Interreligiöse Bildung – ein Weg zu Offenheit und Wertschätzung
Im Alltag von Kindertageseinrichtungen kommen täglich Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte mit vielen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen zusammen. Diese Vielfalt betrifft den pluralen Lern- und Lebensort "Kita" auf verschiedenen Ebenen:
- Kinder bringen persönliche Vorstellungen und Erfahrungen in die Einrichtung.
- Eltern beeinflussen die kindliche Vorstellungs- und Erfahrungswelt und haben selbst individuelle Vorstellungen, wie das Bildungs- und Entwicklungsfeld "Sinn, Werte und Religion" umgesetzt wird.1
- Fachkräfte bringen ihre persönliche Biografie mit ein und sind angehalten, ihre weltanschauliche oder religiöse Überzeugung im Hinblick auf ihre pädagogische Arbeit zu reflektieren.
- Träger haben bestimmte Vorstellungen zum Umgang mit Religion und religiöser Pluralität in ihrer Einrichtung.
- Umfeld und Standort der Einrichtung beeinflussen die Konstellation an weltanschaulichen beziehungsweise religiösen Überzeugungen innerhalb der Einrichtung.
Diese Anschauungen spielen eine wichtige Rolle und werden von unterschiedlichen Akteuren in die Einrichtung eingebracht.?Wie eine Erzieherin formulierte: "Religion hat ganz unbedingt einen Platz, weil das… unsere Kinder ganz stark ja auch leben. Also das bestimmt ihren Alltag, und das hier dann nicht stattfinden zu lassen, wäre an ihrer Lebenssituation vorbei…"2
Kinder konstruieren und reflektieren persönliche religiöse und weltanschauliche Vorstellungen. Im Gespräch mit anderen Kindern, Eltern und Fachkräften nehmen sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede wahr und diskutieren diese. Interreligiöse Bildung nimmt vor diesem Hintergrund einen ganz besonderen Platz ein: Durch die gemeinsame Besprechung und Reflexion verschiedener religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen können Kinder zum einen etwas über andere Überzeugungen lernen. Zum anderen wird den Lernenden durch diese neuen Informationen die Möglichkeit eröffnet, eigene Vorstellungen zu reflektieren.
Neues kennenlernen und daraufhin Bekanntes überdenken ist ein Grundprinzip vieler Bildungsprozesse. Interreligiöse Bildung nimmt das Spektrum von Überzeugungen bewusst wahr und macht sie für Eltern und Kinder zum Thema. Offenheit, Achtung, Sensibilität und Wertschätzung sind dabei Grundlagen für einen konstruktiven Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt: "Dazu gehört es, allen Kindern eine umfassende Begleitung im Prozess des Aufwachsens in der Pluralität zu geben, auch in religiöser Hinsicht", so die Meinung von Religionspädagogen.3 Diese umfassende Begleitung benötigt…
- … eine Reflexion im Team, in der religiöse und weltanschauliche Vorstellungen der Fachkräfte besprochen und im Hinblick auf die pädagogische Arbeit reflektiert werden.
- … eine Reflexion der Trägerperspektive und der Konzeption der Einrichtung.
- … eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern, deren Überzeugungen eine wichtige Orientierung für die Kinder darstellen und deren Kooperation für interreligiöse Bildungsprozesse elementar ist.
- … die Kooperation mit Institutionen im Umfeld der Kita, die Begegnungen ermöglichen und authentische Beispiele anbieten können.
- … eine Verankerung im Alltag der Kita durch Angebote, die religiöse und weltanschauliche Vielfalt aufnehmen und damit die Konstruktionspotenziale der Kinder fördern. Solche interreligiöse Bildung kann durch Erzählungen, Materialien, Diskussionen und gestalterische Tätigkeiten geschehen - Kinder lernen auf indirektem Wege andere Überzeugungen kennen und können dabei ihre persönliche Haltung reflektieren. Interreligiöse Bildung kann auch in der Begegnung mit anderen entstehen. Die Kinder erfahren hier auf direktem Wege, im Gespräch mit anderen Kindern oder Bezugspersonen von deren Überzeugung und können im Gespräch ihre persönlichen Vorstellungen reflektieren.4
Interreligiöse Bildung findet intensiv und nachhaltig statt, wenn sich Menschen mit verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen in ihrer alltäglichen Lebenspraxis oder in einem bewusst initiierten Umfeld treffen und dabei interagieren. Kitas sind ganz selbstverständlich Lern- und Lebensräume, in denen Begegnungen zwischen Kindern, Fachkräften und Eltern mit unterschiedlichen Überzeugungen zum Alltag gehören. Aktuelle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Begegnungen und Gespräche zwischen Kindern unterschiedlicher Überzeugungen interreligiöse Bildungsprozesse besonders intensiv und nachhaltig fördern können.5 Vor diesem Hintergrund ist es Aufgabe von Kindertageseinrichtungen, Begegnungen zu fördern und interreligiöse Bildungsprozesse gezielt zu initiieren.
Das Erörtern einer religiösen Erzählung aus unterschiedlichen Perspektiven, der Besuch eines religiösen Ortes, das Feiern religiöser Feste und die Begegnung mit Menschen, die einer bestimmten Überzeugung angehören und von dieser berichten - dies und viele weitere Momente können das Thema religiöse Vielfalt erlebbar machen. Interreligiöse Bildung findet sich im Alltag der Einrichtung wieder und bezieht alle Beteiligten der Erziehungspartnerschaft mit ein.
Überzeugungen sind oft emotional geprägt
Für viele Einrichtungen zeigt sich dabei ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen religiöser Vielfalt und Identität:
Weltanschauliche und religiöse Überzeugungen sind häufig eng mit der persönlichen Identität verknüpft. Dementsprechend können sie eine Tiefendimension aufweisen, die auch stark emotional besetzt ist: Glaube und Überzeugung sind etwas Wertvolles und Persönliches - ein wertschätzender, achtsamer und sensibler Umgang damit ist Grundlage für ein gelingendes Miteinander. Wenn unterschiedliche Anschauungen aufeinandertreffen, gilt es, Aushandlungsprozesse entsprechend konstruktiv zu fördern.
Fachkräfte sind herausgefordert
Die Vielfalt weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen in Kitas kann pädagogische Fachkräfte vor große Herausforderungen stellen, zugleich bietet sie konstruktive Entwicklungschancen:
- Persönliche Überzeugungen können nur dann ernst genommen werden, wenn sie auch zur Sprache kommen: Die Einrichtung kann Kinder und Eltern dazu ermutigen, ihre Vorstellungen einzubringen in Form von Traditionen, Ritualen, Festen, Werten oder Ansichten zu gesellschaftlichen Fragen.
- Jedes Kind ist mit seiner individuellen Überzeugung angenommen.6 Unterschiedliche Anschauungen dürfen gleichberechtigt nebeneinanderstehen und können in einen konstruktiven Diskurs eingebunden werden: An Ostern feiern Christen die Auferstehung Jesu Christi. Für Muslime ist dieses Fest problematisch, denn im Koran stirbt Jesus nicht am Kreuz, und er ersteht auch nicht wieder auf.7 Diese Unterschiede können offen besprochen werden und müssen auch bestehen bleiben - gleichzeitig kann man auf die vielen Gemeinsamkeiten blicken, die Bibel und Koran in Hinblick auf Jesus kennen.
- Weltanschauliche und religiöse Überzeugungen besitzen häufig eine emotionale Dimension: Diese Emotionalität kann sich im Feiern von Festen, im Reflektieren existenzieller Fragen oder in der Diskussion zwischen Menschen unterschiedlicher Überzeugungen zeigen. Emotionalität gehört dazu und sollte auch zugelassen werden - im Umgang mit anderen sollte gleichzeitig Selbstregulation eingeübt werden.
- Religiöse Erzählungen umfassen häufig Themen, die unser Leben angehen: Solidarität, Hoffnung, Liebe - aber auch Ungerechtigkeit, Tod und Leid werden thematisiert. Aus verschiedenen Religionen können Erzählungen für alle Kinder fruchtbar gemacht werden, indem zentrale Themen elementarisiert angeboten werden. So können beispielsweise die verschiedenen Erzählungen zu Abraham einen konstruktiven Zugang für Kinder mit jüdischem, muslimischem und christlichem Hintergrund anbieten: Die Erzählungen enthalten unter anderem Themen wie Vertrauen, Angst, Freude, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit und diskutieren diese in weltlichen und religiösen Zusammenhängen.
- Eltern oder Vertreter(innen) verschiedener Religionen können den Kindern und Fachkräften in der Einrichtung ein authentisches Bild ihrer persönlichen Überzeugung vermitteln. Dies kann für alle eine spannende Erfahrung sein und interreligiöse Lernprozesse fördern. Dabei sollte eine Botschaft im Mittelpunkt stehen: Persönliche Überzeugungen sind bei uns willkommen und werden in ihrer Einzigartigkeit anerkannt - verschiedenste Überzeugungen sind in unserer Einrichtung vertreten und müssen miteinander auskommen.
Wenn vielfältige religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zusammenkommen, kann dies zu Fragen und Unstimmigkeiten, aber eben auch zu Bildungsmöglichkeiten und Entwicklungschancen führen - eine Annahme von Vielfalt sollte Ausgangspunkt und Ziel von Einrichtungen sein.
Nichtbeachten führt zu Konflikten
Nichtbeachtung oder Gleichmachung können zu Vorurteilen und Konflikten führen und werden der Einzigartigkeit individueller Überzeugungen nicht gerecht. Offene Thematisierung, die Suche nach gemeinsamen Lösungen und das Aushandeln von gangbaren gemeinsamen Wegen hingegen kann Lernprozesse fördern und eine konstruktive Atmosphäre schaffen: Auf diese Weise dürfen Kinder ihre individuellen Überzeugungen mitbringen und leben, andere Überzeugungen kennen- und schätzen lernen und eigene Vorstellungen reflektieren - ein lohnender Dreiklang, der interreligiöse Bildung für jede Kindertageseinrichtung wertvoll macht.
Anmerkungen
1. Vgl. Orientierungsplan für Bildung und Erziehung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen, 2014, S.165-173.
2. Dieses Zitat stammt von einer pädagogischen Fachkraft, die im Rahmen des Forschungsprojekts "Potentiale religiöser und interreligiöser Kompetenz" befragt wurde. Informationen zum Forschungsprojekt:
www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/fakultaet3/theologie/Knoblauch/abstract.pdf
3. Edelbrock, A.; Biesinger, A.; Schweitzer, F.: Religiöse Vielfalt in der Kita. So gelingt interreligiöse und interkulturelle Bildung in der Praxis. Berlin: Cornelsen, 2012, S. 23.
4. Zur Unterscheidung von direkter und
indirekter interreligiöser Bildung: Vgl. Leimgruber, S.: In der Begegnung mit Muslimen
lernen. Chancen interreligiösen Lernens
im Religionsunterricht der Sekundarstufen I und II. In: Bundesverband der katholischen
Religionslehrer und Religionslehrerinnen an
Gymnasien (Hrsg.): Religionsunterricht an
höheren Schulen. Düsseldorf, 2006, S. 246-254.
5. Knoblauch, C.: Religiöser und interreligiöser Kompetenzerwerb in der frühen Bildung. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt. In: Pädagogische Hochschule Freiburg (Hrsg.): Forschungsbericht 2009-2011. Freiburg, 2012, S. 36-38.
6. Vgl. Orientierungsplan, 2014, a.a.O., S.167.
7. Literaturtipp: Knoblauch, C.: "Da machte er sich vom Kreuz ab!" Kindliche Interpretationen des Osterfestes als Chance für interreligiöses Lernen. In: IRP Erleben & Erfahren, Freiburg, 2014.
Pflege: mehr Professionalität und weniger Regeln
Profil gibt's nicht zum Nulltarif
Die 50-Euro-Frage
Geschlechtergerechtigkeit in der Generation Y
Bärendienst für die Jugend
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}