Ein zweites Zuhause für Kinder aus Risikofamilien
Russland ist ein widersprüchliches Land. Einerseits gibt es großen Reichtum an Bodenschätzen - Öl, Gas, seltene Erden, Diamanten -, andererseits leben fast zwei Drittel der Bevölkerung an oder unter der Armutsgrenze. Mit ihren knapp 60 Projekten ist die Diözesan-Caritas für Westsibirien die größte nichtstaatliche Wohlfahrtsorganisation Russlands. Da sie mit ausländischen Zuschüssen arbeitet, wurde auch sie mehrfach überprüft. Innerhalb einer Woche gaben sich die staatlichen Organe sozusagen die Klinke in die Hand. Da aber sehr genau darauf geachtet wird, möglichst transparent und korrekt zu arbeiten, gab es keinerlei Beanstandungen.
Nach der Novemberrevolution 1917 wurden in Russland infolge des Religionsverbots nicht nur 90 Prozent aller Gotteshäuser zerstört, sondern auch alle Wohlfahrtsverbände abgeschafft. 1928 wurde jede karitative Betätigung per Gesetz verboten und 1961 sowie 1967 erneut bestätigt. Der kommunistische Staat hatte den Anspruch, seine Bürger(innen) in allen Bereichen umfassend versorgen zu können. Wer sich privat engagierte, kritisierte somit den Staat und wurde entsprechend verfolgt.
"Landstreicherei" wurde zum Synonym für nichtangepasstes Verhalten und zum Verbrechen erklärt. Die Kinder aus solchen Familien kamen in Kinderheime. Diese Entwicklung ist (fast) ungebrochen. Anfang 2013 gab es laut Statistik 654.000 Waisenkinder - überwiegend Sozialwaisen aus dysfunktionalen Familien - die entweder in staatlicher Obhut oder in Pflegefamilien leben.
Privatpersonen haben Kinderzentren gegründet
Das Kinderzentrum Narnia in Nowosibirsk ist eines von derzeit zehn, die von der Caritas in Westsibirien betrieben werden. Die meisten Kinderzentren entstanden, weil sich entweder Schwestern oder Privatpersonen der heimatlosen Kinder annahmen. 2004 wurden die Zentren im Diözesanprogramm "Soziale Integration von Kindern aus Risikofamilien" zusammengefasst. Von Anfang an entwickelten alle Projektleiter gemeinsam mit der Diözesankoordinatorin das Konzept. Die Kinderzentren stehen den Kindern vor und nach der Schule offen. Dort erhalten sie ein warmes Essen, werden bei den Hausaufgaben unterstützt und sozialpädagogisch sowie psychologisch betreut. Bis heute treffen sich die Mitarbeiter(innen) mehrmals im Jahr zur Weiterentwicklung des Konzepts, zum Austausch und zur Supervision. Um den Anforderungen der Arbeit gerecht zu werden, gibt es Fortbildungen für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising, in systemischer Familienberatung, Traumabewältigung und Gewaltprophylaxe.
Lilya war als Kind selbst im Narnia-Kinderzentrum und sie weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Eltern so mit ihren Problemen beschäftigt sind, dass Erziehung zum Luxus wird. Vor 19 Jahren, als sie acht Jahre alt war, löste sich die Sowjetunion auf und damit alles, woran ihre Eltern geglaubt hatten. Sie verloren ihre sicheren Arbeitsplätze und tauschten sie gegen immer schlechter bezahlte Jobs ein. Lilya war eines von vielen Kindern, die in dem Maß, wie die Sorgen der Eltern zunahmen, mehr und mehr Zeit auf der Straße verbrachten.
"Wir waren ungefähr 20 Kinder an der Uliza Mira, die immer gemeinsam unterwegs waren", erzählt Lilya. "Ich war beleidigt, denn andere Kinder mussten bei Dunkelwerden zu Hause sein. Das wollte ich auch haben, aber mir sagte es keiner. So ab der dritten Klasse haben meine Eltern aufgehört, zur Klassenpflegschaft zu gehen, sie haben sich für meine schlechten Noten und mein respektloses Verhalten zu sehr geschämt. Ich habe die Kinder beneidet, deren Eltern starben. Die hatten es gut, die kamen ins Kinderheim und wurden dort mit Essen und Kleidung versorgt. Ich musste mir von den Schwestern die Sachen aus der Kleiderkammer holen. Als ich acht war, fing ich an, in die Sonntagsschule bei Sr. Marcelina zu gehen. Unsere ganze Gruppe kam ins Kinderzentrum, wir waren immer hungrig und dort gab es zu essen. Sr. Marcelina war wie eine Mutter für mich, ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich sie nicht gehabt hätte. Nach der Schule habe ich sechs Jahre als Busschaffnerin, Marktverkäuferin und Maniküre gejobbt, dann habe ich zuerst ehrenamtlich im Kinderzentrum mitgemacht. Jetzt habe ich dort eine halbe Stelle und studiere nebenbei."
"Ein Ort, an dem du zum ersten Mal gemeinsam isst"
Petr, 20 Jahre alt, acht Geschwister, Ehemaliger des Kinderzentrums Narnia, berichtet: "Ein Kinderzentrum ist ein Ort, wo man dir zuhört und du in den wöchentlichen Versammlungen lernst, eine Stimme, eine Meinung zu haben. An dem man dir beibringt, wie man sich die Hände wäscht und den Popo abputzt. An dem du vielleicht zum ersten Mal gemeinsam mit anderen am Mittagstisch sitzt und etwas Gekochtes bekommst. An dem du langsam begreifst, dass auch für dich genug da ist, und du anfängst, darauf zu vertrauen, dass es morgen wieder etwas gibt. An dem du lernst, Butterbrote zu schmieren und Möhren klein zu schneiden und alles zu einer Suppe zusammenzufügen. Nach zwei Jahren habe ich meiner Mutter zu Hause selber etwas gekocht!"
In den Kinderzentren lernen die Kinder, sich auszudrücken und ihre Konflikte anders als mit Gewalt zu lösen, machen Sport, Computer- und Nähkurse, tanzen und singen und fahren ins Sommerlager. Verschlossene Kinder, die bisher niemandem vertrauten, öffnen sich und sagen: "Hier ist mein zweites Zuhause!" Nachdem sie ihre Grundbedürfnisse befriedigt haben, fangen sie an, sich für andere zu engagieren, leiten selbst jüngere Kinder an, machen bei Müllaktionen mit oder ermöglichen durch ihre Unterstützung dem Behindertenverein, die Sommerolympiade zu veranstalten.
Risikofamilie heißt: Armut, Alkohol und Gewalt
Risikofamilien nennt man in Sibirien die, die weniger als das Existenzminimum zur Verfügung haben, Einelternfamilien und kinderreiche Familien. Zu den Lebensbedingungen der Kinder aus diesen Familien gehören neben der Armut oft Alkohol, Drogen, Kriminalität und Gewalt. Dass laut offizieller russischer Statistik angeblich jedes Jahr rund 10.000 Ehefrauen ermordet werden, lässt ahnen, wie es um die Kinder stehen muss.
In manchen Kinderzentren ist die Zahl der Migrantenkinder inzwischen auf 50 Prozent angewachsen. Obwohl in der Mehrzahl in Russland geboren, haben die Eltern keine russische Staatsbürgerschaft und damit kein Anrecht auf einen Kindergartenplatz. Oft schicken sie deshalb die Kinder für ein Jahr zur Großmutter in die Heimat nach Usbekistan oder Kirgisien. In Nowosibirsk gibt es jetzt ein Pilotprojekt zur Integration von Migrantenkindern mit einer kleinen therapeutischen Gruppe und Russischunterricht.
Oft auf dem Treppenabsatz übernachtet
Die Geschichten der Kinder sind vielfältig. Denis wohnt in der Nähe des Kinderzentrums Narnia und ist als Ehemaliger immer noch häufig im Kinderzentrum. Als sein Vater starb, geriet er mit seiner Mutter, die Alkoholikerin ist, in der Hackordnung der (väterlichen) Verwandten an die letzte Stelle. In dem Durchgangszimmer der gemeinsamen Wohnung hatten sie keinerlei Privatsphäre. Wenn Denis’ Mutter trank, warf sie schon mal die ganze Einrichtung aus dem Fenster. Oft musste er auf dem Treppenabsatz übernachten, weil ihn niemand mehr in die Wohnung ließ. Als er in die Pubertät kam, fing dazu noch seine Tante an, ihn zu bedrängen. Er versuchte zweimal, sich das Leben zu nehmen. Heute ist er 20 Jahre alt. Der Stress hat ihn geprägt, seine Bewegungen sind spastisch und er spricht nur stockend. Stolz erzählt er, dass seine Mutter sich gegen den Alkoholismus hat "kodieren" lassen (eine hypnotherapeutische Methode, d.Red.) und sie beide zum Glauben gefunden haben. Nur in seinen Träumen erlebt er seine Mutter noch betrunken, immer wieder, fast jede Nacht.
Auch Andrejs Mutter ist Alkoholikerin und vernachlässigte ihn so, dass er mit sechs Jahren noch nicht sprechen konnte. Seine Großmutter nahm ihn zu sich und sagt heute: "Ohne das Kinderzentrum hätte ich das nie geschafft. Andrej war früher überhaupt nicht belastbar. Dank der Pädagogen ist er nicht nur immer ausgeglichener geworden, sondern konnte sein großes Talent als Moderator und Sänger entwickeln."
Andrej erzählt: "Ich hätte das nie für möglich gehalten, dass ich solche Chancen bekommen könnte! Im ersten Jahr im Kinderzentrum konnte ich nicht ins Sommerlager mitfahren, weil ich meine Gefühle nicht beherrschen konnte. Mit 14 Jahren leitete ich dann schon den Computerkurs. Im Laufe der Jahre sind viele Kinder aus den anderen Zentren meine Freunde geworden. Wir haben uns beim Wettbewerb junger Schauspieler genauso getroffen wie beim Seminar zu Öffentlichkeitsarbeit für junge Journalisten. In unseren Sommerlagern tun wir auch immer etwas für das Dorf, in dem wir sind, und gestalten im Kulturzentrum einen bunten Abend.
Inzwischen ist er 20 Jahre alt und macht eine Ausbildung zum Regisseur. Vor zwei Jahren nahm Andrej stellvertretend für das Kinderzentrum die Auszeichnung als "Freiwilliger des Jahres" der Stadt Nowosibirsk entgegen und 2013 wird er als Abgeordneter der sibirischen Kinderzentren an der Aktion "Eine Million Sterne" in Deutschland teilnehmen.