Pflege: mehr Professionalität und weniger Regeln
Im Koalitionsvertrag für die 17. Legislaturperiode 2009-2013 wurde das Ziel formuliert, den bürokratischen Aufwand in der Pflege, der aus der Erfüllung rechtlicher Vorgaben entsteht, spürbar und nachhaltig zu reduzieren. Die Identifizierung von Entbürokratisierungspotenzialen ergab sechs Handlungsfelder. Als derzeit einziges konkretes Projekt wird die Entbürokratisierung der Pflegedokumentation in die Praxis umgesetzt. Weitere Entbürokratisierungspotenziale werden derzeit nicht mit bundesweiten Projekten unterstützt1, wie die parallelen Prüfverfahren vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen/Prüfdienst der Privaten Krankenversicherung (PKV) und den Heimaufsichten, die Verordnungs-, Bewilligungs- und Abrechnungsverfahren in der Häuslichen Krankenpflege, die Vertragsgestaltung und Verfahren im Kontext Hilfsmittel gemäß SGB V, der Aufwand durch weitere ordnungsrechtliche Prüfinstanzen in den Ländern und die Schnittstellenproblematik zu Leistungen aus den Sozialgesetzbüchern SGB V, SGB XI und SGB XII
Einerseits schmeichelt es, dass sich die Politik nun endlich der Probleme in der Pflege annimmt, andererseits bleiben zwei Fragen offen: Werden die übrigen Entbürokratisierungsthemen angegangen und wenn ja, wann? Und warum gibt es keine finanziellen Mittel? Warum muss das Entbürokratisierungsprojekt - also die Umsetzung fremdbestimmter Inhalte - aus Eigenmitteln der Einrichtungen finanziert werden? Entsprechend der Praxis wissenschaftlicher Projekte (als solches wird das Entbürokratisierungsprojekt auch deklariert) wäre eine angemessene Finanzierung im Rahmen eines Forschungsprojektes möglich.
Die bundesweiten Entbürokratisierungsbemühungen innerhalb der Pflegeprozessplanung sind aus pflegefachlicher Perspektive kritisch in den Blick zu nehmen. Denn Pflegeprozessplanung als zentrales Merkmal professioneller Pflege orientiert sich an einem Pflegemodell und hat den Gegebenheiten der konkreten Pflegesituation zu folgen und sich nicht vorgegebenen Regeln unterzuordnen.
Nachvollziehbarerweise sind es die Praktiker mit der Zeit leid, immer wieder neuen, mehr oder minder sinnvollen, oft fachlich nicht begründeten Regeln zur Dokumentation zu folgen. Gründe hierfür liegen in einer ausgeprägten Kontrolle durch das Ordnungs- und Leistungsrecht oder in Ausführungsbestimmungen aufgrund haftungsrechtlicher Anforderungen. Dieses Vorgehen kontrollierender Instanzen führt zur Kompensation von Unsicherheiten der Pflegenden mittels Dokumentation. Es wird also nicht nur dokumentiert, was für die Pflege eines Bewohners/einer Bewohnerin wichtig und nötig ist, sondern auch das, was nicht zutrifft. Dass diese Problematik nun bundesweit zur Diskussion steht, ist positiv zu bewerten und wird beruflich Pflegende dabei unterstützen, die Pflegedokumentation auf ein klientenorientiertes Maß zu reduzieren.
Dennoch weisen die Details des Entbürokratisierungsprojektes in eine falsche Richtung und reichen nicht weit genug.
Strukturierte Informationssammlung als Innovation?
Wesentliche Elemente der entbürokratisierten Pflegedokumentation gehen auf die Studie zum Forschungsbericht 261 "Die Bedeutung des Pflegeplans für die Qualitätssicherung in der Pflege"2 zurück. Sie stehen seit der Einführung der Pflegeversicherung zur Verfügung. Im Vorfeld eines Projekts dieses Ausmaßes wäre es fachlich fair und wirtschaftlich effizient gewesen, einrichtungsbezogen zu analysieren, warum dieses Konzept bislang kaum Berücksichtigung in der Praxis gefunden hat. Viele Einrichtungen haben in den letzten Jahren umfangreiche Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung im Umfeld der Pflegedokumentation auf den Weg gebracht. Alle Einrichtungen hier als entwicklungsbedürftig über einen Kamm zu scheren, wird vielen träger- und einrichtungsbezogenen Projekten nicht gerecht. Das Entbürokratisierungsprojekt geht ungeprüft davon aus, dass in allen Einrichtungen Pflegeprozessplanung und -dokumentation nur richtig verstanden werden müssten, um die bestehenden Probleme zu lösen. Nicht in Erwägung gezogen (und analysiert) wird, dass es sich auch bei dieser Problemlage um ein Symptom der Mangelwirtschaft der letzten 20 Jahre handeln könnte: Denn den Einrichtungen stehen weder quantitative (Stellenausstattung) noch qualitative (akademisch qualifizierte Pflegefachkräfte) Ressourcen zur Verfügung, um die Ergebnisse von Forschungsprojekten wahrzunehmen, zu bewerten und in die Praxis umzusetzen. Ebenso ungeprüft bleibt eine weitere mögliche Ursache, dass die Strukturen der heutigen Pflegeausbildung nicht geeignet sind, die Fachkräfte für eine gelingende Pflegeprozessplanung zu qualifizieren.
Macht es Sinn, auf Pflegetheorie zu verzichten?
Der strukturelle Aufbau der Informationssammlung (SIS) entlang der Module des "Neuen Begutachtungsassessments für Pflegebedürftigkeit" (NBA) bringt Probleme mit sich. Der Pflegeprozess ist ein individueller Erkenntnisprozess über die Pflegebedürftigkeit eines einzelnen Klienten. Das NBA jedoch, als ein Begutachtungsassessment zur Klassifizierung von Pflegebedürftigkeit, muss ein Instrument sein, das durch Forschung gewonnene Kriterien für die Unterscheidung von Pflegebedürftigkeit benutzt, die sich verallgemeinern - also standardisieren - lassen. Die Qualität eines Instruments ist aber immer vor dem Hintergrund seines Verwendungszwecks zu beurteilen. Ein Assessment, das im Zuge der Pflegeprozessplanung eingesetzt wird, dient der Einschätzung eines Pflegebedürftigen vor dem jeweiligen theoretischen Hintergrund, der dem Assessment zugrunde liegt. Und dabei gilt auch, dass nicht alle Aspekte und Kriterien eines Assessments für die individuelle Situation des Pflegebedürftigen relevant sein müssen. Damit können Kriterien eines wissenschaftlich gültigen Klassifikationsinstruments einen notwendigen, aber nicht hinreichenden Pool von Aspekten zur Entwicklung eines individuellen Pflegeplans bereitstellen. Bei aller Kritik an der Eignung des Krohwinkelschen Modells3 der "Fördernden Prozesspflege" kann das NBA keine Pflegetheorie ersetzen. Professionelles Handeln zeichnet sich durch theoretische Erklärungs- und Begründungszusammenhänge aus. Der Verzicht auf zum Beispiel Krohwinkels A(B)EDL-Strukturmodell oder eine geeignetere Pflegetheorie großer oder mittlerer Reichweite zugunsten der Verwendung der NBA-Module für die Informationssammlung entzieht damit der Pflege ihre Grundlagen.
Die Module vier bis sechs des NBA (Selbstversorgung, Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte) sind aufgrund ihres Leistungsbezugs für eine Sammlung von Informationen ungeeignet. Durch ihre Verwendung wird eine redundante und zirkuläre Beschreibung von Leistungen angelegt, die den Pflegeplanungsprozess als Problemlösungsprozess ad absurdum führt. Darüber hinaus muss ein Assessment, das wie das NBA zur Klassifikation von Pflegebedürftigkeit eingesetzt werden soll, mess- und testtheoretischen Anforderungen genügen. Dies jedoch kann das NBA nicht leisten.4 Mit der Integration des NBA in die Pflegedokumentationen über das Entbürokratisierungsprojekt werden also Fakten in "vorauseilendem Gehorsam" geschaffen, die der Pflege langfristig zum Nachteil gereichen werden, weil das NBA nicht wird halten können, was mit ihm versprochen wird.5
Grund- und Behandlungspflege
Die juristische Expertengruppe zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation hat in der "Kasseler Erklärung" im Januar 2014 festgehalten, dass im Bereich der Grundpflege auf eine lückenlose Dokumentation verzichtet werden kann und nur die Abweichungen vom Plan zu dokumentieren sind ("Immer-so-Beweis"). Dies ist nicht neu und die Inhalte sind unabhängig von dem Strukturmodell umzusetzen.
Die haftungsrechtliche Sicht stützt sich auf die Unterscheidung von Grund- und Behandlungspflege. Gleichzeitig bedient sie sich des Beispiels des schuldhaft verursachten Dekubitus, einem Risiko, welches in der Verantwortung der sogenannten Grundpflege entstehen kann. Dies zeigt, dass eine Trennung in Grund- und Behandlungspflege nicht haltbar ist und damit die Idee, dass es sich um unterschiedliche gefahrgeneigte Tätigkeiten handele.
Differenzierte Dokumentationsanforderungen von grund- und behandlungspflegerischen Leistungen lassen sich weder pflegewissenschaftlich6 noch klientenbezogen begründen. Professionelle Pflege erschließt "aus dem Fall heraus", welche Leistungen therapeutisch und welche Leistungen kompensatorisch sind.7 Eine Differenzierung der therapeutischen Leistungen von kompensatorischen Leistungen bezieht eine Risikoeinschätzung mit ein. Sie führt zu einer fallbezogenen Begründung, welche pflegerische Interventionen mit welchem Qualifikationsniveau zu erbringen und wie sie zu dokumentieren sind. So kann eine "grundpflegerische" Leistung bei einem Menschen mit Demenz, der sich bei der Körperpflege herausfordernd verhält, eine therapeutische Leistung sein, die von einer Fachkraft (gegebenenfalls gar von einer gerontopsychiatrischen Pflegefachkraft) erbracht werden muss. Wie sie durchgeführt wurde und welche Wirkung dies hatte, muss detailliert im Pflegeprozessplan dokumentiert werden. Dagegen kann der Verbandswechsel einer dauerhaft reizlosen Einstichstelle für eine Magensonde (PEG-Einstichstelle), die der Klient selbst nicht verbinden kann, eine kompensatorische Pflegemaßnahme darstellen. Diese kann von einer entsprechend geschulten und angeleiteten Pflegehelferin durchgeführt und im Rahmen der Durchführungskontrolle/Leistungserfassung dokumentiert werden.
Was ist vonnöten und was eben nicht?
Die Obersten Heimaufsichtsbehörden der Länder haben mit Erlassen signalisiert, dass sie das Strukturmodell in der Praxis anerkennen werden. Nicht zuletzt folgt "Entbürokratisierung" jedoch der gleichen Logik der normativen Kultur wie die Bürokratisierung - es werden neue (weniger) Regeln vorgegeben, die einzuhalten sind.
Notwendig ist aber die Professionalisierung Pflegender. Pflegende müssen in der Lage sein oder in die Lage versetzt werden, dass sie in der Anwendung von Regelwissen auf die konkrete Pflegesituation eines Individuums reagieren und ihre Entscheidungen im Rahmen des Pflegeprozesses begründet vertreten können. Damit kann die Dokumentation des Pflegeprozesses "nur" Prinzipien (Individualität, Folgerichtigkeit, Nachvollziehbarkeit, Aktualität, Multiperspektivität), aber keinen detaillierten Handlungsstandards folgen.
Standardisierungen der Dokumentation - wie die Vorschrift "Grundpflege muss nicht dokumentiert werden" - tragen keinesfalls zu einer professionellen Pflege bei. Im Gegenteil: Pflegende werden verunsichert. Statt die Angemessenheit und Richtigkeit einer pflegerischen Handlung an der konkreten Pflegesituation zu messen, folgt jede neue oder veränderte Norm korrekter Dokumentation jedoch wieder nur strukturellen Argumentationslinien (Leistungsrecht, Haftungsrecht, Praktikabilität innerhalb der Organisation und gegenüber dem MDK).
Je detaillierter die Vorgaben, Regeln und Normen, desto geringer ist der Grad an Freiheit in der Pflegeprozessplanung und -dokumentation.
Neue "fachwissenschaftliche" Regeln, deren Anwendung im Einzelfall wenig Sinn machen, werden durch wieder neue Regeln ersetzt, die die vermeintliche Unfähigkeit der praktisch Pflegenden kompensieren sollen. Nicht aber die "Unfähigkeit" der Praktiker ist unseres Erachtens das Problem, sondern das Unvermögen der Pflegewissenschaft oder der "Theoretiker", das Pflegeprozessmodell auf seine Eignung für die Pflege chronisch Pflegebedürftiger zu prüfen und zu modernisieren.
Disziplinen müssen zusammengeführt werden
In der stationären und ambulanten Langzeitpflege werden theoretische Modelle für die Pflegeprozessplanung benötigt, die Erkenntnisse der Pflegewissenschaft, der Gerontologie und der Geriatrie miteinander verknüpfen und auf ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Pflegebedarf und deren Familien ausgerichtet sind. Die derzeitigen Pflegepraktiker haben kaum Ressourcen, sich mit alternativen Modellen und Konzepten zu beschäftigen. Der politische Wille zu Professionalisierung ist gefragt.
Mit der Entwicklung von Kammern für Pflegeberufe zeigt die Pflege an, dass sie im Rahmen der Selbstverwaltung ihre Berufsangelegenheiten regeln kann. Der Pflege dient es, wenn ihr gesellschaftlicher Wert steigt und die Ressourcen in diesem Bereich vergrößert werden. Wie sie ihre Arbeit dokumentieren, müssen professionell Pflegende selber definieren. Dazu wird weder ein Entbürokratisierungsprozess, der in einem bundesweiten Top-down-Prozess organisiert wird, noch ein vorgegebenes Modell für die Dokumentation benötigt.
Anmerkungen
1. Die Bundesregierung: Erfüllungsaufwand im Bereich ... Pflege, Antragsverfahren auf gesetzliche Leistungen für Menschen, die pflegebedürftig oder chronisch krank sind.
Projektreihe Bestimmung des bürokratischen Aufwands und Ansätze zur Entlastung
März 2013. www.bundesregierung.de/Content/DE/_Anlagen/Buerokratieabbau/2013-03-20-erfuellungsaufwand-pflege.pdf?__blob=publicationFile&v=3 zuletzt geprüft am 10.2.2016 . Im Juni 2011 wurde mit Elisabeth Beikirch als Ombudsfrau eine neue, zentrale Anlaufstelle zur Entbürokratisierung der Pflege im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eingerichtet, die sich mit konkreten Vorschlägen zur Entbürokratisierung in der Pflege am Reformprozess beteiligen soll. Gemeinsam mit den beteiligten Stellen im BMG sollen Empfehlungen erarbeiten werden, welche Maßnahmen zum Bürokratieabbau ergriffen werden können.
2. Höhmann, U.; Weinrich, H.; Gätschenberger, G.: Die Bedeutung des Pflegeplanes für die Qualitätssicherung in der Pflege. In: Agnes Karll Institut für Pflegeforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.). Bonn, 1996.
3. Planer, K: "Fördernde Prozesspflege" - ist sie noch zeitgemäß? In: neue caritas Heft 9/2012, S. 24-26.
4. Bensch, S.: Konstruktvalidität der Module "Mobilität und "Kognitive und kommunikative Fähigkeiten" des Neuen Begutachtungsassessments zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Dissertation an der Philosophisch- Theologischen Hochschule Vallendar, Pflegewissenschaftliche Fakultät. Hungen: hpsmedia, 2013.
5. Brühl, A. (Hrsg.): Pflegebedürftigkeit messen? Herausforderungen bei der Entwicklung pflegerischer Messinstrumente am Beispiel des Neuen Begutachtungsassessments (NBA). Wissenschaftlicher Bericht. Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, 2012. http://opus.bsz-bw.de/kidoks/volltexte/2012/71/pdf/Bruehl_Pflegebeduerftigkeit_messen_2012.pdf, zuletzt geprüft am 17.8.2015.
Brühl, A.; Planer, K.; Bensch, S.: Zur Diskussion: Entwicklungsperspektiven für das Neue Begutachtungsassessment. Pflege & Gesellschaft 21 (1) 2016, S. 78-87.
6. Müller, E.: Grundpflege und Behandlungspflege. Historische Wurzeln eines reformbedürftigen Pflegebegriffs. In: Pflege & Gesellschaft 3 (2) 1998, S. 1-6.
7. Planer, K.: "Fördernde Prozesspflege" - ist sie noch zeitgemäß? In: neue caritas Heft 9/2012, S. 24-26.
Literatur
Wingenfeld, K.; Büscher, A.; Gansweid, B.: Das neue Begutachtungsassessment zur Feststellung von Pflegebedürftigkeit. Projekt: Maßnahmen zur Schaffung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines neuen bundesweit einheitlichen und reliablen Begutachtungsinstruments zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI. 2008. www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag6/downloads/Abschlussbericht_IPW_MDKWL_25.03.08.pdf, zuletzt geprüft am 12.2.2016
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