Schlechtes Zeugnis für die Pflegenoten
Verwundert rieben sich einige Fachkolleg(inn)en der Caritas in den vergangenen Tagen die Augen: Hat der Deutsche Caritasverband nun doch die Veränderung der Pflege-Transparenzvereinbarung für die stationäre Pflege (PTVS) nicht verhindern können? Hat der Schiedsspruch der Schiedsstelle Qualitätssicherung nach § 113b SGB XI zur PTVS, der am 18. September 2013 veröffentlicht wurde, die mühsam ausdiskutierte Position in der Caritas konterkariert? Die Caritas wollte doch ein neues Verfahren und nicht das alte in irgendeiner ungeeigneten Weise verändern. Was ist passiert?
Um die Fragen zu beantworten, muss man einige Ereignisse der vergangenen Jahre sortieren:
Beginn der Entwicklung
Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG), das am 1. Juli 2008 in Kraft trat, kam die Verpflichtung, ein Bündel an Verfahren und Richtlinien zu erarbeiten, mit dem nach § 115 Abs. 1a SGB XI die Erbringung von Pflegeleistungen im Rahmen des SGB XI für die Nutzer(innen) transparent werden kann. Leistungen und Qualität der Pflegedienste und -einrichtungen sollten auf der Grundlage der Ergebnisse von Qualitätsprüfungen nach § 114 SGB XI dargestellt werden. Verbraucher sollten Einsicht in die Ergebnisse vergleichbarer Qualitätsprüfungen erhalten. Die Kriterien der Prüfung und der Veröffentlichung sowie der Bewertungssystematik sollte die Selbstverwaltung von Leistungsträgern und Leistungserbringern vereinbaren. Insgesamt wurden 58 Organisationen und Verbände in die Verhandlungen einbezogen. Innerhalb von drei Monaten sollte ein entsprechendes Verfahren entwickelt werden.
Der Gesetzgeber hatte verfügt, dass die Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) zugrunde zu legen sind (vgl. § 115 Abs. 1a SGB XI Satz 2). Diese Prüfkriterien berücksichtigten jedoch vornehmlich die Struktur- und Prozessqualität. Zudem hatten Wissenschaftler bescheinigt, dass das Prüfverfahren des MDK den Gütekriterien für eine intersubjektiv nachvollziehbare Transparenz nicht entspricht.1
Die MDK-Prüfung und die darin enthaltenen Kriterien waren aber zu diesem Zeitpunkt das einzige verfügbare Verfahren. Die daraus entwickelten Pflegetransparenzberichte nach § 115 Abs. 1a SGB XI waren ein Kompromiss, an dem – leider – auch die Verbände der Wohlfahrtspflege beteiligt waren und der vergeblich einer sehr komplexen und komplizierten Materie gerecht zu werden versuchte.
Im Dezember 2008 wurden die Pflege-Transparenzvereinbarungen für den stationären Bereich (PTVS) und im Januar 2009 die für den ambulanten Bereich (PTVA) als Ergebnis von Verhandlungen abgeschlossen. Mitte 2009 wurde eine neue Qualitätsprüfrichtlinie (QPR) mit neuen Prüfinhalten vereinbart. Ab Mitte 2009 begannen die Prüfungen nach neuer QPR und die praktische Umsetzung der PTV. Seit März 2010 werden die Qualitätsprüfungsergebnisse veröffentlicht.
Weiterer Verlauf seit 2011
Schon kurz nach der Veröffentlichung der Prüfberichte gab es sehr unterschiedliche Reaktionen: Vor Sozialgerichten wurden circa 200 Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz, das heißt auf Nichtveröffentlichung der Transparenzberichte gestellt. Eine wissenschaftliche Evaluation wurde in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse unterschiedlich, ja widersprüchlich bewertet wurden.
Obwohl das Prüfverfahren nach der jetzigen PTV nach Meinung der Mehrheit aller Beteiligten nicht tauglich ist, wurden neue Arbeitsgruppen beschäftigt. Ein sogenanntes Beteiligungsverfahren wurde eingeleitet. Bis heute behauptet der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), dass mit bestimmten Anpassungen die vielerorts kritisierten Fehler des seit 2009 verwendeten Verfahrens und des dazugehörenden Instrumentariums zu vermeiden sind. Um den Mängeln entgegenzuwirken, will der GKV-Spitzenverband bestimmte Kriterien und Indikatoren sowie die Bewertungssystematik verändern und Kernkriterien einführen, die ausschlaggebend für eine Gesamtbewertung sein sollen. Zudem sollen eine neue Notenskala und eine neue Regelung zur Bestimmung der Stichproben eingeführt werden. Über diese Forderung des GKV-Spitzenverbandes wurde zwei Jahre verhandelt, bis die strittigen Fragen in ein Schiedsstellenverfahren nach § 113b SGB XI eingebracht wurden.
Ein neues Verfahren ist erforderlich
Parallel zu den intensiven und zeitaufwendigen Verhandlungen zur Vorbereitung auf die Schiedsstellenverfahren wurde auf verschiedenen Ebenen an einem Verfahren gearbeitet, das den eigentlichen gesetzlichen Auftrag einer Orientierung an der Ergebnisqualität umsetzt.2
Schon am 1. März 2011 wurde ein Abschlussbericht eines Forschungsprojektes „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ vorgelegt. Das Forschungsprojekt war vom Bundesministerium für Gesundheit und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegeben worden. Das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld (IPW) unter der Projektleitung von Klaus Wingenfeld sowie das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik GmbH (ISG) unter Projektleitung von Dietrich Engels wurden beauftragt. Drei Merkmale waren erkenntnisleitend für ein neues Verfahren: die Konzentration der Prüfkriterien auf Ergebnisse der Pflegetätigkeit, die Einbeziehung aller Bewohner(innen) und die Datenerfassung durch die Mitarbeiter(innen) der Einrichtung. Punkt drei überträgt dem MDK eine neue Rolle: Er übernimmt nicht mehr die Datenerhebung, sondern die Prüfung der Qualität und Richtigkeit der Erhebung selbst.
Unvereinbare Vorstellungen
Kurz nachdem die Ergebnisse des Forschungsprojekt im März 2011 der Öffentlichkeit vorgestellt worden waren, verhandelten die Vertragsparteien nach § 113 SGB XI über die Verwendung der Forschungsergebnisse. Die Vertreter(innen) des GKV-Spitzenverbands und des MDK hatten die Vorstellung, dass man in das vorhandene Verfahren der Transparenzprüfung einige der Ergebnis-Indikatoren aufnehmen sollte. Das bisherige ungenügende Verfahren sollte einfach ausgeweitet werden. In der Physik wäre dieses Vorgehen damit vergleichbar, dass man (unsinnigerweise) die Länge von Gegenständen mit einer Federwaage misst und zur Verbesserung der Messergebnisse an die Federwaage noch ein Metermaß anhängt.
Am 11. September 2012 wurde eine gemeinsame Fachtagung „Indikatoren für Ergebnisqualität in der stationären Pflege“ durchgeführt. Gegen Ende der Veranstaltung war sich ein großer Teil der Teilnehmer(innen) einig, dass möglichst schnell mit den Ergebnissen des Forschungsprojekts ein neues Verfahren zur Qualitätsprüfung und zur Ermöglichung von Transparenz der Pflegequalität entwickelt werden soll. Der Vertreter des GKV-Spitzenverbandes lehnte dies nicht ab. Dennoch sprach er sich dafür aus, das derzeitig gültige Verfahren anzupassen, also an die Federwaage noch ein Metermaß anzuhängen.
Wissenschaftler und Fachleute wissen, wie ein neues valides Verfahren zur Herstellung von Transparenz aussehen könnte.
Neben den Bemühungen auf Bundesebene werden zwei regionale Projekte als direkte Umsetzung der Ergebnisse des Forschungsprojekts „Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe“ durchgeführt: Der Diözesan-Caritasverband Münster hat seit September 2011 das Projekt „Ergebnisorientiertes Qualitätsmodell Münster“ (EQMS) initiiert. Die Ergebnisse wurden im Dezember 2012 vorgestellt. Der Diözesan-Caritasverband Köln führt seit Anfang 2012 das Projekt „Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe – Projekt“ (EQisA)“ durch (s. auch neue caritas Heft 14/2012, S. 23ff.). Beide Projekte werden begleitet durch das Institut für Pflegewissenschaft an der Universität Bielefeld. In beiden Modellprojekten werden Ergebnisse und Erfolge der Pflege direkt über Gesundheitsindikatoren gemessen und verglichen. Externe Pflegeexperten stellen die Richtigkeit der internen Qualitätsermittlung sicher.
Auch von der Politik gab es Unterstützung. So brachte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am 5. Juni 2013 einen Antrag in den Bundestag ein, die sogenannten Pflegenoten auszusetzen und die Ergebnisqualität voranzubringen. In dem Antrag hieß es unter anderem: „Die Kritik an den Pflegenoten reißt nicht ab und ist begründet… Das derzeitige System zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität und die damit verbundenen Qualitätsprüfungen haben nichts zum Verbraucherschutz und zur Transparenz beigetragen. Daran werden kurzfristige Nachbesserungen nichts ändern.“3
Die Position der Caritas
Am 30. April 2013 lud der Vorstand des Deutschen Caritasverbandes die Entscheidungsträger in der Caritas zu einem Workshop ein. Ziel des Workshops war es, das Vorgehen auf Bundesebene abzustimmen und breit abzusichern sowie Absprachen für eine gemeinsame Umsetzung der Strategie zu treffen. Die Teilnehmer(innen) waren sich bald einig, dass fraglos unter bestimmten Bedingungen und mit den angemessenen Verfahren ein bestimmtes Maß an professioneller Transparenz in der sozialen Arbeit wie auch in der Pflege erforderlich und möglich sei, dass aber in der Pflege die Erhebung der Ergebnisqualität und damit die Herstellung der gewünschten Transparenz nur durch ein neues Verfahren erreicht werden könne. Schließlich war man überzeugt, dass für die notwendige Systemumstellung die Grundlagen vorhanden sind, weil die Fachleute zeigen konnten, dass eine ergebnisorientierte Transparenzprüfung in stationären Einrichtungen in absehbarer Zeit möglich ist.
Nach diesem Workshop informierte der Vorstand des Deutschen Caritasverbandes den gesamten Verband, dass die Caritas sich für einen grundlegenden Systemwechsel in der Transparenzprüfung ausspricht. In der Zwischenzeit wurden in den Diözesan-Caritasverbänden Köln und Münster Anschlussprojekte eingeleitet. Das Projekt des Diözesan-Caritasverbandes Köln wurde über die Verbandsgrenzen hinaus ausgedehnt. Beide Projekte finden mittlerweile bundesweites Interesse auch in der Politik. Die Caritas geht besonders durch diese beiden regionalen Projekte mit bundesweiter Relevanz in der Entwicklung eines ergebnisorientierten Verfahrens zur Transparenz in der Pflege voran.
Verhandlungsergebnisse von vorgestern holen uns ein
Während sich die Akteure im Deutschen Caritasverband für einen Systemwechsel aussprechen, wird in den Gremien der Selbstverwaltung über Gestriges weiterverhandelt. Verbände können sich aus der Selbstverwaltung und den Verhandlungen zwar zurückziehen. Nur läuft es dann ohne sie weiter. So wurden die Vertreterinnen des Deutschen Caritasverbandes beauftragt, an den Verhandlungen teilzunehmen, aber mit den anderen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege dafür zu sorgen, dass sich das praktische Prüfverfahren nicht ändert. Um zu verhindern, dass sich die Leistungsträgerseite in der Selbstverwaltung mit ihrem Begehren durchsetzt, die Scheingenauigkeit des ungeeigneten Verfahrens durch noch ungeeignetere Maßnahmen zu verändern, hatten einige Leistungserbringerverbände – so auch der Deutsche Caritasverband – am 2. März 2012 ein Schiedsverfahren eingeleitet. Daraufhin hat auch der GKV-Spitzenverband am 4. Juli 2012 die Schiedsstelle angerufen. Beide Schiedsverfahren sind zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
Das Ergebnis des Schiedsverfahrens wurde am 18. September 2013 veröffentlicht. Es gibt Veränderungen, aber nicht im eigentlichen Prüfverfahren. Die wichtigsten Änderungen betreffen Veränderungen in der Darstellung der Ergebnisse, die Stichprobenziehung der in die Prüfung einzubeziehenden Bewohnerinnen und Bewohner, die verbindliche Einbeziehung weiterer Nachweisquellen in die Prüfung außer der Pflegedokumentation, einige inhaltliche Änderungen bei den Prüfkriterien und Änderungen im Notenschlüssel.
Triumphierend verkündete der GKV-Spitzenbund nach dem Schiedsspruch eine „Verschärfung“ der Transparenzprüfung, und auch einige Journalisten griffen diese irreführende Phrase auf. Der Begriff suggeriert, es werde genauer und wirklich Pflegequalität statt der Qualität der Dokumentation geprüft. Die Veränderung betrifft aber nur eine „Verschärfung“ der Bewertung der ansonsten mit dem gleichen Verfahren ermittelten Ergebnisse. Insofern werden – um auf das vorige physikalische Bild zurückzukommen – immer noch Länge, Breite und Höhe von Körpern mit der Federwaage gemessen. Nur die in dieser Weise falsch ermittelten Daten werden neu gewichtet.
Es gilt dagegen weiterhin: Wenn die Pflegequalität geprüft werden soll und die Ergebnisse dieser Prüfung den pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen helfen sollen, die Leistung der Anbieter zu vergleichen, dann wird ein völlig neues Verfahren benötigt.
Man muss allerdings fragen, warum die Ressourcen für die Vorbereitung und Durchführung eines Schiedsverfahrens nicht schon längst in die Umsetzung des vorhandenen Konzeptes einer ergebnisorientierten Qualitätsmessung investiert werden. Die Antwort ist einfach: Weil die Vertreter(innen) des GKV-Spitzenverbandes das nicht wollen. Von dort kommt das Signal, man müsse noch einmal in einem mindestens fünfjährigen Forschungsprozess die Grundlagen erforschen. Erst dann könne man an eine Umstellung des Prüfverfahrens denken.
Nun tritt die neue Pflege-Transparenzvereinbarung stationär in der neuen Fassung zum 1. Januar 2014 in Kraft. Voraussichtlich im Februar 2014 werden die ersten Prüfergebnisse in der neuen Fassung im Internet veröffentlicht werden. Für einen Übergangszeitraum von einen Jahr wird es Veröffentlichungen zu Prüfergebnissen von stationären Pflegeeinrichtungen nach alter und nach neuer PTVS geben, bis alle stationären Pflegeeinrichtungen nach der neuen PTVS geprüft worden sind. Da aufgrund der Änderungen der PTVS die Ergebnisse der Prüfungen nach der PTVS alt (2008) und PTVS neu (2013) nicht vergleichbar sind, wird sowohl auf den „alten“ als auch auf den „neuen“ Veröffentlichungen ein entsprechender Warnhinweis zu finden sein. Welch eine Ressourcenverschwendung! Wann endlich wird die Politik diesem Spiel ein Ende bereiten?
Anmerkungen
1. Vgl. Gutachten zu den MDK-Qualitätsprüfungen und den Qualitätsberichten von Prof. Dr. Stefan Görres, Bremen, Februar 2008.
2. So wurde noch einmal im Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG) diese Orientierung an der Ergebnisqualität betont: „§ 113 wird wie folgt geändert: … „4. an ein indikatorengestütztes Verfahren zur vergleichenden Messung und Darstellung von Ergebnisqualität im stationären Bereich, das auf der Grundlage einer strukturierten Datenerhebung im Rahmen des internen Qualitätsmanagements eine Qualitätsberichterstattung und die externe Qualitätsprüfung ermöglicht.“
3. Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 5. Juni 2013 an den Deutschen Bundestag. Drucksache 17/13760.