Neue Pflegegrade – neue Leistungen?
Seit Anfang 2009 liegt ein Vorschlag zur Neufassung des sozialrechtlichen Pflegebedürftigkeitsbegriffs vor. Dieser Vorschlag wurde im vergangenen Sommer konkretisiert und erneut in die fachliche und sozialpolitische Diskussion gebracht. Kommt jetzt die Umsetzung?
Mit der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs soll der Zugang zu Leistungen der Pflegeversicherung für verschiedene Personengruppen, insbesondere für demenziell Erkrankte, verbessert werden. Der Vorschlag hierzu wurde mit wissenschaftlicher Begleitung in den Jahren 2007 bis 2009 entwickelt und stützt sich auf einen breiten Konsens wichtiger Entscheidungsträger, wie er im Gesundheits- und Sozialsystem ansonsten nur selten anzutreffen ist.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff ist die Antwort auf die schon viele Jahre anhaltende Kritik, dass die geltenden Regelungen der Pflegeversicherung zu eng seien und verschiedene Personengruppen benachteiligen - vor allem Demenzkranke, aber auch chronisch kranke Kinder, psychisch beeinträchtigte Menschen und jüngere Schwerkranke mit einem andauernden Bedarf an spezialisierter Pflege.
Trotz mancher Verbesserungen, die mit den Reformen der Pflegeversicherung in den letzten Jahren erreicht wurden, kann von einer Behebung der negativen Folgen des engen Pflegebedürftigkeitsbegriffs nicht die Rede sein.
Es gibt im heutigen System allerdings auch Schwachstellen methodischer Art. Die Pflegestufe und damit der individuelle Leistungsanspruch wird gegenwärtig anhand der Zeit ermittelt, die eine nicht zur Pflege ausgebildete Person für die notwendigen Hilfeleistungen bei Alltagsverrichtungen benötigt ("Laienpflegezeit"). Dieses Konstrukt ist schon an sich umstritten. Es wirft aber besonders dann Probleme auf, wenn berufliche Pflege vertreten ist, gleichgültig, ob ambulant oder stationär. Dann nämlich wird die Pflegestufe auf der Grundlage von Pflegezeiten festgelegt, die anfallen würden, wenn unter durchschnittlichen häuslichen Bedingungen ausschließlich von einer durchschnittlichen Pflegeperson ohne Ausbildung gepflegt würde. Die Annahmen, die dabei getroffen werden müssen, sind aus fachlicher Sicht schwerlich begründbar.
Im Herbst 2006 setzten nach langen Jahren der Diskussion konkrete Schritte zur Lösung des Problems ein. Im Jahr 2008 wurden ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsverfahren ("Neues Begutachtungsassessment" - NBA) vorgestellt1 und erfolgreich getestet. Ergänzend zeigte ein vom Bundesgesundheitsministerium einberufener Beirat in zwei Berichten verschiedene Umsetzungsmöglichkeiten auf. Ein zweiter Expertenbeirat erneuerte und konkretisierte die damals formulierten Vorschläge im Jahr 2013.2
Grad der Selbstständigkeit ist künftig das Kriterium
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff und das dazugehörige Begutachtungsverfahren umfassen einen gänzlich anderen Ansatz zur Ermittlung einer Pflegestufe. Sie rücken ab vom Minutenzählen, stellen die Selbstständigkeit im Umgang mit Krankheitsfolgen in den Mittelpunkt und orientieren sich damit an der internationalen pflegewissenschaftlichen Diskussion: Pflegebedürftigkeit entsteht, wenn ein Mensch nicht über die Fähigkeit, das Wissen oder die Willenskraft verfügt, um körperliche oder psychische Beeinträchtigungen, gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen selbstständig zu kompensieren beziehungsweise zu bewältigen. Pflegebedürftigkeit ist insofern als Abhängigkeit von personeller (pflegerischer) Hilfe im Umgang mit Krankheitsfolgen zu verstehen. Nicht das Kranksein oder eine vorliegende Behinderung sind entscheidend, sondern die Fähigkeit zur selbstständigen Durchführung von Aktivitäten, zur selbstständigen Krankheitsbewältigung und zur selbstständigen Gestaltung von Lebensbereichen.
Dementsprechend soll die Zuordnung einer Pflegestufe vom Grad der Selbstständigkeitseinbußen abhängig gemacht werden. Im Rahmen einer MDK-Begutachtung, so der neue Vorschlag, sollen also die Selbstständigkeit und die grundlegenden Fähigkeiten zur selbstständigen Lebensführung beurteilt werden, nicht die Pflegezeiten. Das neue Begutachtungsverfahren bezieht dabei folgende Bereiche ein:
- Mobilität: Fortbewegung über kurze Strecken und Lageveränderungen des Körpers.
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, Kommunikation.
- Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: Verhaltensweisen, die für den betroffenen Menschen oder seine Umgebung Probleme mit sich bringen können, ebenso emotional belastende Probleme wie Ängstlichkeit oder Panikattacken.
- Selbstversorgung: Körperpflege, sich kleiden, essen und trinken etc
- Umgang mit krankheits-/therapiebedingten Anforderungen und Belastungen: Aktivitäten, die auf die Bewältigung von Anforderungen und Belastungen infolge von Krankheit oder Therapiemaßnahmen zielen, zum Beispiel Medikamenteneinnahme, Umgang mit Hilfsmitteln oder Durchführung zeitaufwendiger Therapien.
- Gestaltung des Alltagslebens und soziale Kontakte: Einteilung von Zeit, Einhaltung eines Rhythmus von Wachen und Schlafen, Aufrechterhalten sozialer Beziehungen etc.
Anhand von Einschätzungen in diesen sechs Bereichen wird ein Grad der Pflegebedürftigkeit ermittelt. Jeder Bereich entspricht einem "Modul" im neuen Einschätzungsinstrument, das wiederum mehrere Merkmale beinhaltet (zum Beispiel Modul 1: fünf Merkmale der Mobilität). Die Teilergebnisse dieser Module werden nach bestimmten Regeln zu einem Gesamtergebnis zusammengeführt, woraus dann eine Stufe der Pflegebedürftigkeit abgeleitet wird.
Fünf Grade der Pflegebedürftigkeit
Die neuen Pflegestufen sollen nach den Empfehlungen, die der Expertenbeirat des Gesundheitsministeriums vor einigen Monaten ausgesprochen hat, zukünftig "Pflegegrade" heißen. Wichtiger als diese Umbenennung aber ist, dass neue Abstufungen entstehen, die mit den heute geltenden Pflegestufen nicht vergleichbar sind. Außerdem soll es künftig fünf Grade der Pflegebedürftigkeit geben und nicht nur drei Stufen wie bisher.
Eine wichtige Neuerung besteht darin, dass auch solchen Personen ein Pflegegrad zugeordnet wird, die relativ geringe Beeinträchtigungen aufweisen und damit heute nicht die Pflegestufe I erreichen - also nach den rechtlichen Vorschriften als "nicht pflegebedürftig" gelten, obwohl sie zweifellos auf Pflege angewiesen sind. Diese Neuerung beruht auf dem Grundgedanken, die Voraussetzungen für wirksame präventive Pflegemaßnahmen zur verbessern, mit denen eine Verschlimmerung von Pflegebedürftigkeit hinausgezögert oder gar - was allerdings selten gelingt - vermieden werden kann.
Eine Besonderheit stellt auch der Pflegegrad 5 dar. Zum Abschluss der Entwicklung und Erprobung des neuen Verfahrens Anfang 2009 wurde vorgeschlagen, auf eine Härtefallregelung mit Sondervoraussetzungen wie in der heutigen Pflegeversicherung zu verzichten und die Zuordnung des Pflegegrades 5 ebenfalls allein vom Grad der Selbstständigkeitseinbußen abhängig zu machen.
Welche Veränderungen sind zu erwarten?
Die bisherigen Erfahrungen mit dem modellhaften Einsatz des neuen Begutachtungsverfahrens zeigen, dass das wichtige Ziel, den Bedarf der bislang benachteiligten Personengruppen besser bei der Einstufung zu berücksichtigen, erreicht wird. Das gilt vor allem für demenziell Erkrankte und chronisch kranke Kinder, aber auch für andere Gruppen.
Welche Verbesserungen am Ende bei den pflegebedürftigen Menschen ankommen, hängt allerdings von politischen Entscheidungen ab. Das klingt banal, muss aber dennoch gesagt werden. Denn ein wissenschaftlich fundierter Pflegebedürftigkeitsbegriff und auch das beste Einstufungsverfahren bleiben folgenlos, wenn sie nicht durch eine entsprechende Anpassung der Leistungsregelungen ergänzt werden. So muss beispielsweise festgelegt werden, wie hoch die Geld- und Sachleistungen je nach Pflegegrad zukünftig sein sollen. Aber auch das Spektrum der Hilfen muss angepasst werden. So ist es schwer vorstellbar, dass die Leistungen der ambulanten Pflegedienste, die heute im Rahmen der Pflegeversicherung erbracht werden, weitgehend auf Hilfen bei Alltagsverrichtungen und hauswirtschaftliche Hilfen begrenzt bleiben.
Zu klären ist auch, wie mit den heutigen, besonderen Betreuungsleistungen für kognitiv beeinträchtigte Menschen umgegangen werden soll. Sie passen nur noch schlecht in das neue System, weil diese Beeinträchtigungen dann - anders als heute - schon bei der Pflegeeinstufung berücksichtigt werden. Der Expertenbeirat hat im vergangenen Sommer die Richtung angedeutet, in die es gehen sollte: Die Betreuungsleistungen sollen erhalten bleiben, und der Anspruch auf solche Leistungen sollte auf alle Leistungsberechtigten ausgedehnt werden, auch auf diejenigen, die keine kognitiven Beeinträchtigungen haben. Das führt zu einigen Zusatzkosten, aber auch zu einem Zuwachs an Lebensqualität.
Angesichts der noch ausstehenden politischen Entscheidungen in zentralen Fragen sind die Konsequenzen des Übergangs zu einem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff derzeit noch schwer abschätzbar. Klar ist jedoch: Von einer kostenneutralen Lösung sind Verbesserungen nicht zu erwarten.
Fazit
Mit einem erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriff erhalten mehr Menschen Leistungen der Pflegeversicherung. Wenn nicht mehr Geld in das System kommt, wird das übergeordnete Ziel - die Pflegeversicherung zukunftsfest zu machen - verfehlt. Allerdings scheinen alle maßgeblichen Entscheidungsträger davon auszugehen, dass die finanzielle Ausstattung der Pflegeversicherung verbessert werden muss.
Die aktuelle Lage erinnert ein wenig an die Situation im Jahr 2009: Kaum hatte der damalige Beirat beim Bundesgesundheitsministerium seinen Bericht vorgelegt, standen Bundestagswahlen an, die einen Regierungswechsel nach sich zogen. Alle Parteien im Bundestag haben in den vergangenen Monaten betont, wie wichtig ihnen der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff sei. Man darf gespannt sein, wie sich dies in den Aktivitäten der neuen Bundesregierung während der ersten Monate ihrer Amtszeit niederschlägt.
Anmerkungen
1. Vgl. Fink, Franz: Präzisere Kriterien für die Pflegebedürftigkeit. In: neue caritas Heft 10/2009, S. 19 ff.
2. Vgl. Fink, Franz: Mehr Fragen als Antworten. In: neue caritas Heft 13/2013, S. 3.