Die 50-Euro-Frage
Noch einmal 50 Euro und der auf einen Stock gestützte neunjährige Junge, der von uns umringt in einem abgelegenen Dorf im Nordwesten Tansanias steht, hätte eine Chance auf ein selbstständiges Erwachsenenleben. Entlang der rechten Wade zieht sich eine lange Narbe. Bein und Fuß stehen schon fast gerade, das linke Bein dagegen ist noch gebogen, der Fuß berührt nur mit der Kante den Boden. Aber der Vater des Jungen sagt, er habe das Geld für die zweite Operation nicht. Möglicherweise fehlt ihm auch nur die Hoffnung auf eine Heilung seines Sohnes, bestätigt Mireile Kapilima unseren Eindruck. Er hat noch sechs gesunde Kinder.
Wir sind im Rahmen der Dialogreise 2015 von Caritas international (Ci)1 in Tansania unterwegs. Mireile Kapilima leitet das Rehabilitations-Zentrum Huduma ya Walemavu, übersetzt "Hilfe für Behinderte", in der kleinen Ortschaft Monduli und begleitet uns an diesem Tag.
Als erste Projektpartner lernen wir auf der Reise die "Daughters of Mary Immaculate" kennen. Die indischen Ordensschwestern nehmen in Daressalam Straßenmädchen für ein Jahr auf, bieten ihnen Schul- und Ausbildung und führen sie mit einer Erfolgsquote von 82 Prozent in ihre Familien zurück. Kindergärten der Massai sowohl nur als ausgebreitete blaue Plastikplane unter einer Schirmakazie als auch schon als feste Gebäude waren ein weiteres Besuchsziel.
Verständnis für Menschen mit Behinderung fördern
Der weite, aber sichtbar beharrlich verfolgte Weg zum in der Projektinfo formulierten "Oberziel" des Ci-Projekts in Monduli ist das dritte Schwerpunktthema: "Menschen mit Behinderung sind in die Gesellschaft integriert und nehmen am gesellschaftlichen Leben aktiv teil." Wie schwierig dies umzusetzen ist, sehen wir in Dörfern in der Region Monduli, wie es gelingen kann im Reha-Zentrum selbst. Von hier sind drei Teams ständig in der Region unterwegs, um 100 ehrenamtliche Gesundheitshelfer(innen) aus- und fortzubilden und das Verständnis für Menschen mit Behinderung zu fördern.
In Monduli werden nicht nur Kinder und Jugendliche aufgenommen, um sie
auf Operationen vorzubereiten sowie anschließend medizinisch und physiotherapeutisch zu versorgen. Es wird auch versucht, ihnen eine Perspektive zu eröffnen. Das fängt in einem integrativen Kindergarten auf dem Gelände an. Wenn möglich, werden behinderte Menschen im Zentrum beschäftigt. Den großen Garten für die eigene Versorgung bewirtschaftet beispielsweise ein einarmiger Gärtner.
Eine häufige Behinderung bei Kindern und Jugendlichen in der Region offenbart sich auf unserem Rundgang gleich beim ersten jungen Patienten. Pray God, so sein Name, hat deformierte Beine und wartet auf die bevorstehende Operation in einer Klinik in der 1,2-Millionen-Einwohner-Stadt Arusha unweit des Kilimandscharo. Die in der vulkanisch geprägten Region von Natur aus sehr hohen Fluorwerte im Trinkwasser haben bei ihm wie auch bei dem Neunjährigen, der bereits eine OP hinter sich hat, zu Knochenerweichung geführt. Die Deformierung bei Pray God ist allerdings weit weniger ausgeprägt und die Chancen auf Heilung sind gut. Weitere verbreitete Ursachen für eine Behinderung sehen wir bei den anderen Patienten: Probleme bei der Geburt, Unfälle, vor allem Verbrennungen an den offenen Kochstellen in den Hütten, oder Mangelernährung.
Prothesenbauer sind auf dem Land Mangelware
Jeweils zwölf Doppelstockbetten stehen eng beieinander in den drei Häusern, in denen die jungen Patienten mit ihren Angehörigen aufgenommen werden. Nach den Operationen werden sie hier in der Regel über mehrere Wochen versorgt, um Entzündungen vorzubeugen. Auf dem weitläufigen, schattigen Gelände, über das die für die Eigenversorgung gehaltenen Kühe und Ziegen getrieben werden, gibt es zudem Werkstätten. Mireile Kapilima zeigt uns die für den Prothesenbau. Still ist es hier. Die Maschinen mit deutschen Herstellerschildern verstauben. Muster und halbfertige Beinprothesen liegen auf den Werkbänken. Der letzte Spezialist ist gegangen. Einen der wenigen kundigen Prothesenbauer aus den Städten auf das Land zu locken, erweist sich als schwierig.
Behindertenarbeit in Tansania ist eine besondere Herausforderung. Gut 2,6 Millionen der etwa 50 Millionen Einwohner in dem ostafrikanischen Land von der vierfachen Größe Deutschlands haben eine Behinderung. Reich ist es an Naturwundern wie der Serengeti, dem Ngorongoro-Krater oder dem Kilimandscharo und bei einer Geburtenrate von knapp sechs pro Frau noch reicher an Kindern. Aber ansonsten so arm, dass es an 159. Stelle im weltweiten Entwicklungsindex steht, der mit Niger als 187. Staat endet.
Das Verständnis in der Bevölkerung für Menschen mit Behinderung ist überwiegend noch auf dem Stand, den wir aus eigener Erfahrung aus dem vergangenen Jahrhundert und davor kennen: Sie werden versteckt, ausgestoßen oder ihrem Schicksal überlassen. Eine medizinische Versorgung gibt es nicht oder nur unzureichend.
Glücklich kann sich ein Dorf mit einer Gesundheitsstation schätzen, wie etwa Arumeru. Von deutschen Vorstellungen weit entfernt bietet sie die Chance auf eine Basisversorgung, auch dem 18-Jährigen, der zur Sprechstunde erscheint. Wieder ein Fall von Knochenerweichung und Deformierung der Beine. Die Daten werden aufgenommen, ein Termin für eine genauere Untersuchung in Monduli vereinbart. Der Dorfvorsteher beklagt in seinem kärglich eingerichteten "Büro" das Problem. Es gebe kein gesundes Wasser. Einige Familien hätten schon die einzig mögliche Konsequenz gezogen und seien fortgezogen.
Eltern überzeugen, dass sich eine Operation lohnt
Auch einer der ehrenamtlichen Gesundheitshelfer sieht hier die Patienten für eine Korrektur ihrer Behinderungen. Wobei es nicht nur um das Aufspüren geht, sondern immer wieder auch die Eltern überzeugt werden müssen, dass eine wirksame Hilfe möglich ist.
Die beharrliche Arbeit und die mit ihr verbundene Öffentlichkeitsarbeit wirken. Mireile Kapilima verweist darauf, dass das Bewusstsein für Menschen mit Behinderung in der tansanischen Gesellschaft wächst und zunehmend auch auf die Gesetzgebung des Landes wirkt. Ein großer Erfolg neben den Zahlen des Reha-Zentrums. 2080 behinderte Menschen sind hier allein im Projektzeitraum 2012 bis 2015 aufgenommen und behandelt worden. 450.000 Euro hat Ci für die kommenden drei Jahre zusagen können. Hauptgeldgeber ist die Peter-Osypka-Stiftung. Auch die Diözese Arusha und weitere Spender geben Geld. Ein wenig tragen auch die Patienten bei. 2000 Shilling am Tag, etwas weniger als einen Euro, müssen sie selbst bezahlen und eben 50 Euro Eigenanteil für eine Operation.
Seit 1989 engagiert sich Ci für das Behindertenprogramm. Gegründet wurde es in Arusha von Elfriede Steffen, einer deutschen Freiwilligen. Zwischen 1995 und 1998 konnte Ci die Mittel für den Bau der Gebäude des Rehabilitations-Zentrums in Monduli bereitstellen. Nach Elfriede Steffens Rückkehr nach Deutschland übernahm ihre Mitarbeiterin Anna Mollel die Verantwortung, Vorgängerin von Mireile Kapilima. Anna Mollel ist ein gutes Beispiel für das hohe Engagement der Projektpartner, das uns auf der einwöchigen Reise immer wieder begegnet. Eigentlich im Ruhestand hat sie nach und nach Kinder mit Behinderung bei sich aufgenommen. 2012 erkannten ihr Kinder in einer weltweiten Internetabstimmung den mit 50.000 Dollar dotierten World’s Children’s Prize zu. Einen Teil stiftete sie "ihrem" Reha-Zentrum in Monduli, mit dem verbliebenen Geld baute sie die Engilanget-Grundschule in Arusha, wo wir sie treffen.
270 Kinder werden hier unterrichtet, davon 14 mit Behinderungen. Dass Integration und Verständnis möglich sind, zeigt das Beispiel eines Schülers, der keine Arme hat und nur einen Fuß gebrauchen kann, mit dem er Schreiben gelernt hat. Das uns demonstrierte erstaunliche Ergebnis begleiten seine Mitschüler mit lauten "Superstar"-Rufen. Er gehört zu ihnen. Anna Mollel lebt mit sieben behinderten Kindern zusammen und hat mit anderen Frauen eine Weberei gegründet, um den Lebensunterhalt für ihre "Familie" zu verdienen.
Die Begegnung mit dem Neunjährigen und der Hoffnung auf eine zweite Operation hat bei uns nachhaltig Eindruck hinterlassen. Spontan entsteht die Idee, die 50 Euro dafür zusammenzulegen. Doch unsere Begleiter, Ci-Länderreferent Wolfgang Fritz und Oliver Müller, Abteilungsleiter von Ci, halten uns davon ab. Ci leiste keine Einzelfallhilfe, sondern Hilfe für Einzelne in strukturellen Projekten, die die Notlage langfristig und nachhaltig verbessern sollen. Wir können das am letzten Tag der Projektbesuche nachvollziehen, auch wenn es in diesem Moment schwerfällt, es zu akzeptieren.
Anmerkung
1. Jedes Jahr bietet Caritas international bei einer Dialogreise leitenden Mitarbeitern der Caritas an, Partner und deren Arbeit vor Ort kennenzulernen.
Pflege: mehr Professionalität und weniger Regeln
Interreligiöse Bildung – ein Weg zu Offenheit und Wertschätzung
Profil gibt's nicht zum Nulltarif
Geschlechtergerechtigkeit in der Generation Y
Bärendienst für die Jugend
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}