Jugendliche werden politisch aktiv
Aus der Sicht der sozialen Arbeit gehört die politische Bildung zur Entwicklung des Menschen als Teil der persönlichen Identitätsfindung. Entsprechende Entfaltungsprozesse finden dazu vor allem in der Adoleszenz statt. In der Phase der Abnabelung vom Elternhaus und der Neuorientierung werden gewohnte Wertesysteme reflektiert, beurteilt und gegebenenfalls durch andere ersetzt. Die Suche nach dem eigenen Ich mündet idealerweise in der Ausbildung einer starken Identität. Dazu gehört auch die Entwicklung einer bewussten politischen Einstellung, die die persönliche Meinung widerspiegelt. Wie kann es also sein, dass sich junge Menschen von der Politik derart distanzieren, so dass ein Bild des politisch desinteressierten Jugendlichen entsteht?
Das Projekt "M&M - Mitreden und Mitgestalten. Zukunft ist kein Zufall!" will an diesen Punkt anknüpfen und andere Wege aufzeigen. Der Deutsche Caritasverband war neben den Fachverbänden IN VIA und dem Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) und weiteren Verbänden der Jugendhilfe Kooperationspartner. Ziel des einjährigen Projekts ist es, Jugendlichen aus 18 Einrichtungen und Diensten der Jugendsozialarbeit und der erzieherischen Hilfen die Möglichkeit zu bieten, ihre politischen Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen sowie die Inhalte und Ausrichtung jugendpolitischer Entwicklungen im direkten Austausch mit Politikern mitzubeeinflussen. In bundesweiten Seminaren wurden die Jugendlichen von pädagogischen Fachkräften begleitet und zunächst mit der Politik in ihrer Kommune bekanntgemacht. Später wurden ihre Anliegen im Bundestag vorgebracht.
Eine fachpolitische Sprache hat wenig Bezug zum Alltagsleben sogenannter bildungsferner und sozial benachteiligter Jugendlicher. Dadurch finden diese ihre persönlichen Anliegen auf der politischen Ebene nicht wieder. Erst wenn Jugendliche Politik aktiv mitgestalten und alltagsnah miterleben, können sie ein bewusstes politisches Interesse, ein eigene Meinung sowie ein aktives gesellschaftspolitisches Engagement ausbilden.
Partizipation in der sozialen Arbeit
Fachkräfte in der sozialen Arbeit stehen täglich in engem persönlichen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Sie kennen deren Lebenswirklichkeit und Themen. Sie sind Bezugspersonen und können so Beteiligungsprozesse ihrer "Zöglinge" idealerweise auch über einen längeren Zeitraum hinweg begleiten. In Bezug auf politische Prozesse müssen die Pädagogen Informationen und Strukturen filtern und verständlich aufbereiten. Dies ist auch in Artikel 13 und 17 der UN-Kinderrechtskonventionen verankert. Die Aufgabe sozialer Arbeit ist es, im Prozess der politischen Selbstfindung Jugendlicher eine vermittelnde Rolle einzunehmen. Bestenfalls kennen pädagogische Fachkräfte die politischen Strukturen und Entscheidungsträger vor Ort und können Kontakte zwischen Jugendlichen und Politikern herstellen. Es ist eine Herausforderung, Kinder und Jugendliche zum einen zu befähigen, sich für die eigenen Interessen und Bedürfnisse einzusetzen, und zum anderen Ansprechpartner(innen) in Politik und Verwaltung zu gewinnen und für deren Anliegen zu sensibilisieren. So begleiten und unterstützen Sozialarbeiter(innen)/-pädagog(inn)en junge Menschen auf ihrem Weg, sich eine eigene Meinung zu bilden, erklären politische Abläufe und Strukturen und planen langfristig einen Austausch mit politischen Vertretern. Damit soll jungen Menschen Mitsprache und Beteiligung ermöglicht werden. Die soziale Arbeit hat damit ein dreifaches Mandat inne: zwischen Klienten, den Auftraggebern (den Verbänden und Einrichtungsträgern, die sich zum Projekt zusammengeschlossen haben) und der Politik. Es gilt, insbesondere in Prozessen der Mitgestaltung und Teilhabe von jungen Menschen dieses Mandat aktiv zu nutzen.
Ohne partizipative Haltung funktioniert keine Methode
Um Mitbestimmung und Mitgestaltung durch Jugendliche zu ermöglichen, ist die Haltung des Pädagogen wesentlich. Grundlegend für den Pädagogen/die Pädagogin ist ein Menschenbild, welches davon ausgeht, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich dazu fähig sind, ihre eigenen Bedürfnisse und Kenntnisse aus sich herauszuholen und sich für diese einzusetzen. Denn Kinder sind die besten Experten ihrer selbst und ihres Lebensumfeldes.
Die Ziele von Pädagogik und politischer Bildung sind genau definiert und geben die Richtung an. Der Pädagoge/die Pädagogin greift in der Konzeptplanung bewusst und intuitiv auf Wissen und Erfahrungen bezüglich sozialer und kultureller Herkunft, Entwicklungsstand und Alter der Zielgruppe zurück. Die Pädagogen sind begleitend, sammelnd und fokussierend tätig und wählen entsprechende Methoden aus. Eine offene Begegnung auf Augenhöhe ermöglicht den Jugendlichen, Vertrauen und Beziehung in einem bis dahin unbekannten Kontext aufzubauen. Damit fühlen sie sich so angenommen, wie sie sind, und so, wie sie es sich aus Gesetzen und politischen Reden erhoffen.
Selbstbefähigung
In der Intention des Konzeptes liegt immer der Auftrag der Selbstbefähigung der Jugendlichen: sich zu trauen, Dinge auszuformulieren, eine eigene bewusste Meinung auszubilden, etwas in Angriff zu nehmen und sich zu erproben, sich zum Ausdruck zu bringen, Selbstvertrauen zu entwickeln und auf die eigene Intuition zu hören. Denn die Themen, die Kinder und Jugendliche bewegen, sind häufig schon "politisch", auch wenn sie noch nicht explizit von ihnen formuliert wurden.
Methoden
Eine offene Haltung der Pädagoginnen und Pädagogen und eine gastfreundliche Atmosphäre sind methodisch bewusst gewählt. Eine jugendgerechte Sprache der Fachkräfte motiviert die Teilnehmer(innen), von Beginn an mitzureden, und ist Voraussetzung für einen gelungenen Austausch mit den politischen Akteur(inn)en. Durch aktives Zuhören und zirkuläre Fragetechniken können die Anliegen der Jugendlichen konkret herausgearbeitet sowie der Zusammenhang zwischen lebensweltorientierten Themen und den politischen Bezugspunkten der Jugendlichen gezogen werden.
Kreatives Arbeiten mit einer Vielfalt an Materialien ist eine weitere Möglichkeit, die Interessen und die politischen Zusammenhänge, die für die Jugendlichen manchmal nicht leicht zu durchschauen sind, zu verbildlichen und erlebbar zu machen.
Bewährt haben sich beispielsweise beschreibbare Tischdecken für die Gruppenarbeiten sowie ansprechende Bildmotive. Damit kann der Gesprächseinstieg erleichtert werden; Hemmungen aufseiten der Jugendlichen, sich zu äußern, lassen sich überwinden.
Diskussionen mit Politikern müssen eingeübt werden
In Vorbereitung auf die Übergabe der Forderungen im Bundestag und die Diskussion mit Bundestagsabgeordneten wurde schon im Seminar die Methode des "World Café" genutzt. Themenspezifische Gespräche und Fragen wurden in kleinen Tischgruppen erörtert und auf Papiertischdecken geschrieben. Im Verlauf wechselten die Teilnehmer(innen) die Tische. Anschließend wurden alle Ergebnisse im Plenum vorgestellt. So lernten die Teilnehmer(innen) einerseits in Kleingruppen, eigene Ansichten zu entwickeln und zu diskutieren, andererseits waren sie dann bei der Hauptveranstaltung mit der Situation vertraut.
Gespräche mit politischen Akteur(inn)en benötigen Vorbereitung seitens der Fachkräfte: Funktion sowie Auftrag und Zuständigkeit des Politikers/der Politikerin müssen erkundet werden. Ferner müssen die Pädagogen und Pädagoginnen herausfinden, ob der jeweilige Politiker persönlich geeignet ist und mit dieser sensiblen Situation umgehen kann. Es muss gewährleistet sein, dass der Politiker/die Politikerin die Interessen der Jugendlichen parteiunabhängig und sachorientiert behandelt, statt einer gefärbten Darstellung Raum zu geben, die dem eigenen Mandat und der eigenen Parteizugehörigkeit geschuldet ist. Denn Jugendliche reagieren empfindlich auf Manipulation und werden unter Umständen durch ein solches Verhalten demotiviert, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen.
Der Prozess der politischen Meinungsfindung, gestützt durch Pädagoginnen und Pädagogen, ähnelt einem Coaching auf verschiedenen Ebenen. Bewährt haben sich: Zielorientierung, für die eigene Meinung einstehen, der eigenen Stimme Raum geben, eine bewusste Haltung entwickeln, aus der aktive Handlungen folgen, und die selbst geforderte offene Haltung praktizieren. Hohe Anforderungen an die Jugendlichen in nur zwei halben Tagen!
"Tränenlachende" Freude, Neugierde, Spannungen und Aufregung wurden aufgegriffen und bewusst durch eine Vielzahl an auflockernden Übungen inszeniert. So war der thematische Einstieg, gleichzeitig Warm-up, freudvolle Entspannung und gruppenbildende Methode.
Fotos und Videoaufnahmen begleiten die Prozesse, denn sie gehören zur Lebenswelt von Jugendlichen. Die abschließende Fotoshow zeigt im Nachgang zum Seminar die eigene Mitwirkung, die Gruppenzugehörigkeit sowie die Ergebnisse. Die Jugendlichen reagierten oft sehr emotional, waren von sich und der eigenen Gruppe beeindruckt und erstaunt darüber, was sie in so kurzer Zeit geleistet hatten.
Jugendliche wollen Partizipation
Der persönliche Kontakt zu anderen Jugendlichen aus dem gesamten Bundesgebiet führte dazu, dass die lokale Wirkungsebene des Projektes eine größere Dimension bekam. Dies hatte zur Folge, dass die Jugendlichen auch zu bundespolitischen Themen Schnittstellen sahen, die für sie bis dahin nicht ersichtlich waren. Im Fokus der lokalen Projekte waren die Themen Umwelt, Migration, Gesundheit und Freizeitgestaltung.
In allen Seminaren wurde deutlich, dass den Jugendlichen ein gleichberechtigter Zugang zu politischen Prozessen fehlt. Dies drückt sich für sie vor allem in den Faktoren Kommunikation, Informationen und Transparenz aus. Der Großteil der Teilnehmer(innen) wünscht sich daher ein reelles Interesse seitens der politischen Akteur(inn)en an einer Zusammenarbeit mit ihnen. Das Projekt "M&M - Mitreden und Mitgestalten" hat gezeigt, dass angeblich politisch desinteressierte Kinder und Jugendliche große Freude an der Mitgestaltung und der Vernetzung mit anderen Akteur(inn)en haben. Sie sind stolz auf sich selbst und unterstützen sich über die neuen Medien bundesweit ideell gegenseitig. In kurzer Zeit haben sie sich auf eine vertrauensvolle und liebevolle Beziehung untereinander und mit der Seminarleitung eingelassen. Die Bezugspersonen vor Ort gaben positive Erlebnisse und Entwicklungen der Jugendlichen durch das Projekt zurück und meldeten auch, dass sich die Jugendlichen aufgehoben und wahrgenommen gefühlt haben. Denn fast alle lokalen Projekte sind zum Scheitern verurteilt, wenn in den kommunalpolitischen Strukturen das Engagement und die Partizipationsversuche nicht ernst genommen werden. Partizipation gelingt nur dort, wo mindestens zwei Seiten aktiv wertschätzend miteinander verhandeln. Die Jugendlichen sind offen und bereit dazu.
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