Pflegende Angehörige haben den Fachleuten viel zu sagen
Pflegende Angehörige - wer sind sie und was zeichnet sie aus? Welche Situationen meistern sie und wie können sie von Gesellschaft und Politik unterstützt werden? Diesen Fragen stellen wir uns seit 2008, zwei Beraterinnen der Caritas aus zwei verschiedenen Gebieten - der Großstadt Frankfurt am Main und einer Region mit sechs kleinen Gemeinden im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald bei Freiburg im Breisgau. Beide arbeiten wir mit pflegenden Angehörigen in dem Projekt des Deutschen Caritasverbandes "Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger" zusammen und legen aufgrund unserer Erfahrungen Wert auf respektvolle Zusammenarbeit mit Angehörigen auf Augenhöhe.1
Wer aber sind nun "die" pflegenden Angehörigen? Was unterscheidet sie und was ist ihnen gemeinsam? Zunächst einmal sind es all die Menschen, welche die Sorge und Verantwortung für einen Pflege- beziehungsweise Hilfebedürftigen übernehmen, ob in verwandtschaftlicher, freundschaftlicher oder auch nachbarschaftlicher Beziehung, sogenannte "Zugehörige". Sie leisten also nicht "nur" Körperpflege; sie kümmern sich um den Alltag, notwendige Formalien, soziale Beziehungen, Arztbesuche etc. Sie bemühen sich um das Wohlbefinden des zu Pflegenden.
Jede Pflegesituation stellt eine individuelle und zusätzliche Anforderung an Angehörige und kann zur Belastung werden. Die Art der Belastung ist abhängig von ihren jeweiligen Lebenssituationen, dem beruflichen Leben, den Familienstrukturen und Beziehungen. Menschen sind vielfältig in ihren Persönlichkeiten und besitzen unterschiedliche Fähigkeiten im Umgang mit Anforderungen und Problemen.
Wichtig ist die Art der Beziehung
Viele Faktoren haben Einfluss auf das Gelingen oder Misslingen einer familiären Pflege. Es macht einen Unterschied, ob ich meinen Ehepartner pflege, mein Kind oder meine Eltern/Schwiegereltern oder meine(n) Freund(in). Neben der Motivation zu pflegen ist die Art der Beziehung zum Pflegebedürftigen ausschlaggebend. Auch Dauer und Schwere der Pflegebedürftigkeit sind wichtige Unterscheidungsmerkmale. Angehörige von Menschen mit Demenz fühlen sich aufgrund der mangelnden Kommunikationsfähigkeit belasteter als Angehörige, die einen ausschließlich körperlich Erkrankten versorgen. Selbstverständlich hat auch das Alter der pflegenden Angehörigen Auswirkungen auf die Pflegesituation. Laut der Studie "Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung" (sogenannte MuG III) aus dem Jahre 2005 von Ulrich Schneekloth (TNS Infratest Sozialforschung, München) und Hans-Werner Wahl (Deutsches Zentrum für Altersforschung, Heidelberg) sind 60 Prozent der Angehörigen im Alter von über 55 Lebensjahren. 33 Prozent pflegen im Rentenalter selbst mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diese Ausgangslagen haben Auswirkungen auf die Bedürfnisse von Angehörigen.
Sie sind kompetent und haben Pflegeerfahrung
Allen gemeinsam ist, dass sie selten an Entscheidungsprozessen von Diensten und Einrichtungen oder von Pflegeplanern beteiligt beziehungsweise gehört und zur Mitsprache eingeladen werden.
Dabei besitzen Angehörige enorme Erfahrungen und Kompetenzen und haben den "Fachleuten" viel zu sagen. Ihre Sachkenntnisse werden aber meist nicht wahrgenommen oder wertgeschätzt. Beruflich Pflegende neigen dazu, den Angehörigen sagen zu müssen, was zu tun sei oder wie sie sich verhalten sollten. Unsere Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Angehörigen haben unsere Sichtweise auf diese Frauen und Männer verändert. Sie können aufgrund ihrer oft jahrelangen Erfahrungen in der Versorgung und der Auseinandersetzung mit der Pflege genau benennen, wie und welche Pflegemaßnahmen Sinn machen und welche Notwendigkeiten bestehen. Die Pflege hat sie zu Experten, auch in eigener Sache, gemacht.
Aber wie können sie in ihren jeweiligen Situationen angemessen begleitet und unterstützt werden, wenn die meisten mit der Pflege in der Familie oft bis an ihre Grenzen gefordert sind?
Welche Unterstützung brauchen Angehörige?
In unseren Gesprächen mit Angehörigen wurde deutlich, dass fachbezogene Informationen und psychosoziale Beratung und Begleitung einen großen Stellenwert für sie besitzen. Die Besprechung der Lebens- und Pflegesituation, der psychischen Belastungen, die Reflexion von Pflegebeziehungen ist oft der Weg zur Annahme von Unterstützung.
Vor allem niedrigschwellige Angebote, wie zugehende Pflegeberatungen oder Unterstützung durch das "Netzwerk pflegeBegleiter", werden als hilfreich empfunden. Auch Angebote wie zum Beispiel Gesprächskreise, Selbsthilfegruppen oder Mitwirkung bei Interessenvertretungen stärken das Selbsthilfepotenzial. Der Austausch Gleichbetroffener macht es leichter, die eigene Situation zu reflektieren und Hilfen anzunehmen.
Der Einsatz eines ambulanten Pflegedienstes zu Hause ist oft erst die zweite Option und zwar dann, wenn Angehörige aufgrund ihrer eigenen gesundheitlichen Beeinträchtigung oder längerer Abwesenheit während des Tages (zum Beispiel durch eine Berufstätigkeit) auf professionelle Unterstützung angewiesen sind.
Im Bereich der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf wünschen sich Angehörige, dass die Entwicklungen der letzten Jahre im Bereich der Kinderbetreuung Maßstab sein sollen beim Ausbau von Angeboten für Pflegebedürftige. Die aktuellen Angebote lassen jedoch oft zu wünschen übrig.2
So erwarten Angehörige beispielsweise Tagesbetreuungsangebote, die die Arbeitszeiten berufstätiger Angehöriger berücksichtigen. Stundenweise Betreuungsangebote sind in vielen Fällen nicht mehr ausreichend. Ein weiterer Bedarf ist das Vorhalten von Kurzzeitpflegeplätzen, um notwendige Auszeiten für Angehörige zu ermöglichen. Auch werden Krankenhausaufenthalte immer kürzer, eine gute Versorgung daheim ist oft nicht schnell genug zu organisieren, so dass Kurzzeitpflege dringend notwendig ist, um Pflegebedürftige gut zu versorgen und Angehörige zu entlasten.
Was können Gesellschaft und Politik verändern?
Aufgrund unserer Erfahrungen bei der Begleitung von Familien ist Pflege dann gut leistbar, wenn sie auf mehrere Schultern verteilt wird. Optimal ist es, wenn innerhalb der Familie Aufgaben und Zuständigkeiten nach Interesse, Fähigkeiten und Zeitressourcen übernommen werden können. Angehörige sollten den Mut haben, soziale Unterstützung in der Familie, aber auch bei Freunden und Nachbarn "einzufordern".
Sie brauchen das Angebot der umfassenden Beratung über Pflege und Hilfen im Alter und zwar wohnortnah. Oft gibt es keine Beratungsstellen. Bestehende Stellen sind aufgrund fehlender Finanzierungen in ihrer Existenz gefährdet. Die neu eingerichteten Pflegestützpunkte sind je nach Bundesland in unterschiedlicher Anzahl vorhanden; die wenigsten sind wohnortnah beziehungsweise in manchen Regionen überhaupt nicht eingerichtet worden. Hier ist politischer Wille gefordert, geeignete Beratungsstellen einzurichten und zu finanzieren sowie vorhandene Angebote zu stützen.
Es bedarf weiterer Korrekturen in der Pflegeversicherung (SGB XI). Angehörige kritisieren zum Beispiel, dass die Bemessung der Pflegebedürftigkeit zu stark an den Fähigkeiten im körperlichen Bereich orientiert ist. Mit einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff will der Gesetzgeber dies ändern. Maßstab für die Feststellung des Pflegebedarfs soll der Grad der Selbstständigkeit und Umfang an personeller Unterstützung sein und nicht die bisherige Beschränkung auf nur bestimmte, körperbezogene Verrichtungen.3 Angehörige warten auf die zügige Umsetzung durch diese Initiative.
Durch das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz (PNG) ist für die viele Menschen mit Demenz eine deutliche Verbesserung erreicht worden, geblieben ist aber die Festlegung einer zu knapp bemessenen Zeiteinheit für die Verrichtung der Pflegetätigkeit. Ein Angehöriger, der oftmals rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche verantwortlich pflegt, ist verärgert, wenn bei ihm der Pflegeaufwand dann lediglich mit 10,5 Wochenstunden in der Pflegestufe1 festgestellt wird.
Eine bessere Absicherung für das Alter ist nötig
Die ausreichende Anerkennung der Pflegeleistung in einer Rentenabsicherung ist dringend notwendig. Gudrun Born, selbst ehemals pflegende Angehörige, hat detailliert zusammengestellt, mit welchen geringen Leistungen, wenn überhaupt, Angehörige abgesichert sind.4
Mit dem Pflegezeitgesetz wurde ein Rechtsanspruch auf zehntägige beziehungsweise sechsmonatige Freistellung von der Arbeit eingeführt, und mit dem Familienpflegezeitgesetz können Beschäftigte ihre Tätigkeit für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren reduzieren, wenn das Unternehmen dieses Instrument zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf eingerichtet hat. Beide Möglichkeiten werden verständlicherweise von Angehörigen wenig bis gar nicht in Betracht gezogen. Abgesehen von dem bürokratischen Aufwand können sich viele Beschäftige den teilweisen oder kompletten Ausstieg aus der Erwerbstätigkeit nicht leisten.
Aber Angehörige erleben Pflege und Sorge um einen pflegebedürftigen Angehörigen keinesfalls nur allein als Einschränkung oder gar Katastrophe. Angehörige, die unter geeigneten Rahmenbedingungen die Chance und die Zeit der Begleitung ihres pflegebedürftigen Angehörigen hatten, sind - rückschauend - dankbar um diesen Lebensabschnitt. Sie haben zahlreiche neue Kompetenzen gewonnen, neue soziale Netzwerke aufgebaut, ein anderes Selbstbewusstsein entwickelt, und ihre Sichtweise auf ihr eigenes Leben hat sich verändert.5
Anmerkungen
1. Die Caritasverbände Frankfurt am Main und Breisgau-Hochschwarzwald haben sich seit 2008 dafür ausgesprochen, den Aufbau und die Förderung einer Interessenselbstvertretung pflegender Angehöriger zu unterstützen im Sinne der selbstbestimmten Teilhabe. Die beiden zugehörigen Diözesan-Caritasverbände Limburg und Freiburg unterstützen diese Arbeit mit einer eigenen Fachstelle, ebenso der Deutsche Caritasverband.
2. Vgl. Interview Brigitte Rudiger. In: news, Caritas-Mitteilung für die Erzdiözese Freiburg Heft 1/2013, S. 36: "Gibt es uns eigentlich noch?"
3. Fink, Franz: Pflegebedürftigkeitsbegriff - mehr Fragen als Antworten. In: neue caritas Heft 13/2013, S. 3.
4. Nachzulesen unter: www.pflegebalance.de/ wp-content/uploads/2013/2013-Rente-aus-haeuslicher-Pflege.pdf
5. Uhlemann, Jan: Birgt die häusliche Versorgung älterer Menschen für die pflegenden Angehörigen auch positive Aspekte? In: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, April 2013, S. 173-176.