Chancengerechtigkeit von Anfang an
Eltern und Fachkräfte sind verunsichert. Über Nutzen oder Schaden durch den Besuch einer Kita für Kinder unter drei Jahren wird diskutiert. Dies hat auch damit zu tun, dass sich gesellschaftliche Werte und Rahmenbedingungen seit einigen Jahren wandeln. Wieso ist der Kitabesuch vor dem dritten Geburtstag dennoch ein Gewinn für das Kind - und wo liegen die Grenzen dieses Angebots?
2015, im zweiten Jahr nach Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf öffentlich geförderte Bildung, Erziehung und Betreuung, nutzen gut 693.300 Kinder unter drei Jahren ein solches Angebot, die meisten zwischen dem ersten und dritten Geburtstag.1 Das sind 32,9 Prozent aller Kinder dieser Altersstufe, ein Achtel davon (90.000) besucht katholische Kindertageseinrichtungen. Der Ausbau dieses Betreuungsangebots hatte nach dem Tagesbetreuungs-ausbaugesetz 2005 rasant Fahrt aufgenommen und findet unter sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen statt: Die Titel der Kinder- und Jugendberichte der Bundesregierung sprechen vom "Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung" (2002) und vom "Aufwachsen in neuer Verantwortung" (2013). Sie konstatieren damit, dass das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in öffentlicher und privater Verantwortung eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Die Kinder- und Jugendhilfe wurde zu einem immer bedeutenderen gesellschaftlichen Teilbereich, ohne dass dadurch die privat-familiäre Verantwortung infrage gestellt wurde.
Ganzheitlicher Bildung verpflichtet
Ein Ziel des bedarfsgerechten Ausbaus der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige ist es, allen Kindern so früh wie möglich Zugangschancen zu Bildungsangeboten zu verschaffen. Ein weiteres Ziel ist es, der wachsenden Zahl von Eltern, die Familie und Beruf vereinbaren wollen oder müssen, ein verlässliches und qualifiziertes Betreuungsangebot zu machen. Davon sind überwiegend Frauen betroffen, denen es erleichtert werden soll, ihre beruflichen Perspektiven zu verfolgen. Aber auch Väter wünschen zunehmend diese bessere Vereinbarkeit, um mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.
Kindertageseinrichtungen in öffentlicher oder freier Trägerschaft übernehmen im Sinne dieser Ziele gesellschaftliche Verantwortung: Sie unterstützen die "tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern" (Grundgesetz Artikel 3 Abs. 2), indem sie Müttern und Vätern verlässliche Betreuungsangebote für ihre Kinder - auch in den ersten drei Lebensjahren - bereitstellen. Sie sorgen schon lange vor der Schule dafür, dass Kinder für ihre Entwicklung über die Familie hinaus Anregungen, Unterstützung und Begleitung erhalten. Der gesetzliche "Förderungsauftrag umfasst Erziehung, Bildung und Betreuung des Kindes und bezieht sich auf die soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes"2. Diesen Auftrag nehmen katholische Kindertageseinrichtungen aus ihrer christlichen Grundhaltung heraus wahr, weil sie sich in besonderer Weise der Würde des Kindes und seinem Recht auf ganzheitliche Bildung verpflichtet fühlen.
Grundlagen für weiteres soziales Lernen
Kinder bilden sich vom ersten Lebenstag an. Sie nehmen die Welt mit allen Sinnen wahr. Um das Wahrgenommene verarbeiten zu können, brauchen sie ein Gegenüber, einen Menschen, der in einen liebevollen Austausch mit ihnen tritt. Dieser Mensch ist naturgemäß zunächst einmal die Mutter. Sie
versteht die Signale des Kindes und kann prompt und angemessen darauf reagieren. Auf diese Weise unterstützt sie das Baby dabei, sich selbst kennenzulernen. Es erlebt, dass seine Bedürfnisse nach Nahrung, Zuwendung und Pflege erfüllt werden. Dabei ist es schon früh in der Lage, mit der Mutter, dem Vater und gegebenenfalls weiteren Personen über Blicke, Laute und Körpersprache zu kommunizieren. Mit diesem Austausch werden schon in den ersten Lebenswochen auch Gefühle transportiert und "gelernt": Das Kind lernt so, positive und ermutigende Gefühle der Bezugsperson von negativen oder Gefahr signalisierenden zu unterscheiden und sein Verhalten danach auszurichten. Zum Ausdruck gebrachte positive Gefühle wie Bestätigung, Trost oder Körperkontakt helfen dem Kind, eigene negative Gefühle zu verarbeiten und ein positives Selbstbild zu entwickeln. Diese Fähigkeit, Emotionen selbst zu regulieren, "ist von zentraler Bedeutung für die kindliche Verhaltensentwicklung"3 und bildet die Grundlage für das weitere soziale Lernen des Kindes.
Eine zuverlässige persönliche Bindung aufbauen
Mit der Grundausstattung einer sicheren Bindung lernen Kinder überall, in alltäglichen Situationen und in der Kindertageseinrichtung. Pädagogische Fachkräfte kennen diese Grundbedingung. Und sie wissen, dass das kleine Kind auch in der Einrichtung eine zuverlässige persönliche Bindung mit einer Person aufbauen muss, damit es sich dort wohlfühlt und die Angebote der Kita nutzen kann.
Das erste Angebot, das eine Krippe oder eine Kita jungen Kindern macht, ist die Eingewöhnungsphase. Für diese wichtige Anfangszeit steht dem jungen Kind und dem Elternteil, das diese Zeit begleitet, eine Fachkraft zur Verfügung. Deren Aufgabe ist es, das aufzunehmende Kind kennenzulernen und sich ganz auf es einzulassen. Die Begleitung der vertrauten Person ermöglicht es dem Kind, sich dem neuen Ort anzunähern. Die Fachkraft bietet sich in dieser Phase als sogenannte Bezugserzieherin an, das heißt, sie nimmt mit dem kleinen Kind Kontakt auf, stellt sich auf dessen Signale ein und beantwortet diese einfühlsam.
Mit der Kita-Zeit ihres Kindes beginnt auch für die Eltern eine neue Phase: Sie trauen dem Kind zu, sich auf neuem Terrain zu behaupten, sie vertrauen ihr Kind einer zunächst fremden Person an und gehen mit dieser schließlich eine Erziehungspartnerschaft ein. Die pädagogische Fachkraft erkennt die Eltern als Experten ihres Kindes an und tauscht sich mit ihnen über das Kind aus. Daraus erwächst eine regelmäßige Kommunikation über das Kind - zu seinem Wohl.
Auf der Grundlage dieser auch von den Eltern akzeptierten Bindung entdeckt das Kind die Kita mit ihren Angeboten. Für seine kognitive, emotionale, motorische und soziale Entwicklung findet es eine vorbereitete Umgebung vor, die es mit Lust und Freude annehmen kann. Eine anregungsreiche und entwicklungsangemessene Raumgestaltung gehört ebenso dazu wie ein strukturierter Tagesablauf, der mit wiederkehrenden Situationen, Ritualen und Freiräumen Sicherheit vermittelt. Das gut eingewöhnte Kind kann nun den Nahraum erkunden und neugierig Kontakt aufnehmen.
Im Leben des jungen Kindes nehmen pflegerische Tätigkeiten viel Zeit in Anspruch. Fachkräfte wissen, dass Wickeln mehr ist als Windelnwechseln. Deshalb nutzen sie diese Zeiten für eine "beziehungsvolle Pflege": Sie kommunizieren mit dem Kind, lange bevor es sich verbal ausdrücken kann; sie sprechen mit dem Kind darüber, was gerade getan wird, und sie lassen das Kind so früh wie möglich mitmachen. In dieser intensiven gemeinsamen Zeit findet auch alltagsintegrierte Sprachförderung statt: Die Erzieherin nimmt die kindlichen Äußerungen und Bedürfnisse des Kindes auf, versprachlicht und wiederholt sie. Mit dieser responsiven Haltung verstärkt die Erzieherin die Lust des Kindes am Nachahmen und an der Kommunikation. Und baut so die Fähigkeit für soziale Partizipation weiter aus, die das Kind von zu Hause mitgebracht hat. Sich am sozialen Miteinander beteiligen zu können, ist eine grundlegende Entwicklungsaufgabe, die das Kind in der Gruppe einer Kindertageseinrichtung üben kann.
Im zweiten Lebensjahr interessiert sich das Kind immer stärker für andere Kinder und für das, was diese gerade tun. Kinder bauen Beziehungen zueinander auf, sie lernen voneinander und miteinander. Die pädagogische Fachkraft hat dabei nicht nur das einzelne Kind im Blick, sie gestaltet auch seine Beziehung zur Gruppe.
Die Fachkräfte begleiten und beobachten die Kinder, dokumentieren Entwicklungsfortschritte und regen mit Musik und Bewegung, mit Religion, Kultur und Technik sowie in der Natur entwicklungsangemessen an. Vor allem aber sprechen sie mit den Kindern und lassen die Kinder mit ihren Themen zu Wort kommen.
Die Struktur des Tagesablaufs umfasst Situationen wie Ankunft, Begrüßung und Abschied, Morgenkreis, gemeinsames
Singen, Freispielphasen, Essen, Ruhen sowie kleine Ausflüge. In dieser Alltagsstruktur sind viele Anregungen für Bildungsprozesse, wie sie in den Bildungsplänen formuliert werden, enthalten. Darüber hinaus sind Kitas Orte der Inklusion und Vielfalt: Kinder werden liebevoll, individuell und ressourcenorientiert angenommen.
Kindertagesbetreuung ist auch ein Angebot von Kinderschutz und Prävention: Kitas haben Schutzkonzepte erarbeitet, die die Fachkräfte für das Erkennen und den Umgang mit verschiedenen Formen von Gewalt sensibilisieren. Oft sind Kindertageseinrichtungen im Sozialraum vernetzt mit Angeboten der Frühen Hilfen, auf die sie Eltern mit besonderem Unterstützungsbedarf hinweisen können.
Grenzen der Kita-Betreuung für unter Dreijährige
Zwei Grundvoraussetzungen müssen erfüllt sein, damit die Tagesbetreuung von Kindern unter drei Jahren gewinnbringend ist:
1. Träger, Team und Leitung müssen sich darauf einlassen. Das zeigen sie, indem sie ein Konzept für die Bildung, Erziehung und Betreuung der Jüngsten erarbeiten. Die Fachkräfte müssen für dieses Arbeitsfeld qualifiziert werden, und diese anspruchsvolle Tätigkeit muss - auch in der Entlohnung - Wertschätzung erfahren.
2. Die Kinder sollen bereits eine gute Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut haben, damit sie in der Kita daran anknüpfen können.
Sind diese beiden Voraussetzungen nicht erfüllt, kann die frühe Kindertagesbetreuung ihr Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot nur begrenzt entfalten und nicht wünschenswerte Wirkungen auf das Kind haben. Das notwendige fachliche und strukturelle Niveau in den Einrichtungen ist aber - auch aufgrund des Fachkräftebedarfs - optimierbar und muss weiterhin entwickelt und ausgebaut werden. Nur dann kann das Angebot der Kita mittel- und langfristig ein Gewinn für jedes Kind sein.
Orte, an denen jedes Kind willkommen ist
Die Angebote katholischer Kitas für Kinder in den ersten drei Lebensjahren greifen die Bedürfnisse von Familien in sich verändernden Lebenswelten auf. Sie sind Orte der Familien, in denen jedes Kind willkommen ist. Ihr pädagogisches Angebot unterstützt die Kinder bei ihrer Entwicklung zu einem eigenverantwortlichen Leben in der Gemeinschaft. Damit die Rahmenbedingungen an die wachsenden Anforderungen angepasst werden können, setzt sich der Verband Katholischer Tageseinrichtungen für Kinder (KTK) dafür ein, dass strukturelle Standards wie die Fachkraft-Kind-Relation geregelt werden und dass die pädagogischen Fachkräfte auf verlässliche Unterstützungsleistungen zurückgreifen können. Die fachlich notwendigen Standards für die
Kindertageseinrichtungen müssen auf der Grundlage wissenschaftlicher Expertisen definiert werden. Keinesfalls dürfen Vereinbarungen getroffen werden, die zu einer Absenkung des Qualitätsniveaus führen. Mit diesen Vorzeichen hält der KTK-Bundesverband die Aufnahme von Kindern unter drei Jahren in Kitas für ein bereicherndes Angebot, an dessen beständiger Optimierung auf allen Ebenen gearbeitet wird.
Anmerkungen
1. www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Soziales/Sozialleistungen/Kindertagesbetreuung/Kindertagesbetreuung.html, Download am 13.7.2015.
2. § 22 (3) SGB VIII.
3. Ahnert, L.: Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung - Bildung - Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg, 2010, S. 66.
Moderne Sklaverei
Update zum Mindestlohngesetz
Der Beratungsbedarf nimmt zu
Neue ISO-Norm schließt Lücke
Die Integrationsmanager
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}