Offen für alle – aber bitte mit Profil
Infolge einer der größten Reformen der letzten Legislaturperiode, der Aussetzung der Wehrpflicht, führte die Bundesregierung vor gut zwei Jahren den Bundesfreiwilligendienst ein. Das neue Format mit 35.000 Plätzen soll die zuletzt fast 90.000 Zivildienst-Einberufungen pro Jahr (Bericht des Bundesbeauftragten für den Zivildienst, 2010) teilweise ersetzen und zugleich die Freiwilligenkultur in Deutschland stärken. Damit ist der Dienst in zwei Traditionen verankert: Strukturell erwächst er aus dem staatlich zentral organisierten Zivildienst. Gleichzeitig knüpft der BFD an die Tradition der Jugendfreiwilligendienste (JFD) an.
Das neue Format zeichnet sich durch eine große Offenheit aus: Es steht nun allen Generationen offen. Damit ist der BFD europaweit der erste klassische Freiwilligendienst, der nicht nur für junge Menschen konzipiert ist. Im Gegensatz zum Zivildienst können sich auch Frauen beteiligen sowie Freiwillige aus dem
Ausland. Der BFD dauert in der Regel zwischen sechs und 18 Monate. Für Freiwillige ab 27 Jahren gibt es im BFD Teilzeitstellen mit einer Mindestarbeitszeit von über 20 Wochenstunden. Die Freiwilligen sind sozialversichert und erhalten teilweise eine unentgeltliche Unterbringung, Verpflegung und Arbeitskleidung sowie ein Taschengeld von derzeit maximal 348 Euro monatlich. Seminare und eine pädagogische Begleitung zeichnen den BFD als Lerndienst aus.
Zwei Jahre nach Einführung des BFD kann eine erste Bilanz gezogen werden, auch wenn die Entwicklung und Positionierung des neuen Formats sicherlich noch nicht abgeschlossen ist.1 Nachdem der BFD nach einer sehr kurzen Planungsphase von weniger als einem Jahr startete, wurde er von den Medien schnell als "Flop" abgestempelt ("Süddeutsche Zeitung" am 10. Juli 2011). Doch schon wenige Monate später avancierte er in denselben Zeitungen zum "Überraschungserfolg" ("Süddeutsche Zeitung" am 24. Januar 2012). Denn nach anfänglichen Startschwierigkeiten konnten bald alle 35.000 Plätze besetzt werden. Der Dienst zeigt sich seither als durchaus offenes Format, das viele unterschiedliche Gruppen anspricht. Dennoch sehen wir für die nächsten Jahre noch einige Herausforderungen, die zum einen durch die Offenheit bedingt sind, zum anderen aber genau diese infrage stellen.
Ein Dienst für alle Generationen
Der BFD spricht alle Generationen gleichermaßen an - im Unterschied zum Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ), das für junge Menschen bis 26 Jahre vorgesehen ist. Es ist ein stetiger Anstieg bei der Zielgruppe der über 27-Jährigen zu beobachten, die inzwischen deutlich über 40 Prozent aller Bundesfreiwilligen ausmacht (Stand: August 2013, s. Tabelle links).
Differenziert nach Regionen kann man erkennen, dass die älteren Freiwilligen in allen ostdeutschen Bundesländern inklusive Berlin überproportional stark vertreten sind. Hier liegt der Anteil der Freiwilligen über 27 Jahre im Durchschnitt bei 83 Prozent, wohingegen im westdeutschen Raum nur etwa 19 Prozent der Freiwilligen älter als 27 Jahre sind (Stand: August 2013). Zudem zeigt sich, dass in den ostdeutschen Bundesländern die absolute Zahl der Freiwilligen gemessen an der Einwohnerzahl deutlich höher ist als im Bundesdurchschnitt. Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern ist inzwischen ausgeglichen, wobei der Frauenanteil von anfänglichen 43 Prozent (Stand: Oktober 2011) auf inzwischen etwa 52 Prozent (Stand: August 2013) kontinuierlich anstieg.
Öffnung und Freiwilligkeit als Chance
Trotz der Offenheit ist der BFD nur für bestimmte Zielgruppen eine wirkliche Option: beispielsweise für Menschen, die bei ihren Eltern wohnen, also auf "Taschengeldniveau" leben können, die durch privates oder familiäres Vermögen abgesichert sind oder die ihren Lebensunterhalt durch Rentenbezüge oder Pensionsansprüche gesichert haben. Auch für Menschen, welche durch den Dienst eine Statusverbesserung erreichen, beispielsweise als anrechnungsfreies Taschengeld zu Hartz-IV-Bezügen oder als Aufstockung zu Rentenbezügen, ist der BFD interessant. Damit richtet sich das Format, vor allem bei den älteren Freiwilligen, an Personen in biografischen oder beruflichen Umbruchsituationen. Auch die jungen Freiwilligen befinden sich meist zwischen zwei Lebensphasen. Doch während sich Jüngere in der Regel in einem Übergang befinden, zeichnen sich bei den Älteren eher Brüche ab.
Neben der finanziellen Hürde ist eine Selektion nach Qualifikationen erkennbar. Viele Organisationen setzen Fähigkeiten und Eignungen voraus, die nicht jeder mitbringt. Sie bevorzugen Freiwillige, die auch tatsächlich eine Erleichterung im Alltagsgeschäft darstellen und sich gut in die Organisation integrieren lassen.
Trotzdem bietet der BFD, verglichen mit den JFD, einer breiten Zielgruppe die Möglichkeit, sich zu engagieren. Dies liegt unter anderem an der Vielfalt der Angebote, die im BFD gemacht werden: Der Dienst vereint die Tätigkeitsfelder des ehemaligen Zivildienstes, von FSJ und Freiwilligem Ökologischen Jahr (FÖJ) und stärkt die Bereiche Sport und Kultur. So spricht die Aufgabenvielfalt des Dienstes Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen an, egal ob mit oder ohne Berufserfahrung. Diese Aufgaben- und Anforderungsvielfalt befördert die Offenheit des Dienstes, birgt aber auch Risiken.
BFD muss sich von Erwerbsarbeit abgrenzen
Eng verbunden mit den Anforderungs- und Tätigkeitsprofilen für die Freiwilligen ist die Abgrenzung zur Erwerbsarbeit und zum bürgerschaftlichen Engagement. Sowohl die Freiwilligen als auch die Organisationen beschreiben dies als zentrale Herausforderung, wobei die Abgrenzung zur Erwerbsarbeit als vorrangige Aufgabe gesehen wird. Die Stellenprofile zu klären ist deshalb eine wichtige Aufgabe für
die weitere Entwicklung des Dienstes. Auch die automatisch übernommenen Zivildienstplätze zu überprüfen wäre ein wichtiger Beitrag, um die Qualität der Einsatzstellen zu sichern. Eine zweite Herausforderung ist die Abgrenzung zum Ehrenamt. Einige Organisationen äußern die Befürchtung, "Trittbrettfahrer" könnten ihr Engagement umwandeln, um etwas Geld dafür zu bekommen. Die Mehrheit der Gesprächspartner unterstreicht daher die Notwendigkeit der relativ hohen Verbindlichkeit von mehr als 20 Wochenstunden, um das Format klar vom klassischen Engagement abzugrenzen. Verlierer dieser hohen Stundenzahl ist allerdings das Feld des Katastrophenschutzes, in dem bislang jährlich etwa 10.000 junge Männer ihren Wehrersatzdienst leisteten (Bericht des Bundesbeauftragten für den Zivildienst, 2010). Denn in diesem überwiegend ehrenamtlich strukturierten Bereich können kaum Stellen angeboten werden, die dieses Kriterium erfüllen.
Lerndienst: Bildung als zentrales Charakteristikum
Ein zentrales Charakteristikum des BFD ist die Bildungskomponente, bestehend aus den beiden Säulen der pädagogischen Begleitung und der Seminare. Jedoch zeigt sich, dass die Zielgruppe der über 27-Jährigen noch nicht genügend erreicht wird: Die Heterogenität der Teilnehmer(innen) bedingt ein breites Spektrum unterschiedlicher Bildungshintergründe und Interessen. Zudem gibt es zweierlei Hürden für die Seminargestaltung: zum einen strukturelle Hindernisse, beispielsweise längere Anreisezeiten (gerade in ländlichen Gebieten) oder familiäre Verpflichtungen, welche die Teilnahme an ganz- oder gar mehrtägigen Seminaren erschweren; zum anderen individuelle Hürden, insbesondere Ängste und Vorbehalte gegenüber den Bildungsseminaren. Schließlich lässt sich eine gewisse Unsicherheit bei den Trägern und Einsatzstellen feststellen, die vor allem auf die geringe Erfahrung mit der neuen Zielgruppe zurückzuführen ist. Dies hat vielerorts lange Planungsprozesse und einen hohen personellen Aufwand bei der Seminarkonzeption zur Folge.
Doch ohne diese Lernkomponente hat das Format BFD wenig Profil und kann sich nur schwer von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder "normalem" Engagement abgrenzen. Es stellt sich also die Frage, wie eine klare Positionierung gelingen und eine höhere Verbindlichkeit für die Bildungskomponente implementiert werden kann, ohne mit Zwang zu agieren.
Freiwillige identifizieren sich kaum mit dem BFD
Nach gut zwei Jahren hat der BFD seinen Platz in der Riege der Freiwilligendienste eingenommen. Auffallend ist, dass der Dienst deutschlandweit im Vergleich zu den JFD gesellschaftlich breiter verortet ist. Damit wird Raum für soziale Inklusion geschaffen.
Doch die Offenheit des Dienstes und die Vielfalt der Freiwilligen bringt einen wohl nicht intendierten Effekt mit sich: Die Empirie lässt darauf schließen, dass sich die Freiwilligen kaum mit dem BFD identifizieren. Viele der Jüngeren landen eher durch Zufall in dem Programm, wollten eigentlich Zivildienst machen oder ein FSJ/FÖJ. Bei den Älteren sehen wir primär drei unterschiedliche Typen: zum einen solche, die den BFD als Qualifizierungsmaßnahme und (Re-)Orientierungsphase sehen; zum anderen Menschen, für welche der BFD mitunter eine Station unter unterschiedlichen Maßnahmen jenseits des ersten Arbeitsmarkts ist. Und schließlich (einige wenige) Freiwillige im Ruhestand, die in dem Dienst vor allem eine Sinnstiftung sehen.
Aus dieser Vielfalt ergibt sich eine schwierige Gratwanderung zwischen Offenheit und Beliebigkeit, Ehrenamt und Erwerbsarbeit sowie individuellen Bedürfnissen und verlässlichen Rahmenbedingungen. Eine kontinuierliche Feinjustierung, die Überlegung zu möglichen Kontingenten (zum Beispiel für bestimmte Alterskohorten oder benachteiligte Zielgruppen) oder die sukzessive Einführung von verbindlichen Qualitätsstandards sollte hier in den nächsten Jahren zu einer klareren Positionierung beitragen.
Literatur
Beim vorliegenden Text handelt es sich um Auszüge aus zwei Studien der Hertie School of Governance und dem Centrum für soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg:
Beller, Annelie; Haß, Rabea: Experiment Altersöffnung im Bundesfreiwilligendienst. Ausgewählte empirische Ergebnisse 2013.
Anheier, Helmut K.; Beller, Annelie; Haß, Rabea; Mildenberger, Georg; Then, Volker: Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst. Erste Erkenntnisse einer begleitenden Untersuchung. 2012. Beide Studien sind online verfügbar auf www.hertie-school.org beziehungsweise www.csi.uni-heidelberg.de
Anmerkung
1. Die Ergebnisse basieren auf einem Forschungsprojekt, das anhand eines qualitativen Untersuchungsdesigns mit unterschiedlichen methodischen Zugängen (wie Fokusgruppen mit Freiwilligen, Experteninterviews sowie Dokumenten-, Internetforen- und Medienanalysen) die Einführung des BFD von Juli 2011 bis Juni 2013 begleitete.