Strom kommt jetzt auch vom Kirchendach
Die kleinste Gemeinde in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat in Sachen Klimaschutz Geschichte geschrieben. Auf der denkmalgeschützten Pfarrscheuer des 140-Seelen-Dorfs Emeringen sollte eine Photovoltaik(PV)-Anlage installiert werden. Das Landratsamt verweigerte die Genehmigung. Die Gemeinde zog mit Unterstützung des Bischöflichen Ordinariats vor Gericht - und unterlag in erster Instanz. In zweiter Instanz bekam sie durch ein Urteil des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs in Mannheim (VGH) vom 1. September 2011 recht. Der VGH erkannte zwar die ästhetische Beeinträchtigung des historisch bedeutenden Ensembles rund um die Pfarrkirche St. Urban durch die PV-Anlage, wies aber zugleich auf das öffentliche Interesse an der Erschließung erneuerbarer Energien hin, das im Einzelfall gegen die Belange des Denkmalschutzes abzuwägen sei. Vor allem sei der Klimaschutz als Staatsziel in der Landesverfassung von Baden-Württemberg verankert.
Klima- und Denkmalschutz werden berücksichtigt
Dieses Urteil bestätigt und ermutigt die intensiven Bemühungen, die die Diözese Rottenburg-Stuttgart seit längerem anstrengt, um die Belange des Denkmalschutzes und des Klimaschutzes miteinander in Einklang zu bringen. Auf Antrag der Bauämter der (Erz-)Diözesen Freiburg und Rottenburg-Stuttgart und der Evangelischen Landeskirchen Württemberg und Baden wurde ein Projekt unter dem Label "Ökologische Denkmalpflege" in die Nachhaltigkeitsstrategie Baden-Württemberg 2007 bis 2010 aufgenommen. In der nach der Landtagswahl 2011 neu formierten Nachhaltigkeitskonferenz wird über die weitere Zukunft des Projekts entschieden. Insgesamt geht es darum, in individuellen Prozessen ganzheitliche Lösungen und praxisnahe Verfahren anzubieten, die Klimaschutz und Denkmalschutz umfassend und gleichwertig berücksichtigen.
Der "ökologische Denkmalschutz" ist ein wichtiger Bestandteil der interdisziplinären "Klima-Initiative" der Diözese Rottenburg-Stuttgart, die Bischof Gebhard Fürst ins Leben gerufen und im Juli 2007 öffentlich vorgestellt hat.
Seit Beginn war es leitendes Prinzip der Klima-Initiative, dass nicht isolierte Einzelmaßnahmen und -techniken im Vordergrund stehen, sondern ein integriertes und ganzheitliches Vorgehen. So wird der rund 5000 Objekte umfassende Gebäudebestand der Diözese im Rahmen einer "ökologischen Bestandsentwicklung" systematisch auf den mittel- und langfristigen Bedarf hin überprüft. Dies erfolgt gemeinsam mit den Kirchengemeinden in partizipativen Prozessen, bei denen auch die Weiterentwicklung pastoraler Konzepte und personeller Planungen eine zentrale Rolle spielen. "Ökologische Bestandsentwicklung" ist daher eng mit der Gemeindeentwicklung verzahnt.
Es gibt Gebäudepässe
Vor jeder Maßnahme zur energetischen Ertüchtigung von Gebäuden werden Gebäudepässe erstellt. Das Bischöfliche Bauamt hat bisher für rund 227 Kirchengemeinden mit über 1000 Einzelgebäuden Gebäudepässe erstellen lassen, für weitere 274 Kirchengemeinden mit rund 1300 Gebäuden sind derzeit Gebäudepässe in Arbeit. Für Immobilien im Besitz der Diözese wurden bislang 44 Gebäudepässe erstellt. Die zentrale Datenbank eines "Standortentwicklungssystems" (SES), in dem bauliche und andere Kennzahlen erfasst und weiter aktualisiert werden, ist ein wichtiges Instrument für alle weiteren Planungen. Zum 31. Dezember 2011 war diese fertig gestellt.
In einem Zeitraum von rund zehn Jahren soll in den sanierten Gebäuden der Energieverbrauch halbiert und der CO2-Ausstoß nahezu vollständig reduziert werden; im gesamten Gebäudebestand der Kirchengemeinden, zu dem auch noch nicht sanierte Gebäude gehören, soll der CO2-Ausstoß auf 50 Prozent zurückgefahren werden. Für die ökologisch reflektierte Bestandspflege und -entwicklung des Gebäudebestands steht in den Kirchengemeinden der Diözese ein jährliches Investitionsvolumen von rund 60 Millionen Euro zur Verfügung.
Photovoltaik-Anlagen und Wärmepumpen im Einsatz
Einen wichtigen Bestandteil der Klima-Initiative stellt die Nutzung regenerativer Energien, besonders durch Solartechnik, dar. Nach aktuellem Stand wurden bislang 180 Photovoltaik-Anlagen installiert (2009: 111), davon 53 auf Kirchendächern. Allein dadurch können jährlich rund 2500 Tonnen CO2 vermieden werden (2009: circa 1000). Ein "Anwendernetzwerk" von 15 ehrenamtlich tätigen Experten berät Kirchengemeinden bei der Konzipierung und Installation von PV-Anlagen und stellt dafür ein eigens entwickeltes Anwenderhandbuch zur Verfügung. Seit seiner Gründung im Jahr 2009 waren die Berater in 30 Fällen tätig; also bei ungefähr 40 Prozent der in diesem Zeitraum realisierten Projekte.
Aber die PV-Technik ist keinesfalls die einzige Form der Nutzung regenerativer Energien und eines nachhaltigen Bauens. Zum Einsatz kamen bei den Baumaßnahmen auch zwölf Anlagen von Wärmepumpen (Geothermie, Wasser, Luft), 25 Pelletheizungen, sechs Blockheizkraftwerke, zehn solarthermische Anlagen für die Erwärmung von Brauchwasser und eine Regenwasserrückgewinnungsanlage im nach neuesten energetischen Standards sanierten und zum Teil neu gebauten Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg.
Die Diözese fördert die gezielte Entwicklung energieeffizienter Konzepte und Maßnahmen mit erheblichen finanziellen Mitteln. So wurde ein "Nachhaltigkeitsfonds" in Höhe von 17,8 Millionen Euro aufgelegt. Den Kirchengemeinden stehen dafür 11,4 Millionen zur Verfügung, für Baumaßnahmen in Trägerschaft der Diözese sechs Millionen; 0,4 Millionen werden für Maßnahmen der öffentlichen Bewusstseinsbildung eingesetzt. Dieser Fonds steht durchaus für eine Erfolgsgeschichte. Bislang wurden durch Kirchengemeinden und Dekanate 298 Anträge gestellt (2009: 107) und Fördermittel in Höhe von circa 7,4 Millionen Euro abgerufen (2009: 2,9 Millionen). Investitionen von 42,1 Millionen wurden unterstützt (2009: 2,9 Millionen). Für diözesane Baumaßnahmen hat die dafür zuständige Grund- und Bauverwaltung bislang 1,2 Millionen in Anspruch genommen. Allein für die Kirchengemeinden und Dekanate der Diözese Rottenburg-Stuttgart ergeben die durch den Fonds geförderten Maßnahmen eine beachtliche Bilanz: eine jährliche Einsparung von hochgerechnet rund elf Millionen kWh (Kilowattstunden) Endenergie und rund 13 Millionen kWh Primärenergie. Der CO2-Ausstoß kann alleine durch diese Maßnahmen schätzungsweise um 9000 Tonnen pro Jahr verringert werden.
"Aktion Sparflamme" neu aufgelegt
Alle technischen Entwicklungen sind nur so wirksam, wie es gelingt, ein energie- und klimaorientiertes Bewusstsein zu fördern. Seit 2008 werden daher im Rahmen einer "Aktion Sparflamme" haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende im Umwelt- und Nachhaltigkeitsmanagement geschult. 46 Kirchengemeinden haben bislang daran teilgenommen. Die Aktion ruht zurzeit, um ab 2012 unter Nutzung des Standortentwicklungssystems (SES) weitergeführt zu werden. 18 Kirchengemeinden wurden nach den EMAS-Normen der EU zertifiziert, fünf davon wurden bereits revalidiert. 21 Bildungshäuser, Tagungsstätten und andere Einrichtungen der Diözese sind EMAS-zertifiziert, zwölf davon bereits zum zweiten Mal, eine Einrichtung ist nach EMAS-plus zertifiziert.
Im Jahr 2007 hatte Bischof Gebhard Fürst den "Franziskus-Preis", einen Nachhaltigkeitspreis der Diözese Rottenburg-Stuttgart, gestiftet und mit einem Preisgeld von jeweils 10.000 Euro ausgestattet. Der alle zwei Jahre ausgelobte Preis ging 2008 unter der Schirmherrschaft der damaligen baden-württembergischen Umweltministerin Tanja Gönner und dem Jury-Vorsitz des damaligen Grünen-Fraktionsvorsitzenden Winfried Kretschmann an die Franziskanerinnen des oberschwäbischen Klosters Reute, eine lobende Erwähnung erhielten Kirchengemeinde und Spitalstiftung Heilig Geist in Horb am Neckar. Für ihr Projekt "Strom für Mbinga/Tansania" erhielten im Jahr 2010 die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul in Untermarchtal den Hauptpreis, die lobende Erwähnung ging erneut nach Horb, dieses Mal an die Ökumenische Energiegenossenschaft. Der Franziskus-Preis 2012 ist bereits ausgeschrieben. Schirmherr ist der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann, die Jury leitet Umweltminister Franz Untersteller.
Diözese vergibt Umweltpreis an Schüler
Die Aktion "Sonne für Bildung" bringt den Nachhaltigkeitsgedanken zu den rund 90 katholischen Schulen der Diözese. Bischof Gebhard Fürst hatte die Erträge der 2001 auf dem Rottenburger Bischofshaus installierten PV-Anlage in Höhe von 47.000 Euro in eine neue Anlage auf dem Dach des Verwaltungsgebäudes der Stiftung Katholische Freie Schule der Diözese Rottenburg-Stuttgart investiert. Aus den daraus sofort verfügbaren Erträgen konnten am 30. Juni 2011 erstmals fünf Schülergruppen aus der Diözese ein Preisgeld von jeweils 400 Euro für zukunftsweisende Projekte zu dem Thema "Nachhaltig handeln" entgegennehmen. Der Preis "Sonne für Bildung" wird jährlich vergeben.
Umweltschutz global
Klimaschutz ist eine globale Herausforderung. Die Natur- und Hungerkatastrophen in vielen Ländern der südlichen Hemisphäre stehen - neben anderen Faktoren - auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erderwärmung. Zur Klima-Initiative der Diözese Rottenburg-Stuttgart gehört daher auch die Unterstützung von klimaeffizienten Projekten in der Eine-Welt-Arbeit. Seit dem Jahr 2001 unterhält die Diözese eine Partnerschaft mit dem Zentrum für nachhaltige Bildung "Mithradham" im südindischen Kerala. Zu den Pilotprojekten der Diözese gehört auch die Installation von PV-Anlagen auf dem kleinen und großen Seminargebäude der Diözese Neyyattinkara in Kerala. Die Hauptabteilung "Weltkirche" der Diözese fördert im Rahmen der Klima-Initiative Nachhaltigkeitsprojekte in Partnerkirchen in anderen Kontinenten. Ein Beispiel dafür ist eine im Frühjahr 2011 finanzierte PV-Anlage auf dem Dach des Bischofshauses der Diözese Machakos in Kenia, mit 20 KWp (Kilowatt-Peak; Spitzenleistung, Anm.d.Red.) die zweitgrößte in Kenia nach der Anlage auf dem Dach eines UN-Gebäudes in Nairobi. Die Anlage, die heute 13 Stromabnehmer im kirchlichen Bereich versorgt, soll im Jahr 2012 erweitert werden.
Kirchengemeinden und kirchliche Einrichtungen der Diözese Rottenburg-Stuttgart werden im Rahmen einer jetzt initiierten "Energiepartnerschaft" dazu eingeladen, überschüssige Erträge aus PV-Anlagen oder zweckgebundene Rabatte bei der Beschaffung für energieeffiziente Kleinprojekte in Ländern der Südhalbkugel zur Verfügung zu stellen. Die Hauptabteilung "Weltkirche" verwaltet die Mittel treuhänderisch in einem Fonds und stellt den Kirchengemeinden Projektvorschläge zur Verfügung. Eine Herausforderung besteht darin, die Klima-Initiative zu einem umfassenden Nachhaltigkeitskonzept der Diözese Rottenburg-Stuttgart weiterzuentwickeln. Der Diözesanrat hat dafür für die kommenden Jahre den Auftrag erteilt.