Einheitlicher Sozialtarif – das Mittel gegen Lohndumping?
Die Sozialwirtschaft in Deutschland erlebt eine stetige Verschärfung des Lohnkostenwettbewerbs und eine Zersplitterung der Tariflandschaft. Insbesondere in der Altenhilfe ist ein Wettbewerb entstanden, der wesentlich durch den Preis und nur nachrangig durch die Qualität der Dienstleistungen geprägt wird. Vor diesem Hintergrund diskutieren Vertreter(innen) der Caritas und der anderen Wohlfahrtsverbände seit einiger Zeit auf Bundesebene und in mehreren Regionen über die verbindliche Festlegung von tariflichen (Mindest-)Arbeitsbedingungen in bestimmten Feldern der sozialen Arbeit - den sogenannten Sozialtarif (siehe dazu auch das Statement von Hans Jörg Millies, neue caritas Heft 2/2013).
Das "Pessis"-Gutachten1 des Instituts für Arbeit und Technik (IAT) hat im Jahr 2012 festgestellt, dass im Bereich der Sozialwirtschaft rund 1500 unterschiedliche Tarifregelwerke angewandt werden. Vielfach werden diese auf betrieblicher Ebene verhandelt. Dies wertet soziale Arbeit ab und gefährdet die wirtschaftliche Zukunft vieler Rechtsträger.
Auf der Basis dieses Gutachtens diskutiert eine Arbeitsgruppe der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege2 seit 2012 eine Initiative, die diesem Trend entgegenwirken soll. Ihr Ziel ist es, allgemeinverbindliche tarifliche Rahmenvereinbarungen festzulegen und somit einen ruinösen Lohnkostenwettbewerb, insbesondere mit privaten Anbietern, zu erschweren.
Der Vorstand des Deutschen Caritasverbandes (DCV) hat mit seiner "Position zu einem Entgelttarif für den Sozialbereich" Voraussetzungen für seine Beteiligung definiert:
- Es muss eine Verständigung mindestens über Eckpunkte für die Entgelte der Mitarbeitenden im Sozialbereich gefunden werden. Dies gilt insbesondere für die unteren Lohngruppen.
- Nichtkirchliche Akteure müssen das kircheneigene Arbeitsrecht akzeptieren. Der DCV wird auch in Zukunft an einem eigenen Dritten Weg festhalten und deshalb keine Tarifverträge mit Gewerkschaften abschließen.
- Der Deutsche Caritasverband mit seiner Arbeitsrechtlichen Kommission (AK) muss gleichberechtigt an der Gestaltung eines Entgelttarifs für den Sozialbereich mitwirken können. Es muss ein Weg für eine Allgemeinverbindlichkeit auch unter Einbeziehung kirchlicher Arbeitsverhältnisse gefunden werden.
- Die Politik muss bereit sein, diese Entgelttarife für die Refinanzierung der Einrichtungen und Dienste wirksam werden zu lassen.
In enger Absprache mit beiden Seiten der Arbeitsrechtlichen Kommission arbeitet der DCV seither an Überlegungen mit, wie durch einen solchen allgemeinen Sozialtarif, der Mindestarbeitsbedingungen festlegt, die Zersplitterung der Tariflandschaft unter Wahrung des Dritten Weges verhindert werden könnte.
Die Arbeitsgruppe der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege hat im Herbst 2013 ein Konzept erarbeitet, das im Wesentlichen die politische Debatte um den Wert sozialer Arbeit aufnimmt und Überlegungen hinsichtlich der Bildung einer Kommission gemäß Arbeitnehmer-Entsendegesetz3 nach dem Vorbild der Pflegemindestlohnkommission in den Vordergrund stellt. Dabei fokussiert das Konzept zunächst auf die unteren Lohngruppen in der Pflege, weil diese besonders stark von Dumpinglöhnen betroffen sind.
Ein Mindestlohn in der Pflege
Parallel zu den Überlegungen dieser Arbeitsgruppe wurde zu Beginn des Jahres 2014 die Kommission zur Weiterentwicklung des Mindestlohns in der Pflege einberufen und eine Ausweitung des Geltungsbereichs auf weitere Berufsgruppen, die in Pflegebetrieben tätig sind, vorgesehen. Die Beratungen der Pflegekommission wurden mit folgenden Ergebnissen abgeschlossen:
- Erhöhung der Mindestentgelte stufenweise, ab 1. Januar 2015 auf 9,40 Euro pro Stunde im Westen und 8,65 Euro im Osten, bis Januar 2017 auf dann 10,20 Euro pro Stunde im Westen und 9,50 Euro im Osten.
- Ausweitung des Geltungsbereichs auf Arbeitnehmer(innen), die unmittelbaren Patientenkontakt haben, insbesondere die in Pflegebetrieben beschäftigten Betreuungskräfte von dementen Menschen, Alltagsbegleiter(innen) sowie Assistenzkräfte.
- Verlängerung der Laufzeit bis 31. Oktober 2017.
Tarifautonomie-Stärkungsgesetz bringt neue Aspekte
Durch das ebenfalls im Jahr 2014 beschlossene Tarifautonomie-Stärkungsgesetz hat die Debatte um einen möglichen Sozialtarif neuen Schwung erhalten. Neben den Regelungen zum allgemeinen Mindestlohn wurde für eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifregelungen die bisherige 50-Prozent-Hürde beseitigt; nun ist die maßgebende Hürde einer Tarifbindung ein konkretisiertes öffentliches Interesse an einer Allgemeinverbindlichkeit. Damit wurde die Möglichkeit, bestimmte tarifvertragliche Arbeitsbedingungen auf ganze Branchen und Regionen auszudehnen, erleichtert.
Im politischen Raum wird die Steigerung des Wertes der sozialen Arbeit über die Parteigrenzen hinaus als notwendig bezeichnet. Problematisch ist allerdings die Tatsache, dass die fiskalischen und verteilungspolitischen Konsequenzen, die die Refinanzierung sozialer Dienstleistungen auf der Basis eines Sozialtarifs mit sich bringen würde, bisher nicht diskutiert werden. In diesem Zusammenhang drohen Konflikte zwischen Wirtschafts-, Sozial- und Haushaltspolitiker(inne)n auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene, deren Ergebnis nicht prognostiziert werden kann.
Bundesländer werden aktiv
Als Konsequenz aus der problematischen Refinanzierungssituation der Personalkosten in den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege entwickeln sich beispielsweise in Bremen und Niedersachsen Initiativen. Diese versuchen, Tarifverträge für den Bereich Ausbildung oder die Altenhilfe für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Ob diese Initiativen in diesen Regionen mit einem sehr hohen Marktanteil privater, oftmals tariffreier Anbieter tatsächlich von Erfolg gekrönt sein werden, hängt maßgeblich davon ab, ob die Politik und in letzter Konsequenz die Rechtsprechung diesen Weg bestätigen werden.
In Baden-Württemberg sind die beiden Seiten der AK des Deutschen Caritasverbandes, die Diözesan-Caritasverbände Rottenburg-Stuttgart und Freiburg sowie die Diakonischen Werke Baden und Württemberg bemüht, zusammen mit der Gewerkschaft Verdi und der Landesregierung eine ausreichende Refinanzierung und eine Anerkennung der Flächentarife durch Berücksichtigung des Gedankens der Tariftreue zu sichern (siehe Artikel von Rainer Brockhoff in diesem Heft, S. 12 f.). Parallel dazu gibt es Überlegungen, in Rahmenverträgen für Einrichtungen der Sozialwirtschaft einen Anreiz für die Anwendung von Flächentarifverträgen zu schaffen, etwa durch Verfahrensvorteile.
Sozialtarif muss auch finanziert werden
Bisher gibt es keine öffentliche Diskussion, wie mit dem voraussichtlich steigenden Finanzierungsbedarf, der durch die Anwendung eines allgemeinverbindlichen Sozialtarifs entstehen wird, umzugehen ist. An dieser Debatte sind neben der Politik auf allen föderalen Ebenen die jeweiligen Kostenträger, die Leistungserbringer und die Nutzer(innen) der Angebote zu beteiligen. Es wird deutlich zu machen sein, dass die zweifellos angemessene bessere Bezahlung von Mitarbeitenden, die heute weit unterhalb des Niveaus der AVR vergütet werden, nicht zum Nulltarif zu haben ist. Hier gilt es Farbe zu bekennen.
Bezogen auf die Rechtsträger der Caritas, die momentan mit den AVR ein Tarifwerk anwenden, das den Mitarbeiter(inne)n in weiten Bereichen die höchste Vergütung zahlt, dürfen keine Wettbewerbsnachteile entstehen, die sich aus einem möglicherweise niedrigeren allgemeinverbindlichen Sozialtarif der Konkurrenten ableiten. Ein Sozialtarif unter dem Niveau der AVR darf nicht zum Normlohn bei der Refinanzierung werden. Ein allgemeinverbindlicher Sozialtarif wird im Übrigen nur dann nachhaltige Wirkung entfalten, wenn Unterschreitungen - auch durch niedrige Tarifabschlüsse - definitiv ausgeschlossen werden können und eine effektive Kontrolle der allgemeinverbindlichen Vergütung durch staatliche Stellen sichergestellt ist.
Für die Caritas ist die Anerkennung der Strukturen des Dritten Weges, die den größten Flächentarif der Sozialwirtschaft hervorgebracht haben, ein wesentliches Kriterium für den Erfolg eines gemeinsamen Bemühens um einen fairen Qualitätswettbewerb in der Sozialwirtschaft. Die Caritas ist überzeugt, dass das gemeinsame Ziel, faire und gerechte Arbeitsbedingungen verbindlich zu regeln, auch nur gemeinsam erreicht werden kann. Nur so kann die?Sozialwirtschaft von einem ruinösen Kostenwettbewerb, der zulasten der Mitarbeitenden geht, zu einem fairen Qualitätswettbewerb kommen, von dem insbesondere die Nutzer(innen) der Angebote profitieren können.
Anmerkungen
1. Pessis: promoting employers’ social services - organisations in social dialogue.
2. Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Deutscher Caritasverband, der Paritätische Gesamtverband, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonie Deutschland und die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.
3. Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen für grenzüberschreitend entsandte und für regelmäßig im Inland beschäftigte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.
Altenpflegerinnen verdienen noch immer zu wenig
Corporate Social Responsibility – hier gewinnen alle
Mehr Aufklärung ist nötig
Statement: Thomas Rühl
Statement: Lioba Ziegele
Hinterlassen Sie einen Kommentar zum Thema
Danke für Ihren Kommentar!
Ups...
Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite erneut und wiederholen Sie den Vorgang.
{{Reply.Name}} antwortet
{{Reply.Text}}