Statement: Thomas Rühl
Für immer weniger Arbeitnehmer(innen) in Deutschland gelten Tarifverträge. Im Jahr 2013 galt deutschlandweit nur noch für 48 Prozent der Beschäftigten und für 30 Prozent der Betriebe ein Tarifvertrag; im Jahr 1998 wurden noch knapp 74 Prozent der Beschäftigten und 49 Prozent der Betriebe von einem TV erfasst. Mehr als ein Viertel der Beschäftigten hat also innerhalb von 15 Jahren die Tarifbindung verloren. Der Rückgang der Tarifbindung ist schleichend erfolgt und fand lange keine politische Beachtung beziehungsweise war im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit gewollt. Die Politik bewertet die Tariferosion mittlerweile zunehmend negativ und zeigt Bereitschaft, gesetzgeberische Maßnahmen zur Restabilisierung des Tarifsystems zu ergreifen.
Die Mitarbeiterseite begrüßt diese politische Trendwende pro Tarifbindung und setzt sich dafür ein, dass diese nachhaltige Wirkung entfaltet. Das ist notwendig, weil die Lohnentwicklung von der Tarifbindung positiv beeinflusst wird. Arbeitnehmer(innen), die nach Tarif entlohnt werden, verdienen durchschnittlich sechs Prozent mehr als ihre Kolleg(inn)en mit gleicher Qualifikation und Tätigkeit in einem vergleichbaren Betrieb ohne Tarifbindung. Tarifbindung sorgt dafür, dass Arbeit gerecht entlohnt wird.
In der Sozialbranche erfolgte Anfang der 1990er Jahre die Marktöffnung für private Anbieter sozialer Dienste. Ziel der Aufkündigung des Selbstkostendeckungsprinzips war die Deckelung und Absenkung des Sozialbudgets. Die Interessen der Beschäftigten in der Sozialbranche wurden diesem (haushalts-)
politischen Ziel untergeordnet. Tarifgebundene Anbieter sozialer Dienstleistungen gerieten unter den zunehmenden Personalkostendruck tarifflüchtiger privater Anbieter. Hier muss ein Stoppschild gesetzt werden: Tariflöhne haben bei allen sozialen Dienstleistungen immer als wirtschaftlich zu gelten und sind ohne Wenn und Aber überall zu refinanzieren.
Die Vergütungssituation in der Sozialbranche weist eine doppelte Schieflage auf: Zum einen verdienen die Beschäftigten im Vergleich zur gewerblichen Wirtschaft deutlich zu wenig; zum anderen sind die Gehaltsunterschiede zwischen Beschäftigten bei tarifgebundenen und tarifflüchtigen Trägern signifikant. Um für den zweiten Fall Abhilfe zu schaffen, wird diskutiert, einen Tarifvertrag Soziale Dienste zu erarbeiten und diesen dann für allgemeinverbindlich erklären zu lassen.
Einen bundesweiten Tarif Soziale Dienste gibt es bis dato noch nicht. Völlig offen ist zurzeit, welche Tarifhöhe und welche Tarifstruktur in einem bundesweiten Tarif Soziale Dienste im öffentlichen Interesse marktregulierend für allgemeinverbindlich erklärt werden. Auch ist noch völlig offen, ob und wie die Regelungen der AVR-Caritas verbindlich in ein Gestaltungssetting und in den Geltungsbereich einer solchen allgemeinverbindlichen Regelung integriert werden können. Für die Mitarbeiterseite der Arbeitsrechtlichen Kommission (AK) ist die einzig denkbare Orientierung für einen Tarif Soziale Dienste das Niveau der AVR Caritas und des TVöD. Keinesfalls darf es nur darum gehen, Lohnuntergrenzen für soziale Dienstleistungen, womöglich noch differenziert nach Sparten innerhalb der Sozialbranche, zu erreichen.
Flächenwirksam werden könnte ein Tarifvertrag Soziale Dienste nur durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE). Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist ein öffentlich-rechtlicher Akt, durch den ein Tarifvertrag auch auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber (und Arbeitnehmer) erstreckt wird. Mit dem Tarifautonomiestärkungsgesetz wurden 2014 die Voraussetzungen für Allgemeinverbindlichkeitserklärungen novelliert: Die Voraussetzungen für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach Tarifvertragsgesetz (TVG) knüpfen nicht mehr an die Tarifbindung (50-Prozent-Quorum) an. Vielmehr reicht aus, dass ein Tarifvertrag "in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat". Auch das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) ermöglicht Allgemeinverbindlichkeitserklärungen. Im Rahmen des AEntG werden aber in der Regel lediglich Branchenmindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt.
Die Frage nach den zukünftigen tarifpolitischen Wirkungen von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen im Sinne einer Begrenzung des Personalkostenwettbewerbs kann nur die Zeit beantworten. Ob mit diesem Instrument wirklich eine substanzielle Erhöhung der Tarifbindung erreicht wird, bleibt abzuwarten. Es muss zum einen eine kritische Masse von allgemeinverbindlichen Tarifvertrag und zum anderen ein gewisser Tarifstandard für die Beschäftigten erreicht werden. Solange nicht klar ist, was ein Tarifvertrag Soziale Dienste beinhaltet, ist auch nicht klar, was eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für die Beschäftigten bringt. Noch ist der Tarifvertrag Soziale Dienste eine Rechnung mit vielen Unbekannten.
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