag gemeinsam zu bewältigen. Im ländlichen Raum gibt es schon heute zahlreiche Bereitschaftsdienstpraxen an Kliniken, in denen die Zusammenarbeit mit den Notaufnahmen häufig funktioniert. Es gilt, bestehende Strukturen besser zu verzahnen. Dazu braucht es Steuerungssignale, die alle Beteiligten mit ins Boot nehmen: niedergelassene Ärzt(inn)e(n), Rettungsdienste und Krankenhäuser. Eine gerechte Vergütung, die den Behandlungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Kostenstrukturen der Krankenhäuser Rechnung trägt, ist dafür unabdingbar. Notaufnahmen in Krankenhäusern sind zentrale Organisationseinheiten. Daher macht sich der Katholische Krankenhausverband Deutschlands (kkvd) stark für eine sogenannte dritte Säule im Gesundheitsfinanzierungssystem. Für die ambulante Notfallversorgung sollte eine gemeinsame, sektorenübergreifende Vergütungsstruktur außerhalb der KV-Budgets geschaffen werden. Besonders im ländlichen Bereich, in dem zukünftig Fachkräfte fehlen werden, könnte es sinnvoll sein, wenn die KVen ihren ambulanten Notfallversorgungsauftrag den Krankenhäusern übertragen. Dadurch bliebe die wohnortnahe Notfallversorgung für die Bevölkerung gewährleistet.
Die Politik hat das Problem der überlasteten Krankenhausambulanzen durch das Konzept der Portalpraxen nicht gelöst. Mancherorts konnte zwar eine Entlastung herbeigeführt werden. Das Grundsatzproblem aber bleibt bestehen - eine adäquate Vergütung der Notfallleistungen tut not.
Baustelle stationäre Notfallversorgung
Mit Blick auf die Situation der stationären Notfallversorgung in den Krankenhäusern hat der Gesetzgeber im KHSG vordergründig auf die Belange der Kliniken reagiert und den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) beauftragt, ein Finanzierungskonzept für die stationäre Notfallversorgung zu entwickeln. Ausgangspunkt war die Kritik, die aus manchen Krankenhäusern, aber vor allem aus den Reihen der Universitätskliniken, kam, dass das Vorhalten der stationären Notfallkapazitäten nicht ausreichend differenziert berücksichtigt würde. Ein Abschlag von derzeit 50 Euro pro Fallpauschale für Krankenhäuser, die nicht an der Notfallversorgung teilnehmen, wurde den unterschiedlichen Gegebenheiten nicht zwingend gerecht. Politisches Ziel war es demnach, eine bessere aufwandsbezogene Stufung in der Finanzierung der stationären Notfallleistungen zu entwickeln.
Der G-BA sollte nun ein Stufenkonzept entwickeln, das mit den in den DRG-Vergütungen bisher unzureichend berücksichtigten Vorhaltekosten korreliert und für die an der Notfallversorgung teilnehmenden Kliniken je nach Einstufung entsprechende Zuschläge vorsieht. Relevante Kostenunterschiede identifizierte der G-BA jedoch nicht, obwohl der gesetzliche Auftrag die Darstellung der Vorhaltekosten für die 24-stündige Bereitstellung der stationären Versorgungskapazitäten erfordert. Stattdessen haben der G-BA und vor allem die Krankenkassenvertreter(innen) daraus letztlich ein Krankenhausnotfallstrukturkonzept gemacht, über das die Zugangsvoraussetzungen zur Teilnahme an der Notfallversorgung anhand bundeseinheitlicher Strukturvorgaben im Allgemeinen geregelt werden soll - ungeachtet bestehender Versorgungsnetzwerke vor Ort. Die Kassen wollen auf diesem Wege ihr Ziel realisieren, deutschlandweit die Zahl der Klinikstandorte zu minimieren.
Das System und die einzelnen Kriterien der Stufen wurden innerhalb der Verbände, der Selbstverwaltungsebene und auch innerhalb der Politik stark diskutiert. Der kkvd hat sich in die Diskussion mit einer Stellungnahme eingebracht: kritisierend, dass allein die Struktur eines Krankenhauses (wie Art und Anzahl von Fachabteilungen, Art und Qualifikation des vorzuhaltenden Fachpersonals oder medizintechnische Geräteausstattung) Grundlage für seine Einstufung in die Notfallversorgung sein solle. Die medizinische Qualität der Kliniken finde dabei keinerlei Berücksichtigung, die individuelle medizinische Qualität eines Leistungserbringers werde negiert. Zum anderen werden bedeutsame Orts- und Regionalspezifika nicht berücksichtigt. Aktuell deutet einiges darauf hin, dass Maximalversorger in Großstädten und Universitätskliniken vom angedachten System profitieren könnten. Der "Grund- und Regelversorger" im ländlichen Bereich dagegen hätte das Nachsehen.
Umstrittenes Stufenkonzept ist geplant
Durch die angespannte Debatte wurde Ende 2016 deutlich, dass man diese Neustrukturierung nicht ohne weitere Auswirkungsanalysen initiieren kann. Das Gesundheitsministerium hat eingelenkt und gibt der Selbstverwaltung im G-BA ein Jahr mehr Zeit, um dem Auftrag zur Konzeption eines Stufenkonzeptes für die stationäre Notfallversorgung nachzukommen. Dies bedeutet, die Inhalte der Notfallstufen müssen in diesem Jahr zum 31. Dezember 2017 beschlossen werden. Dementsprechend sollen die Zu- beziehungsweise Abschlagshöhen bis zum 30. Juni 2018 auf Selbstverwaltungsebene vereinbart werden.
Der GKV-Spitzenverband hat seiner Strukturbereinigungsintention folgend im Frühjahr dieses Jahres ein Konzept publiziert, das drei Stufen für die zukünftige stationäre Notfallversorgung aufweist. Demnach würde sich die Notfallversorgung in eine umfassende Notfallversorgung (etwa 77 Häuser), in eine erweiterte Notfallversorgung (219 Häuser) und in eine Basisnotfallversorgung (774 Häuser) aufteilen. Laut den aktuellen Aussagen des GKV-SV würde dieses Stufenmodell dazu führen, dass 655 Klinikstandorte in Deutschland nicht mehr an der Notfallversorgung teilnehmen würden, weil sie die bewusst sehr hoch angesetzten Strukturkriterien nicht erfüllen können. Aus Sicht des kkvd wird dadurch die flächendeckende Notfallversorgung gefährdet und die Finanzierungsproblematik der Kliniken massiv verschärft. Rund ein Drittel der deutschen Krankenhäuser würde somit die Berechtigung verlieren, Patient(inn)en mit bestimmten Diagnosen stationär zu behandeln, weil ihnen aus Kassensicht die nötigen Strukturen dazu fehlen. Dabei haben die Krankenhäuser, die heute schon die Anforderungen des Kassenkonzeptes erfüllen würden, nicht die Kapazitäten, die gesamte Versorgung zu schultern. Bereits bestehende Strukturen vor Ort und funktionierende Versorgungsnetzwerke würden durch diese Einstufung abgeschafft werden und die Notfallversorgung, wie man sie bislang in Deutschland kennt, würde zerschlagen werden. Die Frage der Zu- und Abschläge für die Stufen ist dabei noch nicht geklärt. Unklar ist zum Beispiel, ob Häuser, die demnach nicht weiter an der Notfallversorgung teilnehmen dürfen, zukünftig Notfallpatient(inn)en abweisen müssen oder die Behandlung einfach nicht mehr vergütet bekommen. Das Patientenwohl im Rahmen einer flächendeckenden, wohnortnahen Versorgung wird dabei völlig außer Acht gelassen.
Plädoyer für ein neues Gesetz
Parallel dazu plädieren die Bundesländer dafür, die Notfallversorgung in Deutschland gesetzlich neu zu regeln, und regen an, in der nächsten Legislaturperiode eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen. Der dringende Handlungsbedarf wird gesehen. Eine Bund-Länder-Reformkommission "Sektorenübergreifende Versorgung" soll eingerichtet werden mit dem Ziel, eine gemeinsame Bedarfsplanung und abgestimmte Zulassungsregelungen, die Angleichung der Honorierungssysteme sowie die Harmonisierung der Kodierung und Dokumentation im ambulanten wie stationären Versorgungsbereich zu befördern.
Sicher ist: Die Neugestaltung der Notfallversorgung wird in der nächsten Legislaturperiode zu einer der wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung.
Muttersprachler lotsen zu den Hilfen
Weniger unternehmerische Freiheit und mehr Bürokratie befürchtet
Zeit für eine Revolution
„Digitale Agenda, soziales Europa und junges Engagement“
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